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Kommentar: Wird Deutschland zur Streik-Republik?

Kommentar

Wird Deutschland zur Streik-Republik?

Stefan Stahl
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    Die Gewerkschaft Verdi verhandelt über einen neuen Tarifvertrag für die Beschäftigten im Handel. (Symbolbild)
    Die Gewerkschaft Verdi verhandelt über einen neuen Tarifvertrag für die Beschäftigten im Handel. (Symbolbild) Foto: Hannes P. Albert, dpa

    In den Corona-Jahren 2021 und 2022 erlegten sich Gewerkschaften überwiegend Mäßigung auf, was ihre Lohnforderungen und deren Durchsetzung durch Streiks betrifft. Als Folge der galoppierenden Inflation gerieten Arbeitnehmer-Organisationen im vergangenen Jahre indes unter Druck, mit hohen Abschlüssen zu verhindern, dass Beschäftigte Real-Lohnverluste erleiden, also der Anstieg der Inflation den Gehaltszuwachs übersteigt. 

    Nachdem die Preise im Jahresdurchschnitt 2022 um satte 6,9 Prozent nach oben geschnellt waren, haben Gewerkschaften im vergangenen Jahr mit einer Teuerungsrate von immer noch hohen 5,9 Prozent einen Gang zugelegt. Es kam zu Verteilungskonflikten mit den Arbeitgebern, die wie im Handel zum Teil bis heute andauern.

    Arbeitnehmer-Vertreter haben Appetit auf einen Gehaltsnachschlag angesichts der garstigen Inflation im Jahr 2023. Dass Organisationen wie die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi deutlich fordernder als früher auftreten, hängt auch mit der gestiegenen Macht von Beschäftigten zusammen, die etwa in Gesundheits- und Erziehungsberufen oder auch im kommunalen Nahverkehr als Busfahrer arbeiten. Solche Fachkräfte sind oft Mangelware, sodass Nahverkehrsbetriebe derzeit etwa in Kenia nach Busfahrern fahnden. 

    Was die Tarifpolitik betrifft, wirkt das marktwirtschaftliche Gesetz von Angebot und Nachfrage: Weil der Bedarf an Spezialistinnen und Spezialisten, ob in Krankenhäusern, Pflegeeinrichtungen, Kitas oder Nahverkehrsbetrieben immens, aber das Reservoir an Nachwuchs begrenzt ist, hat sich die Verhandlungsmacht solcher Berufsgruppen im Ringen um höhere Löhne deutlich verbessert. 

    Streikende Frauen: Immer mehr kämpfen für Arbeitnehmerrechte

    Ob Krankenschwester oder Altenpflegerin: Das Selbstbewusstsein der oft weiblichen Beschäftigten, für ihre Belange an Warnstreiks oder Protesten teilzunehmen, ist spürbar gestiegen. Der Sozialwissenschaftler Heiner Dribbusch beobachtet eine „Feminisierung des Arbeitskampfes“. Frauen würden heute vor allem als Erzieherinnen und Pflegerinnen stärker als Streikende wahrgenommen. Dominierten früher Stahlarbeiter in Schutzanzügen das Bild kampfeslustiger Arbeitnehmer, hat die Tarifpolitik ein weiblicheres Gesicht bekommen. 

    Der wachsende Mut von Frauen, für ihre Arbeitnehmerrechte zu kämpfen, zeigte sich in diesem Jahr auch am Beispiel der medizinischen Fachangestellten: Mehr als 2000 Beschäftigte nahmen an Warnstreiks teil. Ihre Gewerkschaft, der Verband medizinischer Fachberufe, hatte für seine zu 98 Prozent weiblichen Mitglieder erstmals nicht nur zu politischen Protesten, sondern Arzthelferinnen und Arzthelfer zu einem Warnstreik aufgerufen. Das führte zu einer Einigung, deren Ergebnis am 16. Februar bekannt gegeben wird. Natürlich gibt es nach wie vor Männer-Domänen, was das Bild Streikender in der Öffentlichkeit betrifft. Dazu zählen die überaus konfliktfreudigen Lokführer, die jetzt hinter den Kulissen mit der Bahn einen Friedensschluss suchen. 

    Sich zuletzt häufende Tarifauseinandersetzungen und sonstige Demonstrationen könnten den Verdacht nahelegen, Deutschland wandle sich in eine Streik- und Protestrepublik. Brechen französische Verhältnisse aus? Unser Nachbarland lag, was Ausfalltage durch Arbeitskämpfe betrifft, in der Statistik des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung zuletzt hinter Belgien auf Platz zwei. Deutschland rangierte hier im unteren Mittelfeld, sollte jedoch mit dem konfliktträchtigeren vergangenen Jahr in der Streik-Statistik etwas weiter nach vorn gerutscht sein. 

    Professor Thorsten Schulten, WSI-Tarifexperte, wiegelt ab: „Wir sind in Deutschland weit weg von französischen Verhältnissen.“ Dabei hat sich hierzulande die Streik-Situation trotz aller harten Auseinandersetzungen in einzelnen Branchen bei Weitem noch nicht so sehr aufgeschaukelt wie Anfang vergangenen Jahres in England, als mehr als eine halbe Million Beschäftigte an einem Tag über verschiedene Berufsgruppen hinweg - von Lehrern, Lokführern bis hin zu Busfahrern - ihren Unmut über die Folgen der hohen Inflation kundtaten. 

    Die Tarifpolitik in Deutschland wird offensiver

    Doch ballt sich nicht auch in Deutschland der Zorn vieler Menschen? Schließlich demonstrieren Landwirte gegen die ihre Branche betreffenden Kürzungspläne der Bundesregierung und verhinderten den politischen Aschermittwoch der Grünen im baden-württembergischen Biberach. Solch öffentlichkeitswirksame Proteste sind allerdings keine Streiks als Begleitmusik von Tarifverhandlungen, sondern eine Form des politischen Unmuts gegen Beschlüsse der Ampel-Regierung. Und eine großflächige Solidarisierung von Lokführern oder Busfahrern kommunaler Betriebe mit den Bauern zeichnet sich nicht ab. Insofern hat sich Deutschland noch nicht in eine Arbeitskampf-Republik verwandelt, auch wenn das vergangene Jahr zu einer offensiveren Tarifpolitik geführt hat und mehr Streiks brachte. 

    Hagen Lesch, Tarifexperte des Instituts der deutschen Wirtschaft, hat herausgefunden, dass 2023 das Jahr mit den härtesten Tarifauseinandersetzungen seit den Berechnungen im Jahr 2010 war. Auch 2024 könnten die Verteilungskonflikte heftig bleiben, stehen doch etwa Verhandlungen in der Baubranche sowie der Metall- und Elektroindustrie an. Lesch will daraus keinen langfristigen Trend ableiten. Wenn die Inflation in diesem Jahr von zuletzt 2,9 Prozent spürbar zurückgeht und die Wirtschaft wieder anspringt, könnte sich die tarifpolitische Lage ab 2025 nach zwei für Deutschland ungewöhnlich intensiven Streik-Jahren erheblich entspannen.

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