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Kommentar: Nichts ist im grünen Bereich: Deutschland hat ein Wachstums-Problem

Kommentar

Nichts ist im grünen Bereich: Deutschland hat ein Wachstums-Problem

Stefan Stahl
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    Noch kommen viele Container nach Deutschland und noch verlassen viele Container das Land. Das könnte sich ändern, wenn Deutschland weiter wirtschaftlich abrutscht.
    Noch kommen viele Container nach Deutschland und noch verlassen viele Container das Land. Das könnte sich ändern, wenn Deutschland weiter wirtschaftlich abrutscht. Foto: Christian Charisius, dpa (Symbolbild)

    Im Leben ist alles eine Frage des Blickwinkels. Kanzler Olaf Scholz hat sich dafür entschieden, in einem durch lange Krisenjahre, den Heizungs-Hickhack und den AfD-Höhenflug aufgewühlten Land mehr Gelassenheit zu wagen. Seine stoische Ruhe und die daraus abgeleitete Scholz-Philosophie des „Fünfe gerade sein Lassens“ speist sich aus einem Blick zurück auf die Zeit im Herbst vergangenen Jahres, „als alle Angst hatten, dass die Fabriken schließen müssen, dass die

    Ist alles doch ökonomisch im grünen Bereich? Sollten wir uns im Sommer zurücklehnen? Nichts ist im grünen Bereich. Die Lage wie Scholz und Habeck zu verharmlosen, mag für Regierungspolitiker politisch verständlich sein. Diese Mentalität des Wegduckens und Relativierens führt indes nur dazu, dass überfällige Reformen wie so oft in der bundesdeutschen Wirtschaftsgeschichte auf die lange Bank geschoben werden, bis es kracht. Denn die derzeitige Verfassung der Wirtschaft mag zwar besser sein, als zu Hochzeiten der durch den russischen Angriffskrieg ausgelösten Energiekrise befürchtet. Der Zustand der deutschen Volkswirtschaft gibt aber dennoch Anlass zur Besorgnis und nicht zum „Alle-Fünfe-gerade-sein-Lassen“. 

    Deutschland ist ein Wachstumszwerg

    Eine Analyse der nackten Konjunkturdaten rechtfertigt „German Angst“: Deutschland hat schließlich ein Wachstumsproblem, ja ist zum Bruttoinlandsprodukt-Zwerg geschrumpft. Nach einer Studie des Internationalen Währungsfonds hat unsere Wirtschaft die unrühmliche rote Laterne unter 22 untersuchten Staaten übernommen. Im Gegensatz zu anderen Ländern wie etwa Spanien oder Italien kann Deutschland in diesem Jahr nicht wachsen, sondern muss mit einem Minus von 0,3 Prozent rechnen. Während die Bundesbank hier auf einer Linie mit dem IWF liegt, geht die Commerzbank sogar von einem Rückgang des Wachstums um 0,5 Prozent aus. Zuletzt stagnierte die deutsche Wirtschaft nach einer Hochrechnung der Statistiker im Frühling, während sie in den beiden Vor-Quartalen in eine leichte, technische Rezession abgeglitten war. 

    Hoffnungen sind nur ein Wunschdenken

    Alle Hoffnungen, das Land könne die mageren konjunkturellen Zeiten hinter sich lassen, scheinen nur Wunschdenken zu sein. Nach den Prognosen der Wirtschaftsforscher soll es im kommenden Jahr zwar aufwärtsgehen, aber nur mit Mini-Wachstumsraten. Die Gegenwart ist grau. So sagt Ifo-Präsident Clemens Fuest, der nicht zur panischen Fraktion gehört: „Die Lage der deutschen Wirtschaft verdüstert sich.“ Der Mann muss es wissen, ist doch der Geschäftsklima-Index seines Hauses, ein verlässliches Barometer für die Stimmungslage in deutschen Unternehmen, zum dritten Mal in Folge gesunken. 

    Was aber besonders alarmierend wirkt: Die Konjunkturforscher des Ifo-Instituts kommen zum Schluss: „In der Industrie wird verstärkt über Entlassungen nachgedacht.“ Das treffe insbesondere auf die Chemie-Branche zu. Hier ist Gelassenheit fehl am Platz, schließlich gilt der Wirtschaftszweig als Frühindikator. Wenn die Chemie als Produzent von Vorleistungsgütern schwächelt, also Firmen aus anderen Bereichen weniger Waren bestellen, kann das der Ausgangspunkt einer sich verfestigenden Wirtschaftskrise sein. 

    Chemie-Branche rutscht in die Krise

    Dabei leidet die Chemie-Branche derzeit auch darunter, dass sie weniger Aufträge aus China und damit einem zentralen Markt bekommt. Scholz und Habeck sollten sich die Verfassung des Industriezweigs genauer anschauen: So verkündete der Chemie-Riese BASF nach einem Gewinneinbruch um 76 Prozent, bis Ende des Jahres schon einmal mehr als 300 Millionen Euro einsparen zu wollen. Und Markus Steilemann, Präsident des Chemie-Branchenverbandes VCI, sagt plastisch: „Wir sind der erste Dominostein, der wackelt.“ Wenn es am Anfang der Wertschöpfungskette schlecht geht, treffe es bald auch andere. Schon rechnet der VCI damit, dass die Umsätze der chemisch-pharmazeutischen Industrie in diesem Jahr um 14 Prozent sinken. Auch im Einzelhandel machen sich nach auffällig vielen Insolvenzen, gerade was Modeketten und Kleidungshersteller betrifft, zunehmend Sorgen breit.

    Doch noch scheinen die Metall- und Elektroindustrie wie auch der Maschinenbau als Hauptstützen der Industrie zumindest insgesamt trotz Problemen einzelner Firmen stabil zu sein. Das kann sich im kommenden Jahr ändern, wenn der Chemie-Dominostein nicht nur leicht wackelt, sondern umfällt. Die Vorprodukte-Branche leidet besonders unter den Energiepreisen, die zwar nach astronomischen Höhen gesunken sind, aber im internationalen Vergleich hierzulande überdurchschnittlich hoch ausfallen. Das untergräbt massiv das Geschäftsmodell der Chemie-Unternehmen, denn dank billigen russischen Gases konnten sie auch am Hochlohn-Standort Deutschland lange gute Gewinne machen und hervorragende Löhne zahlen. Kommt es in dem Wirtschaftszweig zu Entlassungen, können viele der betroffenen Beschäftigten zwar sicher in anderen Unternehmen neue Stellen finden, ist der Fachkräftemangel doch nach wie vor das Hauptproblem der meisten deutschen Firmen. Doch die Gefahr ist groß, dass diese Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in neuen Jobs deutlich weniger Gehalt bekommen.

    Dabei ist das eklatante Defizit an Arbeitskräften ein Umstand, den Scholz und Habeck gerne zur Rechtfertigung ihrer Gelassenheits-These anführen. Nach der Devise: Wenn die Krise nicht auf den Arbeitsmarkt durchschlägt, sei doch alles gut. Nichts ist gut: Denn diese Beruhigungspille führt dazu, dass die reale Gefahr einer Deindustrialisierung Deutschlands, wie sie etwa Commerzbank-Chefvolkswirt Jörg Krämer sieht, kleingeredet wird und notwendige Reformen ausbleiben. Dabei braucht Deutschland eine Reform-Agenda 2030, um eine Deindustrialisierung zu verhindern und die Wachstumsschwäche zu überwinden. 

    Deutschland braucht eine Reform-Agenda 2030

    Für einen solchen Aufbruch kursieren derzeit auf politischem Terrain im Wesentlichen drei Konzepte: Habeck will die Preise für Industriestrom massiv subventionieren, um zu verhindern, dass etwa die Chemie-Branche aus Deutschland abwandert. Bayerns Ministerpräsident Markus Söder glaubt auch an das segensreiche Wirken des Staates als Wirtschaftsakteur. Er fordert die Bundesregierung zu einem ambitionierten Bau- und Mittelstands-Konjunkturprogramm und allerlei Steuersenkungen auf. Solche staatlichen Konjunkturspritzen mögen kurz- und mittelfristig Entlastung für Unternehmen und Bürger bringen, sie decken aber nur Probleme zu, ohne an deren Wurzeln zu gehen und endlich verkrustete Wachstums-Blocker in Deutschland aufzubrechen. So fordert Finanzminister Christian Linder ein „Ende der Konjunkturprogramme auf Pump und eine echte Trendumkehr“. Denn Deutschland habe seit mindestens zehn Jahren mit Bürokratismus, Wunschdenken in der Energiepolitik, Sozialausgaben statt Investitionen, zu hohen Steuern und Abgaben die Belastungsgrenze der Wirtschaft getestet. Da liegt der FDP-Chef richtig. 

    Die Bundesregierung mag zwar vorübergehend die Strompreise für die Industrie subventionieren, um ein Desaster zu verhindern, letztlich muss sie das Problem aber fundamentaler angehen: Nur wenn die Menge an Energie massiv ausgeweitet wird, sinkt der Preis. Dazu muss der Ausbau von Wind- und Solarstrom erheblich beschleunigt werden, was nur über abgespeckte Genehmigungsverfahren funktioniert. Deutschland muss wieder einfacher werden, um besser zu werden.

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