Die Provinz Neufundland und Labrador ist landschaftlich eine der reizvollsten und gastfreundlichsten Regionen Kanadas. Auf den Reiseprogrammen europäischer Politiker taucht „The Rock“, wie Newfoundland von den Einheimischen genannt wird, selten auf. Anders nun bei der Kanadareise von Bundeskanzler Olaf Scholz. Die vom Wind umtoste Insel an der Atlantikküste spielt in den Plänen des deutschen Regierungschefs, die Energieversorgung Deutschlands auf sicherere Beine zu stellen, eine wichtige Rolle. Sie könnte Lieferant des umweltschonenden Energieträgers Wasserstoff werden.
Neufundland ist die Europa am nahesten gelegene Provinz Kanadas. An der Nordspitze der Insel siedelten die ersten Einwanderer aus Europa: die Wikinger, die im heutigen L’Anse aux Meadows um das Jahr 1000 eine allerdings nur wenige Jahrzehnte bestehende Siedlung errichteten. Aber das interessierte Olaf Scholz jetzt wohl weniger. In Montreal und Toronto war die wirtschaftliche Kooperation neben dem Ukraine-Krieg das wichtige Gesprächsthema. Vor dem Rückflug nach Deutschland sollte ein Zwischenstopp in Neufundland eingelegt werden, in Stephenville, einem annähernd 7000 Einwohner zählenden Städtchen.
In Kanada soll der Wasserstoffsektor ausgebaut werden
Bis vor wenigen Jahren war der Papierkonzern Abitibi der wichtigste Arbeitgeber von Stephenville, bis er seine Mühle schloss. Jetzt soll ein neuer Wind wehen: In und rund um Stephenville könnte die Windkraft ausgebaut werden, die Energie für die Elektrolyse und Gewinnung von Wasserstoff liefern soll. Das US-Unternehmen World Energy GH2 etwa will einen Windpark an Neufundlands Küste bauen und auf dem Abitibi-Gelände Wasserstoff und dessen Derivat Ammoniak produzieren.
Der kanadische Geschäftsmann John Risley, der bei World Energy im Vorstand sitzt, glaubt, dass dieses Projekt ein Katalysator für einen boomenden Wasserstoffsektor in der Atlantikregion Kanadas werden könnte. Aber die Kosten sind mit geschätzten zehn bis zwölf Milliarden US-Dollar hoch. Und es gibt vor Ort auch Bedenken gegen das Projekt wegen des Landschaftsverbrauchs. Kritiker stellen die Frage, ob eine Offshore-Anlage, also eine Windfarm im Meer, nicht besser wäre.
Geplant ist eine Wasserstoff-Partnerschaft zwischen Deutschland und Kanada
Für Scholz und Kanadas Premier Justin Trudeau ist die Wasserstoffwirtschaft ein wichtiger Bereich der künftigen Kooperation in der Energiepolitik und beim Übergang zu sauberen, erneuerbaren Energiequellen. Daher stand die Unterzeichnung einer Vereinbarung über den Aufbau einer Partnerschaft in der Wasserstoffwirtschaft auf dem Programm. Die mehrseitige Vereinbarung wird die Basis für eine Wasserstoff-Lieferkette von Kanada nach Deutschland sein, die bereits in wenigen Jahren stehen soll.
Kanada ist aber auch ein bedeutender Förderer von Erdgas. Der Ukraine-Krieg und die Drosselung der Erdgaslieferungen Russlands an Deutschland machen die Suche nach neuen Lieferanten zumindest für eine Übergangszeit notwendig. Aber nur an der Westküste Kanadas steht ein Terminal für Exporte nach Asien kurz vor der Fertigstellung. An seiner Ostküste hat Kanada derzeit keine Terminals, um Flüssigerdgas nach Europa zu verschiffen. Eine kurzfristige und direkte Hilfe für Deutschland kann kanadisches LNG also nicht sein. Kanada vergrößert mit den Exporten an der Westküste aber die Erdgasmenge auf dem Weltmarkt und hilft Deutschland damit indirekt. Das machten beide Politiker klar.