Einführung der 35-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich, neun Prozent mehr Lohn, einen Tag mehr Urlaub, jährlich 3000 Euro Sonderzahlung ab 2025 – einige der Punkte, auf die sich die Geschäftsführung der Waldkliniken Eisenberg mit der Gewerkschaft Verdi kürzlich geeinigt haben. Das Besondere: Dieser Tarifvertrag gilt ab sofort nur für Verdi-Mitglieder. „Rein rechtlich sind Tarifverträge immer nur für Gewerkschaftsmitglieder gültig, und Arbeitgeber wenden die Regelungen auch auf alle anderen Beschäftigten an. In diesem Fall ist das anders – das ist ganz in unserem Sinne und bundesweit von wegweisender Bedeutung“, sagt Norbert Reuter, Leiter der tarifpolitischen Grundsatzabteilung bei Verdi.
Der Effekt sei eindeutig: Vor dem Abschluss habe es in der orthopädischen Fachklinik in Thüringen kaum Gewerkschaftsmitglieder gegeben, inzwischen seien knapp die Hälfte der 740 Beschäftigten bei Verdi eingetreten. Auch die Waldkliniken zeigen sich zufrieden. „Nur so lässt sich dem Fachkräftemangel begegnen“, sagt Geschäftsführer David-Ruben Thies. Einerseits sind die vereinbarten Leistungen im Gesundheitsbereich außergewöhnlich und somit ein Argument beim Werben um neue Mitarbeiter. Andererseits spart der Arbeitgeber zusätzliche Kosten bei denjenigen, die Verdi nicht beitreten wollen. Verdi wiederum kann so neue Mitglieder in einer Branche gewinnen, in der traditionell nur wenige Beschäftigte in einer Interessenvertretung organisiert sind.
Gewerkschaftsmitglieder bevorzugen? Das war bisher die Ausnahme
Gewerkschaftsmitglieder bei Tarifverträgen bevorzugen – diese Möglichkeit gibt es schon lange. Sie ist aber eher die Ausnahme, da sich Arbeitgeber meist dagegen aussprechen, um Gewerkschaften nicht zu stärken und ihnen Mitglieder zuzutreiben. Die Industriegewerkschaft BCE (Bauen, Chemie, Energie) will künftig verstärkt sogenannte Vorteilsregelungen abschließen – bislang beinhalten rund fünf Prozent ihrer Tarifverträge solche Regelungen, bei denen Mitglieder zum Beispiel zusätzliche freie Tage oder Bonuslohnzahlungen bekommen. „In der Chemiebranche sind 80 Prozent der Beschäftigten organisiert, vor allem die Babyboomer, die bald in Rente gehen. Um den Anteil zu halten, müssen wir etwas tun, um auch mehr Junge zu erreichen. Vorteilsregelungen können dazu beitragen – bislang wehren sich die Chemiearbeitgeber aber dagegen“, sagt IG-BCE-Sprecher Lars Ruzic.
Auch Verdi hat in der Vergangenheit zahlreiche Vorteilsregelungen abgeschlossen – meist in sogenannten Haustarifverträgen mit Arbeitgebern, die keinem Arbeitgeberverband angehören. Sie gelten nur in dem jeweiligen Unternehmen. Solche Beispiele gibt es auch in unserer Region. Beim größten deutschen Betreiber von Dialyse-Zentren KfH (Kuratorium für Heimdialyse) wurde für die Verdi-Mitglieder unter den 6400 Beschäftigten in den 200 Nierenzentren (darunter auch Nördlingen) für 2022 eine Bonuszahlung von 250 Euro vereinbart. Anfang dieses Jahres bekamen sie noch einmal 250 Euro zusätzlich, im Juli konnten sie zwischen 375 Euro als Bonus oder einem zusätzlichen freien Tag in diesem Jahr wählen.
Wie hoch dürfen die Vorteile ausfallen?
Bei der Deutschen Angestellten-Akademie, die in Augsburg, Donauwörth, Füssen, Kaufbeuren, Kempten, Memmingen und Sonthofen mit Büros vertreten ist, gelten seit vergangenem Jahr Vorteilsregelungen, wonach Verdi-Mitglieder monatlich 50 Euro zusätzlich verdienen. Neben Bonuszahlungen hat die Dienstleistungsgewerkschaft mit anderen Arbeitgebern auch Vorteilsregelungen für ihre Mitglieder in Form von Warengutscheinen, Jobtickets, einem schnelleren Aufstieg innerhalb der Entgeltgruppen, Zuschlägen zur betrieblichen Altersvorsorge oder zu vermögenswirksamen Leistungen, mehr Urlaubstagen, Freistellungstagen für Bildung oder Gesundheit sowie Erholungsbeihilfen vereinbart.
Rechtlich nicht eindeutig ist die Frage, wie hoch die Vorteile ausfallen dürfen – der Umfang muss laut Bundesarbeitsgericht (BAG) so begrenzt sein, dass faktisch kein Zwang zum Eintritt in die Gewerkschaft besteht. Eine zwischen der IG Metall und Nokia Siemens Networks ausgehandelte zusätzliche Abfindungszahlung in Höhe von 10.000 Euro nur für Mitglieder hat das BAG akzeptiert. Nach einem Urteil des Landesarbeitsgerichts Hamm sind Extraleistungen in Höhe von zwei Jahresmitgliedsbeiträgen zur Gewerkschaft möglich. Der Beitrag liegt in der Regel bei einem Prozent des Jahresgehalts.
Mit Vorteilsregelungen haben sich Arbeitgeber in der Vergangenheit vereinzelt auch die Zustimmung zu Leistungseinschränkungen erkauft. Die kriselnde Real-Warenhauskette handelte mit Verdi 2017 aus, dass die Beschäftigten auf 60 Prozent ihres Weihnachts- und Urlaubsgeldes verzichten – im Gegenzug gab es für Verdi-Mitglieder ein Prozent mehr beim Jahresbruttogehalt.
In den Betrieben werden Vorteilsregelungen unterschiedlich beurteilt. Während die einen von einem Zwei-Klassen-Lohnsystem sprechen, sind sie für Gewerkschaftsmitglieder nur recht und billig – finanzieren sie mit ihren Beiträgen doch eine Interessenvertretung, von deren Verhandlungsergebnissen auch die Nichtmitglieder quasi als Trittbrettfahrer profitieren.