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Interview: Aiwanger fordert nächste Gas-Notfallstufe: "Es ist bereits fünf nach zwölf"

Interview

Aiwanger fordert nächste Gas-Notfallstufe: "Es ist bereits fünf nach zwölf"

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    Bayerns Wirtschaftsminister Hubert Aiwanger im Untergrundgasspeicher in Wolfersberg-Oberpframmern.
    Bayerns Wirtschaftsminister Hubert Aiwanger im Untergrundgasspeicher in Wolfersberg-Oberpframmern. Foto: Frank Hörmann, Imago Images

    Herr Minister, wie zuversichtlich sind Sie denn, dass am 21. Juli um 6 Uhr wieder Gas durch die Nord-Stream-Pipeline fließt? Wie gut ist Bayern auf einen Lieferstopp vorbereitet?

    Hubert Aiwanger: Diese Frage kann derzeit niemand beantworten außer Russlands Präsident Wladimir Putin selbst. Für uns ist es völlig unwägbar, was wirklich ab dem 21. Juli passiert. Deshalb müssen wir alles tun, um uns auf die nächste Phase vorzubereiten, falls kein Gas mehr über Nord Stream 1 kommt. Für uns heißt das, dass wir endlich den Bund so weit bringen müssen, dass er tätig wird. Ich fordere Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck auf, sofort die Gas-Notfallstufe 3 auszurufen. Wann, wenn nicht jetzt? Jeder Tag, der uns fehlt, verringert unsere Handlungsoptionen. Es ist bereits fünf nach zwölf.

    Was würde es bringen, die dritte Notfallstufe schon vor einem Lieferstopp auszurufen?

    Aiwanger: Der Staat kann dann wichtige Maßnahmen ergreifen, um bereits jetzt Gas für den Winter einzusparen. Zum Beispiel könnte der Staat mit dem Betreiber des Gaskraftwerks Irsching bei Ingolstadt vereinbaren, gegen eine Entschädigung weniger Strom aus Gas zu produzieren; das Gas könnten wir einspeichern, Strom muss dann mehr aus Kohle und so weiter kommen. Denn solange der Strom aus Gas noch lukrativ produziert werden kann, wird es auch gemacht. Der Staat muss sich jetzt in das Gasmanagement einmischen. Er muss nicht alles bis ins Detail regeln, aber er muss einige Weichen anders stellen. Dazu gehört es auch, die Laufzeiten der Atomkraftwerke zu verlängern.

    Die Bundesregierung lehnt längere Atomlaufzeiten ab und erklärt, die Verlängerung würde auch kaum helfen, Gas einzusparen.

    Aiwanger: Das stimmt nicht, wir verbrennen derzeit riesige Mengen an Erdgas zur Stromerzeugung. Wir sollten bei dieser Gemengelage auch das Kernkraftwerk Gundremmingen wieder ans Netz nehmen und auch Isar 2 voll am Netz lassen. Das brächte ein massives Einsparpotenzial beim Gasverbrauch, um endlich unsere Gasspeicher für den Winter vollzumachen. Wenn die Grünen sagen, mit Atomkraft könne man keine Wohnung heizen oder wir hätten kein Stromproblem, sondern ein Gasproblem, dann ist das völliger Unsinn. Natürlich kann man mit Strom Wohnungen heizen, nicht nur mit Elektroheizungen, sondern auch mit Wärmepumpen. Das Wichtigste ist jetzt, dass wir sofort massiv Gas einsparen, denn momentan bewegt sich beim Auffüllen der Speicher fast nichts mehr.

    Kritiker sagen, dass die Zeit für eine Verlängerung der Laufzeiten knapp wird. Unter anderem müsste das Atomausstiegsgesetz geändert werden …

    Aiwanger: Für die Wiederinbetriebnahme der Kohlekraftwerke ist es doch auch möglich, in kurzer Zeit Gesetze zu ändern. Das ist die tägliche Arbeit einer Regierung.

    Selbst die Stromkonzerne als Betreiber halten den Weiterbetrieb der Atomkraftwerke für nicht realistisch. Sagen Ihnen die Betreiber etwas anderes?

    Aiwanger: Natürlich wird den Strombetreibern die Debatte irgendwann zu dumm, wenn die Politik jeden Tag andere Signale sendet. Aber selbstverständlich ist der Weiterbetrieb nach wie vor möglich. Zum Beispiel kann Isar 2 bis zum August 2023 mit den bestehenden Brennstäben weiterarbeiten, was die Lage im Herbst und Winter beruhigen würde. Da wird von der anderen Seite gezielt mit Fake News gearbeitet. Auch die Bundesnetzagentur wird ihrer Aufgabe nicht gerecht. Wir fordern seit März einen Stresstest, ob für Bayern auch ohne Atomkraft bei einer Gasnotlage die Elektrizitätsversorgung sichergestellt ist. Diese Frage wurde uns bis heute nicht beantwortet.

    Halten Sie denn die Atomkraft ernsthaft für eine existenzielle Frage für die Energiesicherheit Bayerns, oder wird da nur ein alter Streit aufgewärmt?

    Aiwanger: Auf alle Fälle wäre die Atomkraft ein entscheidendes Sicherheitsnetz, damit uns die Energieversorgung in Bayern im Winter nicht um die Ohren fliegt. Die Bundesregierung verhält sich wie ein Traumtänzer nach dem Motto, es wird schon gut gehen. Wenn wir die Atomkraft in der Hinterhand haben, können wir garantieren, dass uns im Winter der Strom nicht ausgeht. Gundremmingen und Isar 2 decken zusammen 25 Prozent des bayerischen Strombedarfs ab, Isar 2 alleine 15 Prozent. Die drei noch in Deutschland laufenden Kernkraftwerke entsprechen zusammen einer Leistung von 2500 Windrädern. Die würden wir ab Januar mitten in der Krise vom Netz abknipsen. Und es dauert fünf Jahre, um 2500 Windräder aufzubauen.

    Die Gasspeicher in Bayern waren bis zum Wochenende nur zu 56 Prozent gefüllt, bundesweit zu 64 Prozent. Kann es noch gelingen, sie wie geplant bis November zu 90 Prozent aufzufüllen? Ist Bayern mehr als andere Bundesländer vom Gasmangel gefährdet?

    Aiwanger: Bayern ist das industriestärkste Bundesland und hat deshalb den deutlich höchsten Gasverbrauch. Deshalb tut Bayern der Gasmangel am meisten weh. Beim Befüllen der Gasspeicher sind wir fast schon zu spät dran. Wir sind zum Beispiel auf den unterirdischen Speicher in Haidach in Österreich angewiesen. Das ist eine ehemalige Erdgaslagerstätte aus porösem Gestein, die nur langsam befüllt werden kann, weil das Gas einsickern muss. Es hat lange gedauert, bis Berlin mit Österreich eine Erklärung zur Gewährleistung der Gasversorgungssicherheit unterzeichnet hat. Jetzt muss aber auch schnell das darin angekündigte Abkommen geschlossen werden, damit die Speicherbefüllung auch wirklich beginnt, solange wir noch irgendwoher überhaupt Gas bekommen. Berlin scheint hier viel zu weit weg vom Schuss. Ich spiele für den Bund den Dolmetscher mit Österreich.

    Was muss jetzt getan werden?

    Aiwanger: Wir müssen jetzt wirklich alle Register ziehen. Hier ist Berlin überall zu langsam. Zum Beispiel haben viele Betriebe immer noch wegen der Umweltauflagen nicht die endgültige Rechtssicherheit, ob sie moderne Gasanlagen auf für Notfälle vorhandene alte Ölanlagen umstellen dürfen. Ich kenne beispielsweise eine Brauerei, die statt mit Gas mit Öl arbeiten könnte. Die Behörden sperrten sich aber lange gegen den Wechsel des Energieträgers.

    Momentan wird viel über die Priorisierung von Privathaushalten und Industrie gestritten. Welche Reihenfolge sehen Sie?

    Aiwanger: Ich sehe alle auf selber Augenhöhe. Jetzt geht es darum, so viel Menge wie möglich zu gewinnen. Das von der Bundesregierung geplante Auktionssystem, um Gaseinsparungen zu belohnen, ist vom Gedanken sinnvoll, aber es sollte sofort beginnen und nicht erst im August oder September. Und man muss die Versorgung der Bevölkerung im Blick behalten. Es darf beispielsweise nicht sein, dass es sich für eine Großbäckerei lohnt, Gasanteile an andere zu verkaufen und dann keine Semmeln mehr zu produzieren. Und es kann nicht sein, dass Großgaskraftwerke statt Kernkraftwerke laufen und die Bundesregierung den Menschen sagt, ihr sollt im Winter kalt duschen. Das ist Mittelalter. Wir sind aber ein Land technologischer Spitzenreiter. Wir müssen jetzt die Lösungen finden, damit niemand im Winter kalt duschen muss.

    Dennoch kommen auf die Privathaushalte hohe Kosten zu. Die Gaspreise könnten sich verdreifachen. Wie können die Kosten für Betroffene gedämpft werden?

    Aiwanger: Einiges wird bereits getan. Beispielsweise werden Zulieferer wie Uniper staatlich unterstützt, damit sie noch ihre billigeren Verträge mit Stadtwerken erfüllen können, die dann ihre Kunden zu bezahlbaren Preisen weiter bedienen. Dieses System muss man aufrechterhalten. Wir müssen dafür sorgen, dass die hohen Weltmarktpreise nicht auf den Endverbraucher durchschlagen, sondern mit Staatsmitteln gedeckelt werden. Das ist der bessere Weg, als individuell 300 Euro Heizungsgeld zu überweisen, das fast zur Hälfte besteuert wird. Und es wäre besser, als wenn grüne Politiker dem Volk raten, kalt zu duschen, während sie selber sicher weiter warm duschen.

    Der Arbeitgeberverband warnt, dass Deutschland die größte Krise nach dem Krieg bei einem Lieferstopp drohe. Sind Ihre Prognosen für Bayern ähnlich düster?

    Aiwanger: Natürlich ist die Lage sehr ernst, aber wir müssen das Beste versuchen und den Menschen Mut statt Angst machen, Probleme erkennen und lösen. Ich sehe täglich, wie pragmatisch unsere Unternehmen mit der aktuellen Lage umgehen. Auch bei Corona hieß es, dass Massenarbeitslosigkeit drohe und alles zusammenbräche. Stattdessen heißt heute unser Problem Personalmangel. Die Firmen würden gerne einstellen, haben Aufträge ohne Ende und können gar nicht alles abarbeiten. Auch mit der Gaskrise werden die Unternehmen pragmatisch umgehen, wenn der Bund sie lässt. Sie werden erst mal oft auf Öl umstellen, bald Solarzellen installieren und sogar Windräder bauen. Das dauert vielleicht, aber die Unternehmen werden erstaunlich gut auch diese Krise managen, die die Berliner Politik kaum in den Griff bekommt. Wenn wir unsere Unternehmer nicht hätten und uns nur auf die Politik verlassen müssten, dann gute Nacht Deutschland!

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