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Interview: "Wir sehen die erhebliche Gefahr einer De-Industrialisierung"

Interview

"Wir sehen die erhebliche Gefahr einer De-Industrialisierung"

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    Bertram Brossardt, Hauptgeschäftsführer der Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft, warnt vor den Folgen zu hoher Industriestrompreise.
    Bertram Brossardt, Hauptgeschäftsführer der Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft, warnt vor den Folgen zu hoher Industriestrompreise. Foto: Tobias Hase, dpa

    Herr Brossardt, in welcher Verfassung befindet sich nach all den Krisen der Industriestandort Bayern?

    Bertram Brossardt:Die Industriestandorte Deutschland und Bayern sind auch nach der Corona-Krise und dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine gut aufgestellt. 

    Doch wo liegen die Schwachstellen?

    Brossardt: Wir sehen die erhebliche Gefahr einer De-Industrialisierung. Sowohl ökonomische Stimmungsindikatoren als auch die konjunkturellen Aussichten bleiben unterkühlt. Ein Aufschwung ist für 2023 nicht zu erwarten. Weiterhin belasten Lieferengpässe, hohe Inflation, Arbeits- und Fachkräftemangel sowie die anhaltende Energiekrise unsere Unternehmen. 

    Dazu kommen überbordende bürokratische Belastungen, wie das Lieferkettensorgfaltspflichtgesetz, und stark steigende Arbeitskosten, die die internationale Wettbewerbsfähigkeit dauerhaft und steigend belasten. Gleichzeitig nehmen die geopolitischen Unsicherheiten weiter zu. 

    Worauf spielen Sie hier konkret an?

    Brossardt:Sowohl die USA als auch China, also unsere wichtigsten Handelspartner, werben mit attraktiven Investitionsbedingungen, was Deutschland und Bayern gefährdet.

    Und wie stark belastet Firmen die oft vergebliche Suche nach Arbeitskräften?

    Brossardt:Wir erleben flächendeckend in allen Branchen und Regionen einen Arbeits- und Fachkräftemangel. Besonders betroffen sind Gastronomie, Hotelgewerbe, Tourismus und Industrie. Allein in der bayerischen Metall- und Elektroindustrie gab bei unserer letzten Umfrage fast jedes zweite Unternehmen an, durch fehlende Arbeits- und Fachkräfte in der Produktion erheblich beeinträchtigt zu sein. Das ist fehlender Umsatz.

    Wie dramatisch ist die Lage?

    Brossardt:Insgesamt wird das Arbeitskräfteangebot in Bayern bis 2035 selbst bei gleichbleibender Zuwanderung um 700.000 Menschen auf 5,8 Millionen zurückgehen. Um dem entgegenzuwirken, müssen wir Beschäftigungschancen, vor allem von Arbeitslosen, über Weiterqualifizierung und Umschulungen verbessern und die Erwerbsbeteiligung, vor allem von Frauen und Älteren, weiter steigern. Damit werden die inländischen Potenziale besser genutzt. 

    Doch ohne mehr Zuwanderung wird es nicht gehen.

    Brossardt:Neben der Aktivierung der heimischen Arbeitskräfte brauchen wir eine deutliche Steigerung der qualifizierten Zuwanderung. Die neuen gesetzlichen Regelungen der Bundesregierung bieten dafür einen guten Ansatz.

    Und welche Folgen haben die zu hohen Preise für Industriestrom für das produzierende Gewerbe?

    Brossardt:Das hat für den Wirtschaftsstandort Bayern gravierende Folgen. Unsere Industrie steuert 25 Prozent zur bayerischen Wertschöpfung bei. Deutschland hat den zweitteuersten Industriestrom innerhalb der Europäischen Union, nur Zypern ist teurer. Wir brauchen deshalb jetzt die Entscheidung für einen Industriestrompreis, der maximal 4 Cent je Kilowattstunde beträgt und der möglichst zeitnah umgesetzt wird. Das gibt den Unternehmen Planungssicherheit. Zusätzlich müssen alle staatlichen Kostenbestandteile für Energie spürbar sinken, etwa die Stromsteuer auf das europäische Mindestmaß. Konkurrenzfähige Energiepreise sind für die Industrie neben der Absenkung der hohen Arbeitskosten ein wichtiger Wettbewerbsfaktor. 

    Wie groß ist die Gefahr, dass durch zu hohe Industriestrompreise Produktion und Beschäftigung ins Ausland verlagert werden?

    Brossardt: Bei den bayerischen Unternehmen besteht ein Trend zu vermehrten Auslandsinvestitionen. Insbesondere mittlere Unternehmen und bereits im Ausland tätige Unternehmen neigen dazu, ihre Zukunftsinvestitionen im Ausland zu tätigen. Laut einer aktuellen Studie der Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft hat das Auslandsengagement bayerischer Unternehmen in den letzten Jahren immer weiter zugenommen. Der Beschäftigungsaufbau im Ausland lag in den Jahren von 2018 bis 2021 mit 1,8 Prozent jährlich deutlich über dem im Inland mit 1,0 Prozent pro Jahr.

    Noch einmal: Kosten die hohen Industriestrompreise Jobs?

    Brossardt:Im Moment sehen wir noch keine intensive Verlagerungswelle in dem Sinn, dass Kapazitäten und damit auch Arbeitsplätze im Inland abgebaut und ins Ausland verlagert werden. Aber wenn es um die Frage von Neuinvestitionen geht, dann fällt die Entscheidung sehr häufig für das Ausland aus. Diese Investitionen kommen nicht zurück und das kostet uns Wachstum und auch potenzielle neue Arbeitsplätze und führt zu dauerhaft negativen Auswirkungen auf unseren Standort. Das fällt aufgrund des massiven Arbeitskräftemangels in unserem Land aber noch nicht so auf. Wir befürchten aber einen schleichenden De-Industrialisierungsprozess

    Wie kann das noch verhindert werden?

    Brossardt: Der drastische Mangel an Fach- und Arbeitskräften, die viel zu hohen Arbeitskosten, eine erdrückend hohe Steuer- und Abgabenlast, Bürokratie und Über-Regulierung und unsere drastisch zu hohen Energiekosten – das sind unsere Schwachstellen, die das Ausland für unsere Betriebe immer attraktiver machen. Hier müssen wir dringend gegensteuern, damit Wertschöpfung und Arbeitsplätze am Standort Bayern nicht verloren gehen. Wir brauchen klare Entscheidungen für verbesserte Rahmenbedingungen, um die Attraktivität unseres Standorts wieder zu steigern. 

    Bayern ist aber nach wie vor ein starker Wirtschaftsstandort.

    Brossardt: Wir dürfen unsere Stärken nicht vergessen und müssen diese weiter ausbauen: So belegt Bayern im Vergleich von 46 Industriestandorten weltweit noch den zweiten Platz. Wir haben eine leistungsfähige Infrastruktur, komplexe Wertschöpfungsketten und vor allem ein starkes Innovationsumfeld. 

    Zur Person: Bertram Brossardt, 63, ist Hauptgeschäftsführer der Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft – kurz VBW – und Hauptgeschäftsführer des Verbandes der Bayerischen Metall- und Elektroindustrie, kurz VBM. Der studierte Jurist war einst Büroleiter des früheren bayerischen Wirtschaftsministers Otto Wiesheu.

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