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Interview: Walter J. Lindner: "Jeder fünfte Mensch auf diesem Planeten ist Inder"

Interview

Walter J. Lindner: "Jeder fünfte Mensch auf diesem Planeten ist Inder"

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    Indien ist die größte Demokratie der Welt. Rund 1, 4 Milliarden Menschen leben dort.
    Indien ist die größte Demokratie der Welt. Rund 1, 4 Milliarden Menschen leben dort. Foto: Ajit Solanki/AP, dpa

    Das große, dynamische Indien schickt sich an, das kleine, vor sich hin dümpelnde Deutschland wirtschaftlich zu überholen. Wo würden Sie indische Abgeordnete in  

    Walter J. Lindner: Mein Ansatz als Diplomat war es immer, nicht bloß auf offizielle Empfänge oder Partys der Expat-Community zu gehen, sondern raus zu den Leuten und ins Land. Egal, ob in Kenia, Südafrika, Venezuela oder eben Indien. Genauso würde ich es mit indischen Abgeordneten machen. Sie sollen natürlich das politische Berlin kennenlernen und Wirtschaftsvertreter treffen. Ich würde mit ihnen allerdings auch nach Kreuzberg fahren. 

    Okay, aber was fasziniert indische Gäste an Deutschland? 

    Lindner: Während in Indien die Gäste von den Widersprüchen überwältigt sind, macht für Inderinnen und Inder das Geregelte hier den Zugang leichter. Man bewundert das Ingenieurwesen, die Qualität der Autos und die Umwelttechnik. Das bleibt weiterhin so. 

    Aber? 

    Lindner: Man beobachtet in Indien natürlich schon, wie gering unser Wirtschaftswachstum ist, man verfolgt Streikwellen bei Bahn und Flughäfen und man liest an Statistiken ab, wie Deutschland ökonomisch ins Hintertreffen zu geraten droht. Noch ist Deutschland die viertgrößte Wirtschaftsmacht. Aber in Indien wird registriert, dass so was in zehn Jahren vorbei sein kann. Indien wird Deutschland überholen. Die Inder wären zurückhaltend genug, uns diese Erkenntnis selbst zu überlassen, aber sie registrieren auch die Stimmen, die dies als Konsequenz eines sich zu großen Ausruhens auf den Lorbeeren, eines Einrichtens in Bequemlichkeiten sehen, und sie verfolgen mit Interesse die Diskussionen um Vier-Tage-Woche, Rentenalter und Work-Life-Balance. 

    Was also könnte das satte, alternde Deutschland von Indien lernen, bevor es – wie Sie meinen – zu spät ist? 

    Lindner: Indien ist eine total junge Nation. Über 40 Prozent der Bevölkerung sind unter 25. Entsprechend ist es ein risikofreudiges Land. Die Leute machen ein Start-up, lassen es wieder oder scheitern, machen ein neues auf. Und durch die Masse an Menschen – über 1,4 Milliarden – haben sie eine Konkurrenzsituation, die zur Leistung antreibt. Sie müssen dort besser sein als der andere. Das geht schon in der Vorschule los. Man muss sich dort abheben, wenn man etwas werden will. Und man muss improvisieren können, Altgeregeltes überwinden, das Gegenteil machen. Die Digitalisierung Indiens zum Beispiel ist unglaublich! 

    Ein Beispiel? 

    Lindner: Auch draußen auf dem Land ist Indien vernetzt. Auch Leute, die nicht zur Schule gegangen sind, wickeln ihre Finanzgeschäfte über das Handy ab. Zitronen, die am Straßenrand verkauft werden, habe ich dort über einen QR-Code bezahlt. Ich habe Bettler gesehen, die ihre kleine Spende via Handy erhalten haben. Natürlich nicht den Bettlern, aber den kleinen Händlern erlaubt die Digitalisierung, wirtschaftlich mehrere Entwicklungsstufen zu überspringen. Und die Universitäten in Indien sind exzellent. Jedes Jahr zehntausende Abgänger, IT- und AI-Spezialisten, alle total gerüstet für den Weltmarkt. Inderinnen und Inder haben gelernt, sich sofort gut in eine neue Umgebung einzufügen, weil sie es aus ihrem so vielfältigen Land nicht anders kennen. Wir müssen uns da warm anziehen. 

    Robert Habeck war vergangenen Sommer da, aber davor war es Philipp Rösler, der zuletzt als Bundeswirtschaftsminister Indien besucht hat. Wie finden Sie das? 

    Lindner: Nachlässig. Man hat Indien links liegen lassen. Da war China, und das war eben unser Tellerrand. Und das, obwohl Indien so groß ist. Aber es war wegen seiner Sperrigkeit für viele Politiker nicht einzuordnen. Deswegen ist es mein Anliegen, diese Sprachlosigkeit zu überwinden. Aber die Aufmerksamkeit lässt schnell nach. Zu Beginn der Wahlen wurde über Indien berichtet. Jetzt zum Ende wieder. Aber dann? Wir schauen nur nach Europa, nach

    Wird Indien denn das neue China? Es wird so gelabelt, aber gefühlt seit Jahrzehnten. 

    Lindner: Wir sollten auch nicht überfrachten. Indien ist natürlich noch kein wirklicher Ersatz für Unternehmen, die in China Geschäfte machen. Dazu sind die Dimensionen des China-Geschäfts einfach zu groß. Dazu kommen die logistischen Herausforderungen. Zudem ist China autokratisch, die Partei ordnet an, und das wird umgesetzt. In der größten Demokratie der Welt ist das weitaus komplexer: föderal und vielstimmig. Es gilt: fünf Inder, zehn Meinungen. Doch Indien holt auf: Infrastruktur, Unternehmensmentalität, Korruptionsbekämpfung, Bildung. Wenn Sie in Bangalore, dem Zentrum der indischen Hightech-Industrie, unterwegs sind, ist das wie in Kalifornien. In Indien stampfen sie in zwei, drei Jahren einen State-of-the-Art-Flughafen aus dem Boden. Und am Förderband sind die Leute freundlich, der Schalter ist offen und der Koffer kommt. Also: Vielleicht ist Indien noch nicht der Plan B für Geschäftsleute, die China verlassen wollen. Aber der Punkt ist: Indien will nicht Plan B sein, sondern man will, dass die Leute gezielt in das Land kommen. Sie wollen weg vom Image als Werkstoffbank der Welt, als Rohstofflieferant. Indien macht selbst Qualitätsprodukte. 

    Sollte Premierminister Modi von der hindunationalistischen Bharatiya Janata Party durch die derzeit laufende Wahl bestätigt werden, worauf sollten sich die anderen Länder einstellen? 

    Lindner: Wenn Modi gewinnt, wird er in seiner dritten Amtszeit versuchen, Kontinuität herzustellen. Die Wirtschaftsreformen gehen weiter, der Ausbau der Infrastruktur wird fortgesetzt, er wird versuchen, die Lebensverhältnisse zu konsolidieren. Und außenpolitisch nicht mehr aus der politischen Weltkarte wegzudenken sein.

    War Botschafter in Indien: Walter J. Lindner.
    War Botschafter in Indien: Walter J. Lindner. Foto: Hans Scherhaufer / Ullstein Verlag

    Zur Person: Walter J. Lindner, geboren 1956 in München, Jurist und Musiker, war Botschaftsrat bei den Vereinten Nationen in New York, später Pressesprecher von Joschka Fischer und Staatssekretär im Auswärtigen Amt. Er war Botschafter in Kenia, Somalia, Südafrika, Venezuela und ab 2019 in Indien. Ein Lebenstraum erfüllte sich. Und er hat über seine Zeit mit Heike Wolter ein Buch geschrieben: „Der alte Westen und der neue Süden. Was wir von Indien lernen sollten, bevor es zu spät ist" (Ullstein Verlag, 320 Seiten)

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