Herr Koch, die Börse ist nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine in die Knie gegangen. Haben Sie als Journalist und Börsianer an der Wall Street in New York schon einmal eine derart heikle Situation erlebt?
Markus Koch: Die Finanzmarktkrise der Jahre 2008 und 2009 war ebenso massiv, wie das, was wir jetzt erleben. Die Wall Street und auch ich haben aber nicht damit gerechnet, dass Russland in die Ukraine einmarschiert, weil der wirtschaftliche Schaden für Russland als zu groß erachtet wurde. Doch Russland hat tatsächlich den Fehler begangen, die Ukraine zu überfallen. Dann trat das ein, was die Wall Street erwartet hat: Der Widerstand der Bevölkerung und des ukrainischen Militärs ist viel größer, als Putin dies angenommen hat. Putin hat auch nicht mit dem Ausmaß der Sanktionen gerechnet.
So einig wie gegen Putin war sich die westliche Welt schon lange nicht mehr.
Koch: Ja, dass sich selbst US-Firmen wie Coca-Cola, Starbucks und McDonald's aus Russland zurückziehen und das Land in die Steinzeit versetzen, war nicht zu erwarten. Wir erleben eine finanzielle Kriegserklärung des Westens an Russland. Gegen das Land wurde also ein Finanzkrieg nie dagewesenen Ausmaßes eingeleitet. Schon was ich sehe, beunruhigt mich als Börsianer. Doch noch mehr beunruhigt mich, was ich noch nicht sehe.
Was meinen Sie damit?
Koch: Wenn man ein Land wie Russland aus den globalen Märkten raus friert, kann das weltwirtschaftliche Folgen haben, die wir jetzt noch nicht erahnen können. Diese Ungewissheit verunsichert die Börse am meisten. Das lässt sich am Rohstoffmarkt ablesen. Schon vor dem Ausbruch des Krieges hatten wir einen Mangel an Rohstoffen, ob bei Nickel, Aluminium oder Zink. Jetzt hat sich die Lage durch die Sanktionen verschärft. Die Preise sind explodiert. Die Folgen der Verwerfungen können wir erst in den nächsten Monaten abschätzen.
Börsianer sind oft chronische Optimisten. Gibt es einen Funken Hoffnung?
Koch: Ich glaube an einen Ausweg aus der jetzt verfahren wirkenden Lage. Denn weder Russland noch die Ukraine profitieren von dem Krieg. Beide Länder müssen massive Verluste hinnehmen: Für die Ukraine kommt der Krieg einer humanitären Katastrophe gleich, Russland steuert in eine existenzielle Wirtschaftskatastrophe. Und China ist nicht erfreut über den Konflikt, denn die explodierenden Rohstoff- und Lebensmittelpreise stellen für China im eigenen Land eine immense soziale Gefahr dar. So sind die Weizenpreise innerhalb weniger Handelstage um 80 Prozent gestiegen. Da feiert China nicht. Ich gehe davon aus, dass China hinter den Kulissen Druck auf Russland ausübt. Und ich glaube, dass die Wahrscheinlichkeit, dass China in Taiwan einmarschiert, gesunken ist.
Woraus schöpfen Sie hier Hoffnung?
Koch: China sieht nun am Beispiel Russlands, welche Wucht die westlichen Sanktionen entfalten. Und China hängt viel stärker als Russland am US-Dollar-Markt. Russland hat keine US-Staatsanleihen und verfügt dagegen allein im eigenen Land über Goldbestände von 130 Milliarden Dollar. China kann sich erst dann einen Überfall auf Taiwan leisten, wenn es die Abhängigkeit vom Dollar massiv verringert hat. Das könnte erst in 15 Jahren der Fall sein. China braucht den Westen und die Weltwirtschaft also noch lange.
Was macht Ihnen derzeit am meisten Sorgen?
Koch: Am meisten Sorgen bereitet mir, dass unsere Welt zunehmend gespalten wird. Nach einem zweijährigen Kampf gegen Corona, einer sich weltweit ausweitenden sozialen Ungleichheit und jetzt mit einem Krieg in der Ukraine fallen wir von der Globalisierung in Isolation und Intervention zurück. Menschen sind verunsichert und wir sehen einschneidende Veränderungen: von Deflation zu Inflation, von Anleihen zu Rohstoffen und an der Börse weg von Tech-Aktien zu Value-Unternehmen, also Substanz-Aktien. Letztes Jahr haben wir uns an der Börse noch die Frage gestellt: Wie geil wird geil jetzt noch, also wie stark geht es dieses Jahr noch nach oben? Das war ungesund. Jetzt fragen wir uns, wie furchtbar furchtbar noch wird, also wie weit es noch nach unten geht.
Wie furchtbar wird es noch an der Börse?
Koch: Prognosen sind derzeit unmöglich, was an den Börsen zusätzlich für Verunsicherung sorgt. Und weil weniger Geld im Markt ist, also die Liquidität gering ausfällt, sehen wir enorme Schwankungen an den Börsen. Es geht also immer wieder kräftig rauf und runter. Und selbst wenn wir eine Exit-Strategie in dem Krieg bekommen, also etwa einen Waffenstillstand, ist die Welt nicht mehr die gleiche wie vor dem Überfall der Russen auf die Ukraine. Die Welt wird nun dauerhaft anders sein.
Erreichen die Börsen irgendwann einen rettenden Boden oder fallen sie ins Uferlose?
Koch: Ich glaube nicht, dass die Börsen das Tief erreicht haben. Das wird noch weiter nach unten gehen, auch wenn die Märkte immer wieder mal anziehen. Die Börsen erleben eine Zeit der Angst, in der Anlegerinnen und Anleger nur auf aktuelle Nachrichten reagieren. Die nächsten zehn bis 18 Monate werden extrem herausfordernd. Es gibt Gegenwind von den Notenbanken für die Börsen, keinen konjunkturellen Rückenwind und die Gewinne der Unternehmen fallen geringer aus. Das wussten wir alles. Das ist eingepreist. Nun kommen viele Nebel-Faktoren hinzu. Wir tappen also im Dunkeln, wie sich die steigenden Rohstoffpreise etwa auf das Kaufverhalten der Menschen auswirken. Wir wissen nicht, wie lange die Sanktionen aufrechterhalten werden. Deswegen regieren an der Börse jetzt zittrige Hände.
Die Pandemie und den Einmarsch Russland in der Ukraine hat kaum einer erahnt. Was sind Prognosen überhaupt noch wert?
Koch: Es ist derzeit extrem schwierig, Prognosen zu treffen. Seit Beginn der Pandemie hat die Verlässlichkeit von Prognosen in allen Bereichen nachgelassen. Wir lagen, was Russland betrifft, mit zu vielen Prognosen daneben. Die Anleger haben keine verlässlichen Daten mehr und reagieren nervös auf Schlagzeilen. Das ist eine gefährliche Situation. Und weil der Glaube an Prognosen deutlich geschwunden ist, bleibt den Börsianern nur noch übrig, Risiko zu verringern. Man geht in Cash, Edelmetalle wie Gold oder den US-Dollar. Wir wissen derzeit nur, dass wir nichts wissen.
Das war schon die große Lehre, die der griechische Philosoph Sokrates aus dem Leben gezogen hat.
Koch: Da kann man auch als Börsianer ins Philosophieren kommen. Im letzten Boom-Jahr waren Prognosen einfacher: Da stieg der Markt, weil er stieg. Der Markt zog viele nicht so starke Aktien im Schlepptau mit sich, auch wenn die Unternehmen keine guten Nachrichten zu vermelden hatten. Jetzt nährt Angst Angst. Da wir derzeit wissen, dass wir nichts wissen, müssen wir uns wenigstens auf das konzentrieren, was wir noch kontrollieren können. Und das ist unsere Investitionsquote im Markt.
Also raus aus Aktien und Verluste begrenzen?
Koch: Wer nicht geübt ist, muss seinen Aktienbestand verringern. In normalen Zeiten sollte man 60 bis 70 Prozent seiner Anlagen in Aktien halten, jetzt finde ich 30 bis 40 Prozent besser. Schließlich lautet die Regel Nummer eins an der Börse: kein Geld verlieren.
Das sagt die Börsen-Legende Warren Buffett. Und seine zweite Regel lautet: vergesse nicht Regel Nummer eins.
Koch: Denn Börsen gehen in solchen Angst-Zeiten schon mal 800 Punkte nach oben und dann wieder 800 Punkte nach unten. Da wird auf dem Weg nach oben viel Geld gemacht, auf dem Weg nach unten aber noch mehr Geld vernichtet. Das Risiko einer weltweiten Rezession hat zugenommen, auch wenn ich noch nicht fest davon ausgehe, dass wir in eine Rezession schlittern.
Sollte man jetzt dennoch als risikobewusster Anleger die alte und zynische Börsenweisheit beherzigen und kaufen, wenn die Kanonen donnern?
Koch: Diese Lehre funktioniert jetzt nicht, außer man führt das Leben einer Eintagsfliege. Wer einen Anlagenhorizont von ein bis zwei Jahren hat, muss vorsichtig sein. Das heißt nicht, dass man gar nicht mehr an der Börse dabei sein sollte: Meinen Aktiensparplan und auch den meiner Tochter bediene ich weiter. Meine Tochter ist neun Jahre alt. Bis sie die Schule beendet hat, haben sich die Zeiten hoffentlich zum Besseren verändert.
Doch derzeit sieht es düster aus.
Koch: Die Kernproblematik, die wir haben, ist die hohe Inflation. Und diese Kernproblematik verschärft sich jetzt durch die russische Aggression. Der Markt ist depressiv gestimmt. Selbst wenn wir einen Waffenstillstand zwischen Russland und der Ukraine bekommen und sich der Nebel lichtet, drückt die hohe Inflation und die Angst vor weiter steigenden Zinsen auf die Stimmung der Börsianerinnen und Börsianer.
Sie sagen, ein Börsianer müsse vor allem Angst vor der Politik der amerikanischen Notenbank und deren Chef Jerome Powell haben. Worin besteht die Bedrohung?
Koch: Die US-Notenbank Fed hat auf die immer weiter anziehende Inflation viel zu spät reagiert. Sie hätte schon im Frühling letzten Jahres auf die Bremse drücken müssen. Nun ist der Handlungsspielraum der Fed bei einer sich abschwächenden Konjunktur kleiner. Sie steckt in der Falle, weil sie angesichts der hohen Inflation die Zinsen eigentlich erhöhen muss, um die Nachfrage abzukühlen. Doch die Nachfrage geht angesichts des Krieges ohnehin zurück. Es besteht also die Gefahr, dass die Notenbank die Zinsen zu stark anhebt und die Konjunktur dadurch abwürgt.
Und was ist jetzt zu befürchten?
Koch: Es besteht die Gefahr, dass die US-Notenbank bei ihrer Sitzung am 16. März zu deutlich in den stark nach unten zeigenden Markt hinein bremst. Wir bekommen in diesem Jahr niemals sieben Zinsanhebungen, wie manche denken. Das hält weder der Kapitalmarkt noch die Wirtschaft aus. Mein Hauptvorwurf an die US-Notenbank lautet, dass die Zentralbank unzureichend kommuniziert, also die Anlegerinnen und Anleger nicht darauf vorbereitet, was passiert. Am 16. März brauchen wir einen klaren Marschplan der US-Notenbank. Die Finanzwelt kann nicht weiter mit der Angst leben, dass die Notenbanker etwas tun, was uns weltweit in eine Rezession rutschen lässt. Ungewissheit ist Gift für die Börse.
Das ist eine der großen Lehren an der Börse. Wie sind Sie an die Wall Street gekommen? Sie hatten es nicht leicht als Kind und Jugendlicher.
Koch: Ich bin in der Nähe von Frankfurt aufgewachsen. Meine Eltern ließen sich früh scheiden. Meine Mutter hat dann einen Mann aus dem afrikanischen Land Liberia kennengelernt, der Chefarzt in Deutschland war. Er wollte zurück nach Liberia. Meine Mutter und ich sind mitgegangen. Zwei Bürgerkriege später, als mein Stiefvater schwerer Alkoholiker war, sind wir mithilfe der deutschen Botschaft aus Liberia geflohen. Mein Stiefvater war damals der Leibarzt des Präsidenten und wurde meistens trotzdem nur in Hühnern und Ziegen bezahlt.
Wie war der Neustart in Deutschland?
Koch: Wir hatten alles verloren. Wir mussten Liberia schnell verlassen und sind mit zwei Koffern in Deutschland angekommen. Das war für mich als Kind eine prägende Zeit. Geld war knapp. Zum Glück haben uns die Großeltern etwas geholfen. Als Jugendlicher habe ich dann in einer Bäckerei gejobbt, mir dort mein erstes Geld verdient und Blut an der Börse geleckt.
In einer Bäckerei?
Koch: Ja, denn der Bäckermeister hat fleißig mit Aktien spekuliert. Dann habe ich beim Planspiel Börse der Sparkassen mitgemacht. Von Anfang an faszinierte mich das Ungewisse, das ewig Neue an der Börse. Sie schien mir der Ausweg aus dem Zustand, nichts zu haben, wie wir damals. Geld war für mich lange der Inbegriff von Freiheit. Ich bin dann mit 18 ausgezogen und habe meine erste Firma aufgebaut, die Geschäftsberichte ins Englische übersetzt hat.
Doch Ihre Börsen-Investments gingen letztlich in die Hose.
Koch: Ich bin mit Wertpapierkrediten auf die Schnauze geflogen. Ich musste den Kredit zurückzahlen. Ich stand als 19-Jähriger mit 70.000 D-Mark in der Kreide. Dann drohte mir die Bundeswehr. Dort wollte ich nicht hin. In Deutschland hatte ich eine Banklehre abgebrochen, weil sie mir zu langweilig war. Bei dem Bankhaus war es nicht so gut angekommen, dass das Handelsblatt eine Geschichte über mich mit dem Titel „Vom Brötchen zur Börse“ geschrieben hatte. Zumindest hatte ich erste Erfahrungen als Broker in Deutschland gesammelt und eine Prüfung abgelegt.
Das klingt nach einer verfahrenen Lage.
Koch: Ich bin die Flucht nach vorne angetreten. Das war für mich der Weg an die Wall Street. Ich bin mit Anfang 20 von Deutschland überstürzt nach New York geflogen. Ich hatte mir 5000 D-Mark bei Freunden geborgt. Mein Englisch war schlecht. Der Bundeswehr hatte ich mitgeteilt, dass sie mich in New York erreichen kann.
Und was ist mit Ihren Schulden passiert?
Koch: Ich habe die 70.000 D-Mark zurückgezahlt. Das war ein hartes Brot. Der Start in New York war nämlich schwierig. Rückblickend bin ich stolz darauf, dass ich das in so jungen Jahren geschafft habe. Für mich war es keine Option, nach Deutschland zurückzugehen. Sonst hätte ich zur Bundeswehr gemusst. Der Druck war gut. So habe ich mich in New York durchgebissen. Was lustig ist: Mein Visum bekam ich 1992, weil ich jemanden bei Radio Xanadu kannte, der mir bestätigte, dass ich für den Sender als Börsen-Berichterstatter arbeitete. Doch ich habe nie ein Wort für Radio Xanadu über die Börse berichtet. Mit einem Journalisten-Visum war es für mich am leichtesten, in die USA zu kommen.
Sie haben in Deutschland auch Geld für Verwandte und Lehrer angelegt. Sind manche Ihnen heute noch böse?
Koch: Ich hoffe nicht. Lehrer hatten mitbekommen, dass ich an der Börse zunächst Erfolg hatte und dass das Handelsblatt über mich schon als 16-Jähriger geschrieben hat. Dann kamen Lehrer zu mir und baten mich, auch ihr Geld anzulegen. Unter anderen habe ich für meinen Lateinlehrer an der Börse spekuliert, auch wenn ich Latein furchtbar fand. Ich habe mich dann mit einer schlechten Performance an der lateinischen Sprache gerächt.
Der arme Lateinlehrer.
Koch: (lacht) Mein Lateinlehrer fand das alles nicht lustig. Aber so ist das an der Börse: Es geht um Zukunft, also gibt es auch keine Garantien. Trotzdem tut es mir leid. Auf alle Fälle hatte ich ein gestörtes Verhältnis zur Schule. Ein Lehrer sagte mal zu mir: Du hast zu viel Fantasie. Aus Dir wird nichts.
Fantasie ist für einen Journalisten nicht verkehrt. Dachten Sie vor Ihrer Zeit an der Wall Street jemals daran, Journalist zu werden?
Koch: Niemals. Ich tue mich mit dem Begriff „Journalismus“ ohnehin schwer. Meine Frau stammt aus Peru und ist Anwältin bei der New York Times. Wenn wir auf Partys gehen, werde ich oft gefragt, was ich mache. Auch wenn ich es zu erklären versuche, verstehen die meisten nicht so recht, was mein Beruf ist.
Wer ist Markus Koch?
Koch: In meiner Brust schlagen immer zwei Herzen: Natürlich arbeite ich als Journalist. Ich werde aber immer auch Börsianer bleiben, auch wenn ich von der Wall Street für den Fernsehsender ntv, das Handelsblattoder über meinen Youtube-Kanal berichte. Ich wollte immer einen Job haben, der nicht langweilig ist. Und einen solchen Job habe ich. Denn das Schöne an der Zukunft und damit der Börse ist, dass sie immerfort neu geschrieben wird. In diesem Roman kann man als Börsianer mitspielen.
Was macht die Börse im Innersten aus?
Koch: Das Spannende an der Börse ist, dass vieles sachlicher und neutraler eingeordnet wird, als dies in der öffentlichen Wahrnehmung und in den Schlagzeilen der Fall ist. Das gilt selbst jetzt in Kriegszeiten. Zunächst habe ich an der Wall Street nicht journalistisch gearbeitet, sondern bei einer Fondsgesellschaft angefangen. Dann wechselte ich 1994 zu einer US-Investmentbank. Ich habe mich von ganz unten an der Wall Street hochgearbeitet.
Hatten Sie auch Glück?
Koch: In den Journalismus bin ich reingeschlittert. Erst habe ich für Radioropa, dann für Klassik Radio von Wall Street berichtet. Anfang der 90er Jahre gab es in New York wenige rein auf Börse spezialisierte Journalistinnen und Journalisten. Ich wurde 1996 der Zweite an der New York Stock Exchange stationierte Journalist. Dann gingen die Börsen in den 90er Jahren im Bullenmarkt steil nach oben. Der Rest ist Geschichte. Ende der 90er Jahre habe ich knapp 20 Mitarbeiter beschäftigt.
Ihr Anfang in New York war nicht nur hart, sondern manchmal auch frostig.
Koch: (lacht) Mein erstes Zimmer hatte ich in einem Hotel in Harlem. Manchmal waren Ratten im Zimmer. Das Fenster war kaputt. In der Scheibe war ein Loch. Einmal kam mich eine Schulfreundin besuchen. Weil es so kalt war, haben wir nachts alle halbe Stunde den Föhn angeschaltet und uns daran gewärmt. Ohne Geld ist man in New York einsam. Die Investmentbank hat mir für das erste halbe Jahr kein Gehalt gezahlt. In der Cafeteria gab es zum Glück kostenlos trockene Brotstangen. Davon habe ich mich tagsüber ernährt. Einen Salat konnte ich mir nicht leisten.
Hat Ihr Chef nicht bemerkt, wie es Ihnen ging?
Koch: Mein Chef war katastrophal hart. Das war ein Voll-Choleriker, der unglaublich viel Geld verdient hat und dennoch geizig war. Dass ich ihn überstanden habe, grenzt an ein Wunder. Ich freute mich dann wahnsinnig auf meinen ersten Bonus. Doch mein erster Bonus bestand aus einer Matratze. Mein Chef wusste, dass ich zu Hause auf dem Teppich schlafe. Dass ich kein Geld als Bonus bekommen habe, ärgerte mich.
All das härtet fürs Leben ab.
Koch: Das macht einen vor allem dankbar. Man darf im Leben nie vergessen, wo man herkommt. Ich kam mit nichts aus Afrika zurück. Und ohne die Hilfe meiner Freunde hätte ich meinen Weg in New York nicht machen können. Geld war sicher bis zu meinem 30. Lebensjahr eine Motivation für meine Arbeit. Doch schon lange treibt mich vor allem an, dass ich das machen darf, was mir Spaß macht. Eines der größten Geschenke ist es, dass ich über Geld reden darf und mir Menschen vertrauen. Geld und Liebe sind die schwierigsten Themen.
Eine interessante Parallele.
Koch: Die Börse ist wie die Liebe. Wenn einem das Herz gebrochen wird, heiratet man danach doch wieder. Im Leben wie an der Börse geht es immer um die Frage: Was passiert als Nächstes? Deswegen sind wir als Menschen und Anleger auch in diesen düsteren, vom Krieg in der Ukraine überschatteten Zeiten ewig Hoffende.
Sie sagen, an der Börse gäbe es eine höhere Erfolgsquote als beim Heiraten.
Koch: Ehen enden in Deutschland im Durchschnitt nach 14,7 Jahren. Doch mit einer breiten Anlage in die Werte des Deutschen Aktienindex hat man nach 14,7 Jahren kein Geld verloren. Mit dem Dax hat man also eine höhere Trefferquote als mit einer Heirat. Das ist natürlich nur statistisch so. Gott sei Dank lässt sich der Mensch nicht von der Statistik, sondern von Hoffnungen leiten. Ich habe auch zum zweiten Mal geheiratet.
Also doch besser nicht den Dax oder Dow Jones heiraten.
Koch: (lacht) Bloß nicht! Das wäre mir zu volatil. Doch die Börse ist ein wunderbarer Lehrmeister für das Privatleben: Man muss zuhören, ja auch loslassen können. An der Börse wie im Leben ist es wichtig, nicht auf seinem Standpunkt zu beharren. Am Aktienmarkt hat am Ende immer der Markt recht. Ein Börsianer muss also wie in einer Beziehung oder einer Freundschaft wissen, wann er sich zurücknehmen muss.
Also muss er eine Aktie verkaufen und Verluste begrenzen, auch wenn er mit dem Papier wie einst bei der Telekom ins Minus gerutscht ist.
Koch: Genau. Wenn es wie in den letzten beiden Jahren nur nach oben geht, ist es einfach. Doch das ist keine Börse. Das war ein mit Zucker zugeschmierter Markt. In einem solchen Markt wird jeder reich. Da braucht man nicht Börsianer zu sein. Die wahren Helden werden an der Börse geboren, wenn es schwierig wie jetzt wird.
Was ist die entscheidende Frage für eine Börsianerin oder einen Börsianer?
Koch: Die entscheidende Frage ist: Wer bin ich?
Das klingt philosophisch, wiederum mehr nach Sokrates als nach Kapitalismus.
Koch: Nehmen wir die Invasion der Russen in die Ukraine: Diese externen Faktoren kann man schwer einschätzen. Doch viele Anlegerinnen und Anleger, ja Bankberater machen den Fehler, es dennoch zu tun und daraus Kaufentscheidungen abzuleiten. Und dann fällt eine von einem Experten Privatanlegern empfohlene Aktien, was diese dem Spezialisten vorhalten. Doch an der Börse gibt es keine Garantie, sondern nur Wahrscheinlichkeit. Die Börse ist nicht schwarz und weiß, sondern grau.
Und was ist mit der Wer-bin-ich-Frage?
Koch: Man muss sich klar sein, als welcher Typ man an die Börse geht, also ob man die Börse wie ein Casino sieht, dann spielt man Roulette. Oder man geht an die Börse und spielt Poker, dann geht man strategisch vor. Man muss sich also zunächst klar werden, was man spielt und wer man ist. So sollte sich ein Anleger fragen, ab welcher Summe ihn ein Geldverlust schmerzt. Bei manchem ist das schon bei 1000 Euro der Fall. Die Psychologie lehrt uns: Der Schmerz über einen Verlust ist doppelt so hoch wie die Freude an einem Gewinn. Als Erstes sollte man sich also die Frage stellen, wo die eigene Schmerzgrenze liegt. Dann folgt die Frage: Wo will ich eigentlich hin? Das kann etwa eine Aktienanlage zur Aufbesserung der Rente sein.
Und wenn man all das nicht tut?
Koch: Dann besteht die Gefahr, dass einen die Börse vernichtet. Wer arrogant ist und an seiner Meinung festhält, weil er glaubt, dass er mit seiner Anlageentscheidung recht haben muss, wird abgestraft. Wer glaubt, dass er als Anleger gut ist, ja über Wasser gehen kann, fängt an Geld zu verlieren. Es gibt keinen Messias an der Börse. Und ich bin kein Messias, sondern der Markus aus Königstein bei Frankfurt.
Und manchmal ist die Börse gemein.
Koch: Wenn es für einen am Aktienmarkt schlecht läuft, ist das wie eine zu Bruch gehende Ehe: Irgendwann muss man der Realität nach allen Rettungsversuchen in die Augen schauen und sagen: Jetzt muss ich loslassen und Verluste beziehungsweise Leiden begrenzen. Die Börse ist ein Ort, an dem wir viel über unsere eigenen Emotionen lernen. Ich rege mich nach gut 25 Jahren an der Wall Street weder über steigende noch fallende Kurse auf.
Stimmt das wirklich?
Koch: Ja, weil es normal ist. Das ganze Leben ist eine Schwankung. Wenn ich anfange zu rechnen, dass ich heute an der Börse den Wert eines Sommer-Urlaubs verloren habe, lähmt einen das. Man muss rasch handeln und verkaufen.
Sind Sie gelassener geworden an der Börse?
Koch: Ich bin glücklich, mit dem was ich habe. Wenn ich am Abend nach Hause komme und meine Frau und meine Tochter sehe, ist die Welt für mich in Ordnung. Ich habe einen Abstand zur Geldanlage bekommen.
Das klingt, als ob Sie an der Börse reich geworden sind.
Koch: Ich sage es mal so: Meine Altersversorgung ist gesichert. Die Kunst ist es, kein Geld zu verlieren. Daran halte ich mich, schließlich bin ich 50 Jahre alt geworden. Die Börse ist kein Instrument, um damit reich zu werden. Die Börse ist auch kein Instrument, um damit arm zu werden. Die Kunst besteht darin, langfristig ein wenig Rendite einzufahren. Letztes Jahr habe ich die Börse nicht geschlagen, sie lief besser als meine Anlagen.
Noch einmal: Wird man reich, wenn man sich wie Sie jeden Tag mit der Börse beschäftigt?
Koch: (lacht laut) Ich bin jedenfalls durch meine Frau gehegt, also finanziell vollständig abgesichert. Wenn ich alles verliere, ernährt mich die New York Times über meine Frau. Ich muss mir keine Sorgen machen. Nach 1998 ging es für mich bis auf die Zeit nach den Terroranschlägen in den USA im Jahr 2001 finanziell bergauf.
Legen Sie auch für andere Menschen Geld an?
Koch: (lacht) Ja, für meine 9-jährige Tochter.
Ist sie mit dem Papa als Fondsmanager zufrieden?
Koch: Ich sage ihr an schwachen Tagen nicht, wie es um ihren Sparplan steht. Und ich betreue auch die Pensionskasse meiner Frau. Der sage ich auch nicht, wenn sie Geld verliert. Ich manage wie andere bekannte Börsianer keinen Fonds. Das würde meine Unabhängigkeit beeinträchtigen. Ich habe ohne Geld angefangen. Und ich nehme es sehr ernst, wenn ich über Geld spreche. Ich habe Verantwortung gegenüber meinen Zuhörerinnen und Zuhören. Das verträgt sich nicht mit einem Nebengeschäft als Fondsmanager.
Zur Person: Markus Koch, 50, ist das deutsche Gesicht an der Wall Street in New York, wo er seit mehr als 25 Jahren tätig ist. Der gebürtige Hesse berichtet seit Mitte der 90er Jahre für den Nachrichtensender ntv und das Handelsblatt von der Wall Street. Heute betreibt Koch ein Live-Streaming-Studio unweit der Wall Street. In den sozialen Medien folgen ihm über 250.000 Fans. Sein Podcast hat 1,6 Millionen Abonnenten und rangiert im Bereich "Wirtschaft und Finanzen" unter den Top 10.