Frau Esmailzadeh, in welche Schublade werden Sie gerade am häufigsten gesteckt?
Annahita Esmailzadeh: Ich passe in viele Schubladen und werde daher regelmäßig in ganz unterschiedliche gesteckt. Angefangen bei meinem jungen Alter, das mit meinem Beruf als Führungskraft im Microsoft-Konzern zu kollidieren scheint, bis hin zu meinem Beruf und Studium im Tech-Bereich, das sich mit meinem optischen Erscheinungsbild und auch meinem Geschlecht zu beißen scheint.
Das klingt anstrengend.
Esmailzadeh: An meinem Beispiel kann man das Prinzip der Intersektionalität gut veranschaulichen.
Was ist das denn? Der Begriff klingt gefährlich.
Esmailzadeh: Wenn ein Mensch wegen seiner Hautfarbe diskriminiert wird, ist es klar, woher die Vorurteile gegen ihn rühren. Wenn aber ein Mensch in mehreren Aspekten von der gesellschaftlichen Norm abweicht – beispielsweise aufgrund der sexuellen Orientierung und der Hautfarbe – weiß man oft nicht, woher die Diskriminierung exakt herrührt. Die Begründerin der Lehre von der Intersektionalität beschreibt das Phänomen mit einer Kreuzung: Wenn man wie ich auf einer solchen Kreuzung steht, ist unklar, von wo das Vorurteils-Auto angefahren kommt. So kann man in meinem Fall neben meinem Alter oder meinem Geschlecht davon ausgehen, dass auch der Umstand eine Rolle spielt, dass meine Eltern aus dem Iran stammen.
Mit Vorurteilen in der Arbeitswelt beschäftigen Sie sich auch in Ihrem jüngsten Buch: „Von Quoten-Frauen und alten weißen Männern“.
Esmailzadeh: In diesem Buch fordere ich: „Schluss mit Vorurteilen in der Arbeitswelt.“
Da haben Sie sich einiges vorgenommen.
Esmailzadeh: Das stimmt. Vorurteile sind auch in der Arbeitswelt omnipräsent – mit oft fatalen Folgen für Betroffene, aber auch für Arbeitgeber.
Warum müssen Sie immer noch mit Vorurteilen gegen Ihre Person kämpfen? Sie sind doch als Bestseller-Autorin, Mentorin, Business-Influencerin mit knapp 158.000 Followern auf dem Karriere-Netzwerk LinkedIn und gefragte Rednerin eine bekannte Persönlichkeit in Deutschland.
Esmailzadeh: Über die Jahre hinweg nehmen die Vorurteile gegenüber meiner Person ab, aber sie sind noch lange nicht weg. Immerhin spüren immer mehr Menschen, dass ich Substanz und eine hohe Erwartungshaltung an mich selbst habe. Diese Menschen begegnen mir kaum noch mit Skepsis. Wer mich aber nicht kennt und mich das erste Mal trifft, ist zunächst häufig verwundert.
Doch Schubladen-Denken können wir uns schon rein aus wirtschaftlichen Gründen nicht mehr leisten.
Esmailzadeh: Absolut. Wir können uns etwa Altersdiskriminierung nicht mehr leisten, weil Arbeitgebern dadurch in Zeiten des Fachkräftemangels wichtige Talente entgehen. Doch viele Personalfach-Kräfte benachteiligen bei Einstellungen ältere Kandidatinnen und Kandidaten. So werden ältere Menschen oftmals in die Schublade gesteckt, sie seien nicht mehr innovativ und lernwillig.
Wieder so ein Vorurteil.
Esmailzadeh: Es ist absoluter Quatsch, dass ältere Menschen nicht mehr lernwillig und innovativ sind. Sie verfügen über einen Fundus an Erfahrungen und Wissen. Wenn Unternehmen darauf verzichten, entgeht ihnen unfassbar viel fachliche Kompetenz. Wir brauchen Jungspunde, die frisch von der Uni oder einer Ausbildung kommen, aber eben auch ältere Beschäftigte. Solch altersdiverse Teams sind erfolgreicher. Deswegen ist es verheerend und dumm, wenn Unternehmen Menschen jenseits von 50 Jahren keine Chance geben. Vor allem in Zeiten des Fachkräftemangels. Übrigens: Es gibt auch jüngere Menschen, die nicht innovativ und lernwillig sind. Arbeitgeber denken jedenfalls zu kurz, wenn sie Beschäftigte in Altersteilzeit abschieben und dadurch Kompetenz verlieren. Da beißt sich die Katze in den Schwanz.
Dass Sie heute gegen das Gift der Vorurteile kämpfen, hat sicher auch mit Ihrem Aufwachsen in München zu tun.
Esmailzadeh:Ich habe als Kind Alltags-Rassismus erlebt. So saß ich als junges Mädchen mit meiner Mutter in der U-Bahn. Eine ältere Dame fing an, uns wüst zu beschimpfen. Die Frau meinte schließlich, wir sollten dorthin gehen, wo wir hergekommen waren. Ich habe nicht verstanden, was diese Dame meint, schließlich bin ich in München geboren und aufgewachsen und bin damit durch und durch eine Münchnerin. Ich wusste nicht, wohin ich zurückgehen soll.
Wie hat Ihre Mutter reagiert?
Esmailzadeh: Sie war unendlich traurig, weil ihre Tochter eine solche negative Erfahrung machen muss. Was mich bis heute schockiert: Diese U-Bahn war voll besetzt. Doch keiner hat etwas gesagt zu den verbalen Attacken der älteren Dame. Viele haben zugehört, aber weggeschaut. Mein Appell lautet also: Wenn Menschen diskriminiert werden, sollte man sich einschalten. Es gibt aber auch subtilen Alltags-Rassismus, der keine bösen Absichten hat, aber Menschen verletzen kann.
So werden Sie immer wieder gefragt, wo Sie eigentlich herkommen und warum Sie denn so perfekt Deutsch sprechen.
Esmailzadeh: Ich persönlich finde diese Frage nach meinen Wurzeln gar nicht so schlimm. Aber ich kenne viele Menschen mit Migrationshintergrund, die diese wiederholte Frage nach ihrer eigentlichen Herkunft als sehr verletzend erfahren, weil ihnen damit unterstellt wird, dass sie zu der deutschen Gesellschaft nicht wirklich dazugehören, auch wenn sie Deutschland als ihre Heimat sehen.
Einmal haben Sie erlebt, dass sich ein Mann in Ihrer Gegenwart beschwert hat, dass man in dem so politisch korrekten Deutschland keine Witze mehr über Ausländer reißen dürfe.
Esmailzadeh: Dieser Mann hatte sich lautstark mokiert, dass man heutzutage ja gar keine Witze mehr über Minderheiten machen darf, weil sich dann immer jemand auf den Schlips getreten fühlt. Der Herr erzählte daraufhin ganz stolz, dass in seinem Unternehmen auch die "Ausländer“, wie er sie nannte, über seine Ausländer-Witze lachen würden. Das könne also nicht so schlimm sein, meinte er. Dem Mann war nicht bewusst, dass es als Angehöriger einer Minderheit sehr schwierig ist, sich gegen eine solche Form der Diskriminierung zu wehren. Immer wieder erlebe ich, dass Menschen, die noch nie selbst diskriminiert wurden, dazu neigen, Diskriminierung klein- oder sogar komplett wegreden zu wollen.
Wie haben Sie auf den Herrn mit der Neigung zu Ausländer-Witzen reagiert?
Esmailzadeh: Ich habe den Spieß umgedreht und getestet, wie groß das Humor-Potenzial des Mannes ist, wenn es um seine eigene Person geht.
Haben Sie Witze über Deutsche erzählt?
Esmailzadeh: Nein, ich habe den Herren gefragt, wie er es fände, wenn wir uns darüber amüsieren würden, dass er sich das Essen ganz offensichtlich immer gut schmecken lasse.
Und wie ausgeprägt war das Humor-Potenzial des Mannes?
Esmailzadeh (lacht): Es war nicht vorhanden. Er fand meine Bemerkung nicht witzig. Seine zuvor sehr großzügige Humor-Toleranz war plötzlich ausgeschöpft, als es um seine Person ging. Wir sollten jedenfalls bornierten Menschen den Spiegel vorhalten. So können sie erleben, wie verletzend es sein kann, wegen seiner Herkunft oder Hautfarbe mit Witzen diskriminiert zu werden.
Sie verfügen über ausreichendes Selbstbewusstsein, auch lassen Sie sich ungern bei jedem zweiten Satz unterbrechen.
Esmailzadeh: Mich hat vor einigen Jahren ein ehemaliger Arbeitskollege dauernd unterbrochen, wenn ich etwas gesagt habe. Ich habe den Spieß dann wiederum umgedreht und den Mann permanent unterbrochen, was bei ihm und anderen überhaupt nicht gut ankam, wohingegen sie alle das Verhalten des Kollegen vorher nur stillschweigend und schulterzuckend zur Kenntnis genommen hatten. Für mich ist der Vorfall ein Beispiel dafür, wie Verhaltensweisen je nach Geschlecht unterschiedlich bewertet werden.
Frauen sollten demnach besser deeskalieren.
Esmailzadeh: Die Rollen-Erwartung an Frauen ist nach wie vor, dass sie nicht proaktiv in Konfliktsituationen gehen sollen. Frauen sollen vielmehr bei Konflikten für Harmonie sorgen. Wenn ein Mann sich durchsetzungsstark zeigt, wird das meist im Gegensatz zu Frauen positiv bewertet. Frauen, die sich durchsetzen können, werden schnell als bissig und zickig eingestuft. Dieser Kollege hat vor allem jüngere Frauen dauernd unterbrochen.
Und wie kam Ihre Strategie bei den anderen an?
Esmailzadeh: Als ich am übergriffigen Verhalten des Kollegen Maß nahm und ihn unterbrach, erntete ich fassungslose Blicke. Den Leuten sind vor Entsetzen fast die Augen rausgefallen. Das hat keiner von einer Frau erwartet. Man muss übergriffigen Menschen jedoch Grenzen aufzeigen, sonst lassen sie von ihrem Verhalten nie ab.
Wie funktioniert das bei Sexismus?
Esmailzadeh: Wenn sexistische Aussagen fallen, also auf unangemessene Weise mein Aussehen kommentiert wird, sage ich zu so einer Person: Wie meinst du das eigentlich? Ich verstehe dich nicht. Ich stelle mich also dumm. So frage ich schon mal: Wieso denkst du, dass ich dir den Kaffee bringe, obwohl wir hierarchisch auf dem gleichen beruflichen Level stehen? Oder ich will von einem Mann ganz naiv wissen: Wieso findest du es angemessen, meinen Ausschnitt zu kommentieren? Das sitzt dann. Der Druck auf Frauen im Beruf kann immens sein: So hat sich am Anfang meiner Karriere sogar eine Frau darüber beschwert, dass ich zu stark geschminkt sei, lackierte Fingernägel habe und die Harre offen trage und gemeint, dass mich so kein Kunde ernst nehmen wird.
Wie haben Sie auf die weibliche Stil-Kritik reagiert?
Esmailzadeh: Ich wollte auf gar keinen Fall inkompetent wirken – dafür hatte ich mir in den Jahren zuvor viel zu sehr den Hintern aufgerissen. Ich habe also meine Haare streng zurückgebunden, nur noch farblich dezente Kleidung getragen und mich nicht mehr geschminkt. Doch mir fiel auf: Menschen, die einen in eine Schublade, also etwa die Tussi-Schublade stecken wollen, tun das ohnehin, egal ob man sich verbiegt oder nicht.
Zu welchem Verhalten raten Sie also?
Esmailzadeh: Die meisten Menschen kann man mit demonstrierter Kompetenz überzeugen. Bei anderen hilft alles nichts. Menschen sollten sich nicht verbiegen müssen. Ich sage immer: Wenn man sich anstrengt, gute Leistungen erbringt und trotzdem noch keine Chancen im Arbeitsumfeld erhält, sollte man das Umfeld hinterfragen. Wenn eine Pflanze nicht blüht, hinterfragen wir ja auch nicht die Pflanze, sondern ändern ihre Umgebung, oder?
Damit Menschen aufblühen, brauchen sie manchmal eine Förderin oder einen Förderer. Sie haben mal einem türkischen Jungen Power eingeflößt.
Esmailzadeh: Der Bub hieß Cem und hat dauernd meinen Unterricht als ehrenamtliche Nachhilfe-Lehrerin gestört. In einem solchen Kurs, den ich neben dem Studium für benachteiligte Kinder abhielt, war Cem der Rädelsführer dieser unheimlich schwer zu handelnden Drittklässler. Immer wenn ich es geschafft hatte, diese Gruppe wieder unter Kontrolle zu bringen, ließ sich Cem einen, wenn auch kreativen Streich einfallen. Die Gruppe geriet wieder völlig außer Kontrolle.
Welche pädagogische Strategie haben Sie eingeschlagen?
Esmailzadeh: Ich habe mich mit ihm in Ruhe unterhalten und ihn gefragt: Warum verhältst Du Dich so? Du bist doch eigentlich ein smarter Junge. Wenn Du so weiter machst, wirst Du nie den Übertritt auf die Realschule, geschweige denn auf das Gymnasium schaffen. Cem sagte nach langem Schweigen einen Satz, der mir das Blut in den Adern gefrieren ließ: Das Lernen bringt doch für mich eh nichts. Meine Eltern sagen immer: Ausländer-Kinder schaffen es nicht aufs Gymnasium. Aus mir wird nichts.
Das hat Sie schockiert.
Esmailzadeh: Weil ich selbst aus sozial nicht privilegierten Verhältnissen stamme. Mein Vater war Taxifahrer, meine Mutter Verkäuferin in einem Elektronik-Fachhandel. Doch meine Eltern haben mir Überzeugungen und Selbstbewusstsein mitgegeben. Die Eltern von Cem haben ihr eigenes Selbstbildnis auf ihren Sohn übertragen und das gar nicht böse gemeint. Dann habe ich auf Cem eingeredet und von meinem eigenen Weg erzählt, wie ich das Abi geschafft habe und mir mein Studium Spaß macht. Ich habe ihm erklärt, dass man aufsteigen kann, wenn man das will.
Was ist mit Cem passiert?
Esmailzadeh: Irgendetwas hat den kleinen Jungen zum Nachdenken gebracht. Plötzlich saß er ganz vorn in meinem Nachhilfe-Unterricht und hat die anderen Kinder ermahnt, keinen Blödsinn zu machen. Ein Jahr später schaffte er den Übertritt ins Gymnasium. Ich weiß leider nicht, was aus Cem geworden ist. Wenn er dieses Interview zufälligerweise lesen sollte, wäre ich froh, wenn er sich bei mir meldet.
Zur Person: Annahita Esmailzadeh, 30, arbeitet seit 2021 in München für den US-Software-Riesen Microsoft. Zunächst leitete die Münchnerin den Bereich „Customer Success Account Management“ für die Reise- und Transportindustrie sowie für den Energie- und Versorgungssektor. Inzwischen ist die Führungskraft für den Chemie- und Energiebereich zuständig. Vor der Microsoft-Zeit verantwortete die Wirtschaftsinformatikerin als Head of Innovation den Innovationsbereich für das SAP Labs in München. Die IT-Managerin ist Mitherausgeberin und Autorin des Buchs „Gen Z für Entscheider:innen“. Dort geht es um die Generation Z, also Menschen, die zwischen 1995 und 2010 zur Welt gekommen sind. Ihr neues Buch, das gerade erschienen ist, heißt: „Von Quoten-Frauen und alten weißen Männern. Schluss mit Vorurteilen in der Arbeitswelt.“ Annahita Esmailzadeh ist auch eine der führenden Business-Influencerinnen im deutschsprachigen Raum und eine gefragte Kolumnistin, Mentorin und Rednerin.