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Interview: IHK-Hauptgeschäftsführer: "Das deutsche Energieproblem ist ungelöst"

Interview

IHK-Hauptgeschäftsführer: "Das deutsche Energieproblem ist ungelöst"

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    "Es drohen nach wie vor Versorgungsengpässe", sagt IHK-Hauptgeschäftsführer Marc Lucassen. Er sieht viele Baustellen in der Energiepolitik.
    "Es drohen nach wie vor Versorgungsengpässe", sagt IHK-Hauptgeschäftsführer Marc Lucassen. Er sieht viele Baustellen in der Energiepolitik. Foto: Rico Grund

    Herr Lucassen, die Maschinenbauer zeigten sich zuletzt ganz zuversichtlich, das Ifo-Institut erwartet ab dem Frühjahr wieder Wachstum. Kommt die schwäbische Wirtschaft besser durch diese Krise als gedacht?

    Marc Lucassen: Die Perspektive hat sich aufgehellt. In unserer Konjunkturumfrage im Oktober hatten die Unternehmen in Schwaben noch ausgesprochen negative Erwartungen. Der Konjunkturindex war eingebrochen. Jetzt sieht es positiver aus als noch vor zwei Monaten. Das nehme ich in Gesprächen mit Unternehmerinnen und Unternehmern wahr. Trotzdem haben wir es weiterhin mit massiven, langfristigen Strukturproblemen zu tun. Hohe Energie- und Rohstoffpreise, fehlende Arbeitskräfte, Inflation, all dies sind Strukturprobleme, die in der Krise wie unter einem Brennglas zu Tage treten. Wir müssen dafür kämpfen, sie in den Griff zu bekommen.

    Hat die Regierung mit Strom- und Gaspreisbremsen nicht bereits etwas gegen die hohen Energiekosten unternommen?

    Lucassen: Die Gas- und die Strompreisbremse nehmen kurzfristig Druck aus der Situation. Sie werden uns aber mittel- bis langfristig nicht helfen. Das deutsche Energieproblem ist damit nicht gelöst.

    Welche Strategie schlagen Sie mittel- bis langfristig bei der Energie vor?

    Lucassen: Das eigentliche Problem ist doch, dass mit dem Reaktorunglück von Fukushima im Jahr 2011 die damalige Bundesregierung einen Atomausstieg ohne Bedingungen beschlossen hat. Man hat vernachlässigt, dass parallel zum Ausstieg alternative Energieträger aufgebaut werden müssen. Folglich hat uns der Ukraine-Krieg in eine sehr schwierige Situation gebracht. Es drohen nach wie vor Versorgungsengpässe. Die hohen Gas- und Strompreise bleiben mittel- und langfristig ein Problem.

    Machen wir es konkret: Aus welchen Kraftwerken soll unser Strom künftig stammen?

    Lucassen: Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck hat Recht, wenn er sagt, dass in dieser Energiekrise Versorgungssicherheit vor Klimaschutz gehen muss. Dabei müssen wir technologieoffen vorgehen. Alle verfügbaren Kapazitäten müssen jetzt ans Netz! Dazu gehören auch Kohle- und Atomkraftwerke. Es reicht aber nicht, dass man für die drei verbliebenen Atomkraftwerke bislang nur eine Perspektive bis zum nächsten Frühjahr aufzeigt. Die drei Atommeiler müssen so lange weiterbetrieben werden, bis es eine grundlastfähige Alternative gibt. Welche dies sein kann, das müssen Fachleute entscheiden. Die bayerisch-schwäbische Wirtschaft will die Transformation hin zu erneuerbaren Energien, aber man lässt uns nicht...

    Man lässt die Wirtschaft nicht auf erneuerbare Energien wechseln, könnten Sie das erklären?

    Lucassen: Die bayerisch-schwäbische Wirtschaft will auf erneuerbare Energien umsteigen. Es fehlen aber bis heute die dafür notwendigen Stromtrassen zwischen Nord- und Süddeutschland, um die Versorgung zu gewährleisten. Zudem dauert es heute noch immer sieben bis acht Jahre, um ein Windrad in Betrieb zu nehmen. Das ist viel zu lange! Es reicht nicht, die Genehmigungszeit zu halbieren. Nötig ist eine drastische Verkürzung auf ein Zehntel oder ein Zwanzigstel der Zeit. Möglicherweise müssen wir die Genehmigungsverfahren für erneuerbare Energien komplett aussetzen. Bei dem Bau der LNG-Terminals an der norddeutschen Küste haben wir doch gelernt, was in Notsituationen auch hierzulande machbar ist. Was einst Jahre gedauert hätte, war in einem halben Jahr möglich.

    Genehmigungsfreie Verfahren werden aber auf breite Widerstände aus der Anwohnerschaft oder dem Naturschutz stoßen…

    Lucassen: Das ist richtig. Demokratie ist darauf angelegt, dass es Interessenkollisionen und einen anschließenden Interessenausgleich gibt. Dem muss man sich stellen. Zudem werden sich Interessengruppen weiterhin zu Wort melden können.

    Klimaschutz mag nicht die Hauptaufgabe der Industrie- und Handelskammer sein. Aber ist es nicht ein Problem, dass aufgrund immer neuer Krisen der Klimaschutz auf die lange Bank geschoben wird und kaum vorankommt?

    Lucassen: Hier muss ich widersprechen. Wir sind kein Verband der Kohle- oder Atomwirtschaft, ganz im Gegenteil. Wir sind eine demokratisch verfasste Institution. In unserer Vollversammlung gibt es starke Unternehmerstimmen, Klimaschutz voranzubringen. Die bayerisch-schwäbische Wirtschaft fühlt sich den Klimazielen verpflichtet. Auf der anderen Seite müssen wir auch wettbewerbsfähiges Wirtschaften ermöglichen. Deshalb machen wir auf die großen Strukturprobleme aufmerksam. Übrigens: Für generationenübergreifend tätige Familienunternehmen ist Nachhaltigkeit eine Selbstverständlichkeit.

    Wie stehen Sie denn zu den Protesten der Klimaschützer, die sich auch in Bayern zum Beispiel auf Straßen kleben?

    Lucassen: Ich halte es für völlig legitim, dass man sich für seine Interessen legal und öffentlichkeitswirksam einsetzt. Unsere Industrie- und Handelskammer ist aber eine Institution, die ein Gesamtinteresse abbilden muss. Das tun wir durch intensive Diskussion und anschließende Mehrheitsentscheide. Wir müssen Ökologie und Ökonomie zusammenbringen, um Arbeitsplätze und den Lebensstandard halten zu können.

    Sie nannten als großes Strukturproblem auch den Mangel an Fachkräften. Kein Personal in Unternehmen, Ämtern, Kitas ... Wie begegnen wir der Herausforderung?

    Lucassen: Der demographische Wandel kommt so überraschend, wie der Weihnachtsabend jedes Jahr auf den 24. Dezember fällt. Es fehlen mittlerweile nicht nur Fachkräfte, sondern Arbeitskräfte generell: vom hochqualifizierten IT-Entwickler bis zur angelernten Hilfskraft im Lager. Wir müssen an mehreren Stellschrauben drehen. Zunächst haben wir mehr Potenzial im Inland. Eltern könnten zum Beispiel mehr Arbeitszeit investieren, wenn die Öffnungszeiten der Kitas verlängert würden. Zudem könnte man ältere Arbeitnehmer länger in den Arbeitsmarkt integrieren, wenn sie weiter in Teilzeit tätig sind, anstatt gleich in den Ruhestand zu gehen. Darüber hinaus wird vor allem die Industrie über Prozessoptimierung und Automatisierung versuchen, Personal einzusparen. Schließlich wird die gezielte Einwanderung von Arbeitskräften aus Ländern außerhalb Europas wichtiger werden.

    Die Bundesregierung plant ein neues Fachkräfteeinwanderungsgesetz. Wie bewerten Sie es?

    Lucassen: Das neue Fachkräfteeinwanderungsgesetz setzt ein positives Signal. Das wird aber nicht reichen. Wir werden uns ändern müssen. So hat die Bundesrepublik international einen Ruf als Zufluchtsort für Menschen, die vor Krieg und Terror fliehen. Dagegen haben wir bislang kein Image als klassisches Einwanderungsland für Fachkräfte wie etwa die USA, Kanada oder Australien. Es fehlt uns ein System mit entsprechenden Prozessen, um Arbeitskräfte aus Drittstaaten gezielt anzuwerben. Wenig zielführend ist dabei, dass derzeit die Ausstellung von Arbeitsvisa durch die deutschen Auslandsvertretungen viele Monate in Anspruch nimmt. Das muss schneller gehen.

    Wie kann die Einwanderung besser ablaufen?

    Lucassen: Neben einem effizienteren Einwanderungsprozess muss es uns gelingen die Integration zu verbessern. Bei der Industrie- und Handelskammer stehen wir in den Startlöchern, einen Erfahrungsaustausch mit den Arbeitsagenturen, den Ausländerbehörden und den Unternehmen ins Lebens zu rufen. Unser Ziel ist es, die ausländischen Arbeitskräfte langfristig zu halten. Hier spielen Themen wie die Hilfe bei der Wohnungssuche, die Kinderbetreuung, die Schulauswahl oder auch Sportvereine eine Rolle.

    Aus welchen Weltgegenden stellen Sie sich Einwanderung vor?

    Lucassen: Ich denke nicht, dass sich Deutschland die Rosinen herauspicken kann. Im Rennen um die besten Köpfe konkurrieren wir mit namhaften Einwandererländern und anderen europäischen Ländern. Deutschland ist dabei mit Nachteilen behaftet. Deutsch ist international eben keine weit verbreitete Fremdsprache. Potenzial für Arbeitskräfte sehe ich unter anderem in Südostasien und in Afrika.

    Der Krieg Russlands gegen die Ukraine mahnt auch, das Verhältnis zu China zu überdenken. Wie sehen Sie es?

    Lucassen: Ich warne davor, eine wirtschaftliche Entkoppelung von China leichtfertig herbeizureden. China ist ein sehr wichtiger Handelspartner und Rohstofflieferant für uns. Wir können es uns nicht leisten, einseitig aus dem China-Handel auszusteigen. Angesichts der Erfahrungen des Ukraine-Kriegs tun wir aber gut daran, unsere Beziehung zu China mit Augenmaß zu überdenken, sodass wir eine einseitige Abhängigkeit reduzieren.

    Wie könnte das gelingen?

    Lucassen: Dafür ist es nötig, unsere Handelsbeziehungen zu diversifizieren. Alternative Handelspartner gibt es in anderen Teilen Asiens oder auch im südamerikanischen Raum. Hinzu kommen mit uns befreundete Staaten wie Kanada. Es ist wichtig, Handelsabkommen wie Ceta mit Kanada oder Mercosur mit Südamerika voranzutreiben. Wir werden in Zukunft viel stärker geostrategisch denken müssen.

    Erlauben Sie mir einen harten Bruch und einen Blick in die Region: Gegen den Ausbau der B12 zwischen Buchloe und Kempten gibt es inzwischen Klagen. Wie stehen Sie dazu?

    Lucassen: Die bayerisch-schwäbische Wirtschaft ist sehr interessiert daran, dass man an den Planungen für den Allgäu-Schnellweg festhält. Die B12 ist eine wichtige Verkehrsachse in den Süden. Besorgt nehmen wir zur Kenntnis, dass die Baukosten angesichts der verstrichenen Zeit bereits auf geschätzte 400 Millionen Euro gestiegen sind. Die Trasse schmaler zu planen käme einem Neustart des Planungsverfahrens gleich. Das ist ein unkalkulierbares Risiko.

    Eine 28 Meter breite Trasse ist aber wirklich keine Bereicherung für eine Tourismusregion, oder?

    Lucassen: Das Allgäu ist eben nicht nur eine starke Tourismusregion, sondern auch ein wichtiger Produktionsstandort. Im Übrigen: Das Allgäu ist mittlerweile sogar stärker industrialisiert als der Wirtschaftsraum Augsburg. Fehlt den Allgäuer Unternehmen die verkehrstechnische Anbindung, bekommen wir ein Strukturproblem. Darum: Bitte wie geplant festhalten am Ausbau der B12!

    Zur Person: Marc Lucassen, 50, ist seit Januar 2020 Hauptgeschäftsführer der Industrie- und Handelskammer Schwaben. Davor war der geborene Düsseldorfer Leiter der Delegation der Deutschen Wirtschaft in Nigeria. 

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