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Interview: IHK-Chef Lucassen: „Auch unsere Infrastruktur ist überaltet“

Interview

IHK-Chef Lucassen: „Auch unsere Infrastruktur ist überaltet“

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    Die eingestürzte Carolabrücke in Dresden ist Anlass, die Infrastruktur des Landes genauer zu betrachten.
    Die eingestürzte Carolabrücke in Dresden ist Anlass, die Infrastruktur des Landes genauer zu betrachten. Foto: Robert Michael, dpa

    Herr Lucassen, bundesweit gibt es von der Konjunktur seit Monaten keine guten Nachrichten. Schlägt sich Schwaben besser?

    Marc Lucassen: Leider nicht. Wir koppeln uns vom Bundestrend nicht ab. Auch hier herrschen aktuell Stagnation statt Aufbruch, Nullwachstum statt wirtschaftlicher Dynamik. Bundesweit nehmen wir gegenwärtig Besitzstandswahrung statt Veränderungsbereitschaft, politische Zerrissenheit und Radikalisierung statt Vernunft und Sachlichkeit wahr. Dies führt zu Unmut, Sorge und vor allem in der Industrie und im Baugewerbe zur Investitionszurückhaltung. Uns fehlen Wachstumsimpulse. Und darüber müssen wir reden.

    Dabei lief es lange Jahre in Schwaben sehr gut. Es gibt einen Innovationspark in Augsburg, Marktführer im Allgäu und vieles mehr. Ist davon nichts mehr übrig?

    Lucassen: Wir haben eine gesunde Wirtschaftsstruktur und eine große Branchenvielfalt. Die Kapitalausstattung ist gut, die Zahl der Insolvenzen unauffällig. Die wirtschaftliche Struktur in der Region ist tatsächlich nicht unser Problem. Es liegt vielmehr daran, dass die überbordende Bürokratie, die niedrige Inlandsnachfrage, die hohen Energie- und Rohstoffkosten sowie der Arbeits- und Fachkräftemangel jegliche wirtschaftliche Dynamik blockieren.

    Bei Volkswagen spricht man davon, Werke schließen zu wollen, Audi macht den Standort Brüssel dicht. Wie steht es speziell um die Zulieferindustrie in der Region?

    Lucassen: In Deutschland spielt die Automobilindustrie mit 780.000 Beschäftigten und 558 Milliarden Euro Umsatz eine zentrale Rolle. In der Region haben wir im Fahrzeugbau rund 15.000 Beschäftigte. Diese für uns sehr wichtige Industrie leidet unter dem fortschreitenden Strukturwandel hin zur Elektromobilität, unter den hohen Fertigungskosten und den seit Jahresbeginn sinkenden Verkaufszahlen. All dies hat sich seit dem beschlossenen Verbrennerverbot in der EU stark beschleunigt. Fest steht: Der unumkehrbare Weg hin zur E-Mobilität wird am Ende dazu führen, dass in dieser Branche weniger Wertschöpfung in unserer Region stattfinden wird.

    Macht die Politik das Richtige, wenn sie das Verbrennerverbot jetzt wieder infrage stellt?

    Lucassen: Der generelle Trend hin zur E-Mobilität ist weltweit gesetzt. Die Frage ist jedoch: Wie konsequent und planbar gestalten wir diesen Weg? Hier gab es zuletzt keine klare Linie. Es ging rein in die Kartoffeln, raus aus den Kartoffeln. Erst gab es Zuschüsse für Elektrofahrzeuge, dann hat man sie zum Ende des letzten Jahres kurzfristig zurückgenommen.

    Jetzt soll es zumindest wieder eine Förderung für E-Dienstwagen geben...

    Lucassen: Richtig, dieses Hin und Her dient der Sache aber nicht. Uns ist eine strukturierte Transformation der Automobilindustrie wichtig. Generell schadet ein häufiger Wechsel der Rahmenbedingungen. Ich darf an einen vergleichbaren Fall erinnern: Die Bundesregierung wollte das Heizen stärker elektrifizieren und hat dazu ein Gesetz verabschiedet, das den ungewollten Effekt hat, dass heute der Absatz von Gasheizungen größer ist als der von Wärmepumpen. Daran sieht man: Gut gemeint ist noch lange nicht gut gemacht.

    Die Bundesregierung hat ein Wachstumspaket verabschiedet. Bringt dies den ersehnten Schub?

    Lucassen: Grundsätzlich ist es erfreulich, dass sich die Bundesregierung endlich mit der Notwendigkeit wirtschaftlichen Wachstums beschäftigt. 49 Einzelmaßnahmen wie beispielsweise die verbesserten Abschreibungsmöglichkeiten von Investitionen oder die steuerliche Vergünstigung von gezielter Fachkräftezuwanderung sollen zu 0,5 Prozent Wirtschaftswachstum führen. Das begrüßen wir. Allerdings befürchte ich, dass diese Maßnahmen unter dem Strich nicht ausreichen werden, um unsere Wachstumsschwäche zu überwinden.

    Die kommende Bundestagswahl ist nicht mehr so weit weg. Was erwarten sie von einer neuen Regierung?

    Lucassen: Eine Agenda 2030 für wirtschaftliches Wachstum! Unsere konkreten Forderungen orientieren sich an den zentralen Herausforderungen unserer Mitgliedsunternehmen. Natürlich sind manche Probleme geopolitischer Natur und entziehen sich daher unserem Einfluss. Die zentralen Problemfelder jedoch sind hausgemacht und können von der Bundesregierung gelöst werden, vorausgesetzt natürlich, der politische Wille ist vorhanden.

    Was wäre eines dieser Probleme?

    Lucassen: Wir müssen endlich das Problem der Überregulierung und der überflüssigen Berichtspflichten lösen. Auf europäischer Ebene sollte man dazu umgehend die sogenannte Taxonomie für nachhaltige Finanzen und das Energieeffizienzgesetz ersatzlos streichen. Das leidige Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz kann man in allgemeine Verhaltensregeln mit Stichprobenkontrollen pragmatisch umgestalten. Dass die bayerische Staatsregierung ein Modernisierungsgesetz verabschiedet hat, ist in diesem Zusammenhang ein wichtiges Signal. Nun muss es allerdings für die Unternehmen spürbar werden. Dazu stehen wir als IHK mit der Politik und der Verwaltung im engen Austausch. Gemeinsam versuchen wir derzeit Wege zu finden, wie beispielsweise Genehmigungsverfahren und die Zulassung von gewerblich genutzten Fahrzeugen beschleunigt werden können. Um jedoch in der Breite spürbare Entlastungen erreichen zu können, sollten wir unsere sehr hohen Industrie- und Branchenstandards grundsätzlich infrage stellen. Ich behaupte, dass wir in vielen Bereichen ohne nennenswerte Qualitätseinbußen auf das Niveau des Jahres 2010 zurückgehen können. Unsere Standards waren damals schon weltweit führend.

    Dann wäre aber der Verbrennungsmotor wieder dreckiger als heute...

    Lucassen: Das mag im konkreten Fall so sein. Denken wir aber statt an Autos an Gebäudestandards, ergibt sich ein anderes Bild. Glauben wir wirklich, dass im Jahr 2010 der Brandschutz unzureichend war? Mein Eindruck ist jedenfalls, dass wir in vielen Bereichen überzogen haben.

    Was wäre noch ein Punkt für die Wunschliste?

    Lucassen: Wir brauchen Antworten auf den Arbeitskräfte- und Fachkräftemangel. Das Problem ist dabei nicht vorrangig die Zahl der Beschäftigten: in Deutschland haben wir diesbezüglich sogar ein Rekordhoch zu verzeichnen. Das Problem ist vielmehr das zu niedrige Arbeitsstundenaufkommen in unserem Land. Im Ergebnis werden pro Jahr zu wenige Stunden erbracht. Wir müssen daher alles tun, um Anreize für mehr Arbeitsstunden zu setzen. Wir müssen dazu einerseits mehr Menschen in die Erwerbstätigkeit und andererseits mehr Menschen aus der Teilzeit- in die Vollzeitbeschäftigung bringen. Beides kann mit veränderten Steueranreizen und einer Anpassung der Sozialtransfers erreicht werden. Zudem kann man auch dafür sorgen, dass die Frauenerwerbsquote weiter steigt, indem wir endlich mehr Kita- und Kindergartenplätze anbieten. Auch muss man mit Blick auf die Zukunft der gesetzlichen Rentenversicherung über die nicht mehr zeitgemäß ausgestaltete Frühverrentung und das Renteneintrittsalter reden.

    Manche Arbeitnehmer mögen nicht begeistert sein, wenn man ausgerechnet bei Ihnen beginnt, Forderungen zu stellen...

    Lucassen: Aus Sicht des Einzelnen mag das verständlich sein, aber wir stehen vor großen Herausforderungen, die einen gesamtgesellschaftlichen Kraftakt erfordern. Das setzt Veränderungsbereitschaft voraus. Dies gilt übrigens auch für unsere Infrastruktur.

    In Dresden ist in dieser Woche eine Brücke kollabiert. Wie steht es um die Infrastruktur?

    Lucassen: Es gibt einen erheblichen Modernisierungsstau, unter anderem bei Brückenbauwerken. Um zwei Beispiele zu nennen: Eben ist eine Elbbrücke in Dresden eingestürzt, bevor sie komplett saniert werden konnte. Eine Autobahnbrücke der A 45 in Nordrhein-Westfalen war so marode, dass sie unplanmäßig gesperrt und gesprengt werden musste und gerade neu errichtet wird. Den gesamten Verkehr leitet man nun über Jahre mitten durch die 70.000-Einwohner-Stadt Lüdenscheid. Stellen Sie sich bitte eine ähnliche Situation zum Beispiel in Kempten vor. So etwas wie in Dresden oder Lüdenscheid will ich in Bayerisch-Schwaben nicht erleben. Wir müssen aus diesem Grund Investitionen in die Infrastruktur unbedingt verstetigen.

    Wie beurteilen Sie die Verkehrsinfrastruktur unserer Region?

    Lucassen: Etliche Hauptverkehrsachsen wurden in den vergangenen beiden Jahrzehnten ausgebaut oder saniert. Daher hat unsere Region hoffentlich weniger gravierende Mängel. Dennoch gibt es auch in Bayerisch-Schwaben einen Sanierungsstau bei der Verkehrsinfrastruktur. Der eilig notwendig gewordene Neubau der Ackermann-Brücke im Verlauf der B300 in Augsburg vor einigen Jahren oder der notwendige Ersatz für gleich zwei der drei Donaubrücken zwischen Ulm und Neu-Ulm zeigen exemplarisch, dass das Problem der überalterten Infrastruktur auch bei uns existiert. Eine der beiden Brücken, die Adenauer-Brücke, ist nach der A 8 bei Augsburg übrigens die Stelle mit dem zweithöchsten Verkehrsaufkommen in Bayerisch-Schwaben.

    Immerhin soll in die Bahntrasse Ulm-Augsburg investiert werden…

    Lucassen: Ulm-Augsburg ist ein wichtiger Abschnitt auf der Bahn-Magistrale Paris-Budapest. Es freut uns deshalb, dass nach vielen Gesprächen ein Verlauf der Bahntrasse Ulm-Augsburg überwiegend entlang der Autobahn A 8 vorgeschlagen wird. Das entspricht unserer Vorstellung. Nun ist es wichtig, dass die Umsetzung zügig erfolgt.

    Die Infrastruktur bröckelt auch in Schwaben, warnt IHK-Hauptgeschäftsführer Marc Lucassen.
    Die Infrastruktur bröckelt auch in Schwaben, warnt IHK-Hauptgeschäftsführer Marc Lucassen. Foto: Silvio Wyszengrad

    Lassen Sie uns ein anderes Thema anschauen. Die Landtagswahlen in Ostdeutschland haben die politischen Nachrichten der letzten Wochen bestimmt. Wie schätzen Sie die Wahlergebnisse ein?

    Lucassen: Die Ergebnisse der beiden Landtagswahlen haben besorgniserregende Signalwirkung: Die regierenden Parteien der Ampelkoalition auf Bundesebene wurden abgestraft. Die politischen, teils extremistischen Ränder haben stark hinzugewonnen. Das hat auch eine wirtschaftspolitische Dimension. Denn ein zentraler Standortvorteil Deutschlands war über Jahrzehnte hinweg das Zusammenspiel von politischer Stabilität und sozialem Frieden.

    In Thüringen hat die AfD die Mehrheit der Stimmen bekommen, in beiden Ländern startete das Bündnis Sahra Wagenknecht durch… Was macht Ihnen Sorgen?

    Lucassen: Erstens muss uns das Bild Deutschlands in der Welt interessieren. Unsere europäischen Nachbarn horchen angesichts unserer Geschichte bei politischer Radikalisierung sofort auf. Man muss nur die internationale Presse lesen. Als Exportnation können wir es uns nicht leisten, dass wir in der Welt als die hässlichen Deutschen gesehen werden. Die regionale Wirtschaft steht demgegenüber für Weltoffenheit und internationale Kooperation. Zweitens haben in Deutschland inzwischen 27 Prozent der Erwerbsbevölkerung einen Migrationshintergrund. Unsere Unternehmer finden es folglich schädlich, wenn politische Akteure mit Fremdenfeindlichkeit versuchen, die Bevölkerung und damit auch die Belegschaften auseinanderzudividieren. Für mich steht fest: Mit Hass und Hetze, mit Ausländerfeindlichkeit, Antisemitismus und Antiamerikanismus und mit einem überraschend großen Verständnis für den russischen Aggressor löst man kein einziges politisches oder wirtschaftliches Problem in Deutschland. Und drittens bieten die beiden Parteien mit den starken Zugewinnen in Sachsen und Thüringen keine vernünftigen wirtschaftspolitischen Antworten auf unsere Herausforderungen. Das ist übrigens für eine Partei, deren Landesverbände in Thüringen und Sachsen vom Bundesamt für Verfassungsschutz als gesichert rechtsextrem eingestuft werden, nicht verwunderlich…

    Also die AfD…

    Lucassen: Diese Akteure verfolgen wirtschaftspolitische Geisterfahrerideen wie den Austritt aus der Europäischen Union oder die Abschottung gegenüber unseren europäischen Nachbarn. Das schadet der Wirtschaft. Nur so ist auch zu verstehen, dass der Thüringer Spitzenkandidat die Dreistigkeit besitzt, denjenigen Mittelständlern, die die Vielfalt ihrer Belegschaften positiv betonen, den wirtschaftlichen Niedergang zu wünschen. Das geht sogar so weit, dass er die regionale Wirtschaft zum Schweigen bringen will. Mit Verlaub: Unsere Mittelständler und wir als Wirtschaftsvertreter lassen uns nicht den Mund verbieten – und schon gar nicht von einem Rechtsextremen.

    „Es herrscht aktuell Stagnation statt Aufbruch, Nullwachstum statt wirtschaftlicher Dynamik“, warnt Marc Lucassen, Hauptgeschäftsführer der IHK Schwaben. „Darüber müssen wir reden.“
    „Es herrscht aktuell Stagnation statt Aufbruch, Nullwachstum statt wirtschaftlicher Dynamik“, warnt Marc Lucassen, Hauptgeschäftsführer der IHK Schwaben. „Darüber müssen wir reden.“ Foto: Ulrich Wagner

    Zur Person

    Marc Lucassen, 52, ist seit Januar 2020 Hauptgeschäftsführer der Industrie- und Handelskammer Schwaben. Er ist studierter Chemiker, hat in Betriebswirtschaftslehre promoviert und leitete von 2016 bis 2018 die Delegation der Deutschen Wirtschaft in Nigeria.

    Lassen Sie uns noch einen Blick auf den Handel werfen. Lange war der Export nach China auch ein Zugpferd für die schwäbische Industrie. Ist dies noch der Fall? China ist ja selbst in schwierigen wirtschaftlichen Gewässern, wir werden aber auch als Handelspartner kritischer gesehen.

    Lucassen: Bayern hat zuletzt 121 Milliarden Euro in die EU exportiert, gefolgt von den USA mit 28 Milliarden Euro und China mit 17 Milliarden Euro. Das zeigt, dass China nach wie vor wichtig ist, trotz der Debatte um eine mögliche Abkopplung. Wir haben ein wirtschaftliches Interesse, den chinesischen Markt noch lange weiter zu bedienen. Das China Competence Center der IHK Schwaben leistet hier wertvolle Unterstützung. Unsere Unternehmen versuchen aber auch, in südostasiatischen Nachbarländern Niederlassungen aufzubauen, sollte es tatsächlich zu einem Konflikt zwischen China und Taiwan kommen. Die Statistik zeigt aber noch etwas anderes…

    Nämlich?

    Lucassen: Die EU ist für uns der mit Abstand wichtigste Exportmarkt. Der europäische Binnenmarkt ist das Pfund, mit dem wir wuchern müssen. Durch den Abbau von Handelshemmnissen, beispielsweise bei Dienstleistungen, können wir ein großes Potential heben.

    Sie scheinen nicht nur schwarz zu sehen?

    Lucassen: Ich bin optimistisch, was die wirtschaftliche Entwicklung betrifft, wenn wir in Deutschland den Mut zur Veränderung haben. Mit der unbürokratischen Errichtung von Gasterminals an der norddeutschen Küste haben wir doch gezeigt, dass es möglich ist. Positiv stimmt mich zudem, dass unsere Region durch eine gesunde Wirtschaftsstruktur mit hoher Innovationskraft geprägt ist, dass unsere Unternehmerschaft durch ihre regionale Verbundenheit, ihr großes ehrenamtliches Engagement und eine große Ausbildungsbereitschaft gekennzeichnet ist. Und dass sich die IHK Schwaben durch ein konstruktives Miteinander von Haupt- und Ehrenamt auszeichnet. Wirtschaft beginnt eben mit „wir“.

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