Herr Hofmann, der Ökonom Gabriel Felbermayr sagt, die 30 glorreichen Jahre der Globalisierung seien vorbei. Müssen wir uns jetzt warm anziehen?
Jörg Hofmann: Ob diese 30 Jahre für alle so glorreich waren, möchte ich bezweifeln. Denn in den 30 Jahren hat auch die soziale Ungleichheit zugenommen, darüber kann das Wachstum in vielen Schwellenländern nicht hinwegtäuschen. Einerseits zeichnet sich in gewisser Hinsicht eine De-Globalisierung ab, vor allem eine Entkopplung der beiden großen Wirtschaftsmächte USA und China. Dabei steckt Europa in der Schraubzwinge. Güterströme werden tendenziell zurückgehen. Andererseits schreitet die Globalisierung an den Finanzmärkten und im weltweiten Wissens- und Innovationsaustausch voran.
Drohen Deutschland in den nächsten Jahren als Folge des Kriegs in der Ukraine Wohlstandsverluste?
Hofmann: Während dieser von Professor Felbermayr beschworenen 30 glorreichen Jahre der Globalisierung hat Deutschland von vergleichbar günstigen Energie-Importen profitiert. Ein Teil unseres Wohlstands geht darauf zurück, dass wir Energie und Rohstoffimporte hierzulande zu werthaltigen Produkten für den Weltmarkt veredelt haben.
Doch die Preise für Energie und Rohstoffe sind explodiert.
Hofmann: Deshalb steht dieses deutsche Geschäftsmodell gehörig unter Druck. Wir werden vermutlich in den nächsten Jahren infolge des Kriegs in der Ukraine wirtschaftlich nicht so stark wachsen, wie wir das könnten.
Wächst die Gefahr, dass wir in eine Rezession abstürzen?
Hofmann: Sie wächst mit jedem Tag des Krieges in der Ukraine – und das bei wohl weiter steigenden Preisen. Das ist eine teuflische Kombination. Die Erfahrung der Stagflation, etwa in den 1970er Jahren, zeigt uns: Es wird schwer, sich aus einer solchen Lage wieder rauszuarbeiten.
Deswegen warnt Gesamtmetall-Präsident Stefan Wolf schon davor, auf diese prekäre Lage noch Lohnkostensteigerungen draufzusetzen. Das werde vielen Betrieben das Genick brechen.
Hofmann: Die IG Metall wird in der Tarifrunde in der Metall- und Elektroindustrie im Herbst auf die gestiegene Inflation lohnpolitisch reagieren. Unsere Beschäftigten erwarten, dass es nicht nur eine Einmalzahlung gibt, sondern Lohnerhöhungen in die Entgelttabellen eingehen. Ehe die Metall-Tarifrunde im Herbst beginnt, werden wir in der schon jetzt anlaufenden Stahl-Tarifrunde mit einer ordentlichen Prozentzahl ins Rennen gehen. Wir müssen im Herbst auch dagegensteuern, dass die Beschäftigten der Metall- und Elektroindustrie Kaufkraft verlieren und damit einer Rezession durch massive Nachfrageeinbrüche Vorschub leisten.
Doch vielen Betrieben geht es schlecht.
Hofmann: Vielen Unternehmen gelingt es, die erhöhten Rohstoff- und Energiepreise auf ihre Kunden abzuwälzen. Deswegen geht es vielen Firmen bilanziell gut. Natürlich gibt es auch einzelne Unternehmen mit weniger Marktmacht, die unter der Lage ächzen, weil sie die Preise nicht erhöhen können. Dazu zählen etwa viele Gießereien. Solche Betriebe leiden ähnlich unter der Inflation wie private Haushalte.
Muss die Bundesregierung die Bürgerinnen und Bürger finanziell deutlicher entlasten?
Hofmann: Nicht nur wir, die Tarifparteien, sind gefordert, die Teuerungsrate in der Tarifrunde durch Lohnerhöhungen auszugleichen. Auch der Staat muss dazu beitragen, die Teuerungsrate nach unten zu drücken und sozialen Ausgleich zu schaffen. So gehen allein 2,5 Prozent der Inflation von zuletzt 7,3 Prozent auf die hohen Gaspreise zurück. Wir appellieren an die Bundesregierung, die Steuern auf Strom und Gas befristet zu senken. Und wir fordern einen Gaspreisdeckel bis zu einem durchschnittlichen Jahresverbrauch von 8000 Kilowattstunden je Haushalt. Außerdem verlangen wir ein sozial gerechtes Mobilitätsgeld statt einer pauschalen Erhöhung der Pendlerpauschale, die Menschen mit höherem Einkommen bevorteilt.
Die wirtschaftliche Lage ist so unsicher, dass eine Verschiebung der Metall-Tarifrunde auf das kommende Jahr ein Ausweg sein könnte.
Hofmann: Im Gegensatz zu Unternehmen haben Haushalte keine Chance, die Mehrbelastung durch die gestiegenen Preise weiterzureichen. Wenn die Rechnungen kommen, müssen sie bezahlt werden. Ich bin gegen eine Verschiebung der Tarifrunde.
Was passiert, wenn Putin uns das Gas abdreht oder wir aus Protest gegen immer neue Kriegsverbrechen auf das Putin-Gas verzichten?
Hofmann: Der Anteil russischen Gases an unserer Energieversorgung ist sehr hoch. Das lässt sich nicht schnell ersetzen – weder durch erneuerbare Energiequellen noch durch Gas aus anderen Ländern der Welt. Frühestens in vier bis fünf Jahren könnten wir das russische Gas durch Flüssiggas aus den USA und dem arabischen Raum kompensieren. Dafür müssten erst einmal zusätzliche Tanker gebaut werden, um das Gas zu uns zu bringen.
Ökonomen halten es aber für möglich, dass wir auf Putins Gas verzichten.
Hofmann: Nehmen wir nur einmal die Stahlindustrie: Wenn wir die Hochöfen nach einem Gas-Stopp runterfahren müssten, hätten wir ein großes Problem nicht nur in der Stahlindustrie. Zwar könnten wir theoretisch dann noch Baustahl aus China beziehen, aber die Stahllieferungen für unsere Maschinen- und Fahrzeugbauer sind nicht schnell ersetzbar. Weil Stahlwerke auch noch Fernwärme in die Netze einspeisen, würden zudem zahllose Wohnungen und Häuser kalt bleiben.
So sitzen wir in Putins Gas-Falle.
Hofmann: Wir sitzen dort, wo wir uns über Jahrzehnte hinbewegt haben. Aus der Situation kommen wir auf die Schnelle nicht raus, außer wir nehmen extreme, langfristig wirkende Schäden in Kauf.
Können wir es uns angesichts der russischen Gräueltaten noch moralisch leisten, Gas aus Russland zu beziehen?
Hofmann: Auch ich bin angesichts des russischen Aggressionskriegs innerlich zerrissen. Doch bei nüchterner Betrachtung kommt man zu dem Schluss: Ein Verzicht auf russisches Gas schadet Deutschland mehr als Russland. Und dieser immense Schaden für alle Bürger und unsere Volkswirtschaft schmälert auch unseren finanziellen Spielraum, die Ukraine in Zukunft, etwa beim wirtschaftlichen Wiederaufbau, zu unterstützen.
Was macht man nun als Pazifist zu Ostern? Auf die Zähne beißen, rational denken und weiter Russen-Gas nutzen? Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter nehmen ja als Friedensbewegte auch an Ostermärschen teil.
Hofmann: Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter waren von Anfang an mit auf der Straße, um gegen den Krieg zu demonstrieren und ihrem Abscheu gegen den völkerrechtswidrigen Angriff Putins Ausdruck zu geben. Es muss einen Waffenstillstand geben, jetzt! Russland muss die territoriale Integrität der Ukraine anerkennen. Ein sofortiger Stopp der russischen Gaslieferungen würde allerdings zu einer weiteren tiefen wirtschaftlichen und sozialen Spaltung Deutschlands führen. Wie in der Pandemie zahlen dann vor allem die kleinen und mittleren Haushalte die Zeche. Wir müssen als Gesellschaft aber zusammenhalten.
Zur Person: Jörg Hofmann, 66, steht seit 2015 als Chef der Gewerkschaft IG Metall vor. Der Diplom-Ökonom war von 2003 bis 2013 Bezirksleiter der IG Metall Baden-Württemberg.