Herr Professor Fuest, die Wirtschaft schlägt sich besser als erwartet. Fällt die befürchtete Rezession dieses Jahr aus?
Clemens Fuest: Zu einer Rezession im Sinne einer deutlichen Schrumpfung der Wirtschaftsleistung wird es nach aktueller Datenlage nicht kommen.
Was sind die Gründe?
Fuest: Hauptgrund ist, dass es nicht zu einer Gasmangellage gekommen ist. Wir hatten in diesem Winter Glück bei den Temperaturen, außerdem tragen die neuen LNG-Terminals dazu bei, dass es bei der Gasversorgung und den Energiepreisen besser läuft als befürchtet. Es muss zwar weiter Gas gespart werden. Weil die Gasspeicher aber noch recht voll sind und es die LNG-Terminals gibt, haben wir eine Chance, auch gut durch den nächsten Winter zu kommen. Inzwischen wird diskutiert, ob wir nicht zu viele LNG-Terminals haben. Wenn wir nächsten Winter nicht frieren wollen, haben wir nicht zu viele. Wir werden noch sehr viel Gas brauchen. Ein Hoffnungsfaktor für die Konjunktur ist auch, dass in China die Probleme mit der Corona-Pandemie bald überwunden werden. Bei den Lieferproblemen für Güter und Vorprodukte zeichnet sich eine leichte Entspannung ab.
Welche Erwartungen hat Ihr Institut an das Wachstum in diesem Jahr?
Fuest: Wir erwarten dieses Jahr eine leichte Schrumpfung, eine Rote Null. Das ist nicht berauschend, denn wir kommen ja von einem extrem niedrigen wirtschaftlichen Niveau nach der Corona-Krise.
Welche Folgen haben die hohen Energiepreise für die Unternehmen?
Fuest: Das hängt von der Branche ab. In der chemischen Industrie oder der Papierindustrie reichen die drastischen Folgen der Gasknappheit bereits von der Schließung der Produktion in Bereichen der chemischen Industrie bis zur Umstellung auf andere Brennstoffe. Kurzfristig ist das ja richtig, es muss Gas gespart werden. Die interessante Frage ist, wie es mittelfristig weitergeht. Die Unsicherheit in der Energieversorgung ist für viele Unternehmen ein Problem.
Besteht also die Gefahr einer Deindustrialisierung oder ist es nur eine Worthülse?
Fuest: Die Gefahr einer Deindustrialisierung Deutschlands besteht. Bereits vor der Ukraine-Krise hatten wir Probleme. Die deutsche Industrie ist im Vergleich zu anderen Ländern in den letzten Jahren zurückgefallen. Ein Grund war der Produktionsrückgang in der Autoindustrie durch den Diesel-Skandal und die Umstellung auf E-Mobilität. Die Frage ist, was an ihre Stelle tritt. Die Bedingungen für die Entstehung neuer Industrien haben sich in Deutschland stetig verschlechtert, auch am Arbeitsmarkt.
Was passiert am Arbeitsmarkt?
Fuest: Wir werden eine Verknappung an Arbeitskräften bekommen, weil viele Menschen in den Ruhestand gehen und wenig nachwachsen. Das bedeutet starken Gegenwind für das Wirtschaftswachstum. Derzeit wird obendrein diskutiert, ob man den Wehrdienst wieder einführen soll. Das würde das Fachkräfteproblem verschärfen.
Wie ließen sich die Bedingungen für den Standort Deutschland verbessern?
Fuest: Wir brauchen ein Maßnahmenbündel. Deutschland hat die höchste Steuerlast unter den großen Industrieländern. In der Klimapolitik müssen wir unsere Instrumente besser auf das wirkliche Problem ausrichten. Bisher ist das Emittieren von CO2 recht günstig, Strom aber mit hohen Steuern belastet, den wir für E-Autos und Wärmepumpen wollen. Wir müssen Strom von Steuern entlasten und auf eine stärkere Besteuerung von CO2-Emissionen umstellen. Wir brauchen auch dringend einen Plan für die Weiterentwicklung der Energieversorgung. Denn ohne gesicherte Energieversorgung wird die Industrie abwandern.
Weshalb sehen Sie die Energieversorgung nicht als gesichert an?
Fuest: Deutschland ist ein Land mit einer extremen energiepolitischen Strategie. Keine Kernkraft, ab 2030 keine Kohle. Für eine Übergangszeit Gas, langfristig nur noch erneuerbare Energien und Wasserstoff, der zu einem großen Teil aus fernen Ländern importiert werden soll. Das könnte technisch funktionieren. Der Aufbau dieses neuen Energiesystems, falls es jemals funktioniert, wird aber Jahrzehnte brauchen.
Weshalb so lange?
Fuest: Erneuerbare Energie aus Wind und Sonne nahm vor rund 30 Jahren Fahrt auf. Inzwischen deckt Deutschland gut 15 Prozent des Primärenergieverbrauchs mit erneuerbarer Energie. Bis zur Klimaneutralität fehlen aber noch 85 Prozent, die wir in der Hälfte der bisherigen Zeit, bis 2045, schaffen wollen! Bayern will es sogar bis 2040 erreichen. Ich denke, wir haben die Dimension der Aufgabe unterschätzt, auch wenn wir erneuerbare Primärenergie effizienter nutzen. Die Frage ist, worauf wir in der Zwischenzeit zurückgreifen, wenn Sonne nachts nicht zur Verfügung steht oder im Winter eine Dunkelflaute herrscht.
Was könnte die Brücke für wind- und sonnenarme Zeiten sein ...?
Fuest: In Zukunft soll Wasserstoff dafür eine zentrale Rolle spielen. Wie erwähnt, wird es aber lange dauern, bis wir soweit sind. Bis zum Ukraine-Krieg war die Idee, in den nächsten Jahren Gaskraftwerke massiv auszubauen, die diese Aufgabe übernehmen. Diese Brücke in eine Zukunft mit ausschließlich erneuerbaren Energien ist durch das Ende der Gasimporte aus Russland in Frage gestellt.
Welche Alternativen sehen Sie für Gaskraftwerke, in die derzeit kaum einer investieren mag?
Fuest: Eine Option ist es, sich im Atomausstieg umzuentscheiden und die Kernkraftwerke doch länger laufen zu lassen. Brennstäbe ließen sich sicher beschaffen, beim Personal wird es schwieriger. Der Bau neuer Kernkraftwerke könnte jenseits 2030 helfen. Eine zweite Option ist es, mit Fracking in Deutschland der Brückentechnologie Gas mehr Glaubwürdigkeit zu verleihen. Ich habe allerdings gelernt, dass es besser ist, von heimischer Schiefergasförderung zu sprechen.
Fracking ist nicht sehr beliebt ....
Fuest: Jeder freut sich, dass Strom aus der Steckdose kommt. Fracking aber ist politisch nicht gewollt, das sollen andere machen, und wir importieren dann LNG. Deshalb glaube ich, dass es in der Übergangszeit zu etwas ganz anderem kommt.
Mit welcher Brückentechnologie rechnen Sie?
Fuest: Ich denke, wir werden bei den Kohlekraftwerken bleiben. Ich sehe nicht, wie wir es schaffen sollen, bis 2030 aus der Kohle auszusteigen, zumal der Strombedarf durch Elektromobilität und Elektrifizierung industrieller Prozesse deutlich steigt. Für den Klimaschutz ist das kein guter Weg. Hoffentlich sind wir so klug, die "Carbon Capture and Storage"-Technologie zu nutzen, das CCS. Dabei wird das bei der Kohleverbrennung entstehende Klimagas CO2 abgefangen und gespeichert.
In der EU gibt es derzeit auch große Sorgen, dass die umgerechnet 350 Milliarden Euro an Subventionen aus dem Inflation Reduction Act von US-Präsident Joe Biden zum großen Nachteil für die heimische Industrie werden. Wie groß ist die Gefahr?
Fuest: Der Inflation Reduction Act wird in Europa zu einseitig wahrgenommen. Den Subventionen stehen nämlich auch höhere Steuern für Unternehmen gegenüber. Profitieren werden in den USA Industrien, die ganz bestimmte Produkte für den Klimaschutz, wie Wärmepumpen, Solarzellen oder Batterien, herstellen. Ich halte es aber für falsch, wenn Europa nun in einen Subventionswettlauf um den Bau von einzelnen Batterie- oder Solarzellenfabriken mit etablierter Technologie eintritt. Es spricht viel dafür, dass diese Fabriken sowohl aus den USA als auch aus Europa wieder abwandern werden, wenn die Subventionen auslaufen. Es ist sinnvoller, Forschung, Entwicklung und Produktion mit innovativen Technologien zu fördern. Bei Industriesubventionen kann man viel falsch machen. Frankreich hat einst viel Geld in die Entwicklung der Concorde gesteckt, das Überschallflugzeug hat sich als Sackgasse erwiesen.
In welche Zukunftstechnologien würden Sie in Europa investieren?
Fuest: Förderung von Forschung und Entwicklung sollte breit ansetzen, weil heute niemand weiß, bei welchen Technologien Europa Wettbewerbsvorteile entwickeln kann. Bei einigen Technologien ist allerdings absehbar, dass wir sie brauchen. Wir werden Wasserstoff benötigen, wir werden auf besser ausgebaute und effizientere Stromnetze und Strommärkte angewiesen sein.
Ein anderes Thema: Die Inflation nagt an der Kaufkraft. Welche Erwartungen haben Sie für dieses Jahr?
Fuest: Am Ifo-Institut rechnen wir weiter mit einer hohen Inflation von 6,4 Prozent im Jahr 2023. Wir sehen, dass die Kerninflation ohne Nahrungsmittel- und Energiepreise derzeit sogar steigt. Weiterer Inflationsdruck könnte entstehen durch hohe Lohnabschlüsse. Derzeit liegen hohe Lohnforderungen auf dem Tisch, bei der Post zum Beispiel 15 Prozent. Viele Menschen richten sich auf eine steigende Inflation ein. Das ist gefährlich für die Notenbanken, weil es dadurch schwerer wird, die Inflation in den Griff zu bekommen. Noch ist deshalb klar, dass die Zinsen weiter hoch müssen. Der Inflationsdruck wird so schnell nicht verschwinden. Auf zwei Prozent wird die Inflation so bald nicht runtergehen.
Greifen die Zinserhöhungen der EZB?
Fuest: Die Zinsen werden ihre Wirkung entfalten, sichtbar ist das bereits in der Bauindustrie. Die hohen Zinsen sind neben hohen Baupreisen Hauptgrund dafür, dass die Nachfrage stark zurückgegangen ist. Immobilienunternehmen haben viele Projekte auf Eis gelegt. Ein Projekt, das sich bei einem Prozent Zins rentiert hat, ist bei drei oder vier Prozent häufig nicht mehr interessant.
Dass die Zinsen die Wohnbautätigkeit bremsen, ist für Deutschland ein großes Problem, schließlich ist die Nachfrage nach Wohnraum groß, derzeit vor allem für Flüchtlinge, aber sie werden auch für Fachkräfte gebraucht, die die Regierung im Ausland anwerben will …
Fuest: In vielen Regionen besteht tatsächlich erheblicher Wohnungsbedarf. Das Problem wird dadurch verschärft, dass die Politik gerne die Mieten reguliert, statt zum Beispiel Wohngeld zu zahlen. Der Extremfall ist der Mietendeckel in Berlin. Falls man die Mieten steigen ließe, wäre auch mehr Wohnraum frei, weil zum Beispiel Alleinstehende aus für sie zu großen Wohnungen ausziehen oder mehr investiert wird. Ein großes Problem ist auch die zu zögerliche Ausweisung von Bauland.
Zur Person: Clemens Fuest, 54, ist Chef des Ifo-Instituts in München. Wir haben mit ihm auf dem 49. Konjunkturgespräch der Industrie- und Handelskammer Schwaben und der Universität Augsburg gesprochen.