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Interview: Ex-Siemens-Chef Joe Kaeser lobt jetzt auch Armin Laschet

Interview

Ex-Siemens-Chef Joe Kaeser lobt jetzt auch Armin Laschet

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    Der frühere Siemens-Chef Joe Kaeser ist ein politischer Mensch.
    Der frühere Siemens-Chef Joe Kaeser ist ein politischer Mensch. Foto: Matthias Balk (Archivbild)

    Herr Kaeser, der 14. Mai 2021 war für Sie ein besonderer Tag.

    Joe Kaeser: Naja, besonders. Das war der 100 Tag, nachdem ich als Siemens-Vorstandsvorsitzender ausgeschieden bin . Ich habe das zum Anlass genommen, auf LinkedIn Bilanz zu ziehen. Normalerweise geht es ja um die Bilanz nach 100 Tagen in einem neuen Amt, aber niemand sagt, wie es eigentlich ist, wenn man ausscheidet.

    Wie ist Ihre spezielle 100-Tage-Ausstiegsbilanz ausgefallen?

    Kaeser: Ich habe mir gedacht: Ich bin ein glücklicher Mensch, ein glücklicher Großvater, ein interessierter Weltbürger und ein engagierter Aufsichtsrat. Das ist schon sehr privilegiert. Und ich habe erkannt, dass ich doch gut loslassen kann. Ich bin mit mir im Reinen.

    Und wohl auch mit der Grünen-Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock. Sie attestieren der Politikerin, „die größte Glaubwürdigkeit für eine nachhaltige und langfristige Erneuerung zu haben“. Das wurde dahingehend interpretiert, Sie würden vehement für Baerbock werben. Ist Joe Kaeser ein Grüner?

    Kaeser: Ich werbe deshalb nicht schon vehement für Frau Baerbock. Ich habe vielmehr gesagt: Ich halte alle drei Kanzlerkandidaten, also Frau Baerbock, Herrn Laschet und Herrn Scholz, für gut geeignet für das Amt. Aus unterschiedlichen Gründen. Aber wenn Sie die Naturkatastrophen sehen, die uns gerade ereilen – auch in unserem Land –, dann wird doch wohl hoffentlich dem letzten Zauderer klar, dass wir ein Klimaproblem haben. Alle Parteien thematisieren das inzwischen – nur eine davon hat es eben bisher auch wirklich gemacht. Das meine ich mit Glaubwürdigkeit.

    Sie haben Frau Baerbock besonders gelobt und festgehalten, dass die Politikerin Sie, was ihre Auffassung und ihr Interesse betrifft, an Noch-Kanzlerin Angela Merkel erinnere.

    Kaeser: Frau Baerbock hat für mich das größte Potenzial, auch wenn sie bisher von einer Panne in die andere gestolpert ist. Einiges davon hätte einfach nicht passieren dürfen. Auch wenn es nur um politische Randbereiche geht. Andererseits frage ich mich echt, wenn ich die schrecklichen Bilder und menschlichen Tragödien aus Nordrhein-Westfalen und überhaupt in unserem Land sehe, wie wichtig es ist, sich mit fehlenden Fußnoten für ein Buch aufzuhalten.

    Was müsste vielmehr passieren?

    Kaeser: Wenn die Sicherheit unserer Bürger, deren Zukunft und Habseligkeiten in Gefahr sind, dann sollten wir wirklich andere Prioritäten haben: Wer kann staatliche und soziale Ordnung, Ökologie und die von unternehmerischem Erfolg abhängige Marktwirtschaft zusammenbringen? Also eine sozialökologische Marktwirtschaft bauen. Dieser Anspruch und das Engagement von Frau Baerbock dafür verdient Respekt, weil sie gewillt erscheint, langfristig die notwendigen Veränderungen herbeizuführen.

    Auf Langfristigkeit zu setzen, ist ein hartes Brot in der Politik, spielen doch Stimmungen eine große Rolle. Können Manager ein Unternehmen leichter reformieren als Politiker ein Land?

    Kaeser: Politiker haben es nicht leicht. Sie sind im Gegensatz zu Unternehmen auf Mehrheiten angewiesen, sonst können Gesetze, also Reformen, nicht beschlossen werden. Unternehmen hingegen können schneller handeln, ohne demokratische Mehrheiten im gesamten Unternehmen organisieren zu müssen. Entscheidungen erfahren hier oft im Nachhinein durch Erfolg ihre Legitimation. Ein Manager kann sagen: Hier stehe ich und ich kann nicht anders und zieht dann sein Ding durch. Das ist in der Politik viel schwerer. Die Agenda 2010-Revolution, zum Beispiel, fraß ihr Kind.

    Sie haben Siemens als Vorstandschef radikal umgebaut und die Medizin- wie die Energietechnik abgespalten und an die Börse entlassen. Wäre Siemens ein demokratisches Land, hätten Sie ähnlich verfahren können?

    Kaeser: Ich glaube nicht, dass wir 2018 im Vorstand und Aufsichtsrat von Siemens, ja schon gar nicht im Unternehmen, eingangs auf einer demokratisch-mehrheitlichen Basis unser Strategiekonzept Vision 2020+, also unsere Vorstellungen von einer historisch tiefgreifenden Neuordnung des Konzerns, hätten umsetzen können. Entscheidend war, dass Aufsichtsratschef Jim Hagemann Snabe die Umbaupläne entscheidend unterstützt hat. Natürlich gab es im Unternehmen damals viele Bedenken gegen die Pläne – und auch zu Recht. Wenn Siemens ein Land wie Deutschland wäre, dann wäre heute vieles anders, weil ich meine Reformvorstellungen nicht hätte durchsetzen können. Dann stünde Siemens – ohne zu übertreiben – viel schlechter da. Das Unternehmen wäre dann für die Zukunft nicht so gut aufgestellt wie heute. Das sehen inzwischen auch sehr viele so.

    Wie können Sie das belegen?

    Kaeser: Etwa an der sehr positiven Entwicklung der Medizintechnik nach der Verselbstständigung und dem Börsengang. So konnte das Unternehmen den großen, auf Strahlentherapie spezialisierten US-Anbieter Varian übernehmen. Das wäre in der alten Siemens-Struktur nicht möglich gewesen. Früher führte die Siemens Medizintechnik in dem Konglomerat eine Existenz am Rande des Konzerns – und das, obwohl der Bereich extrem ertragreich war und ist. Heute ist die Siemens Medizintechnik an der Börse höher bewertet als so renommierte Marken wie Bayer oder BMW und in etwa so hoch wie Industrie-Ikonen wie BASF. Basisdemokratisch hätten wir das bei Siemens so nicht hinbekommen. Die Politik hat es also nicht leicht.

    Frau Baerbock hat es auch nicht leicht. Sie muss sich heftiger Kritik an ihrem Buch erwehren und steht unter Plagiatsverdacht. Auch in ihrem Lebenslauf passt nicht alles. Haben Sie Mitleid mit der Politikerin?

    Kaeser: Wieso sollte ich Mitleid haben? Das ist eben das politische Geschäft. Wer in unserem Land die operative Nummer eins werden will, muss damit umgehen können. Sie muss jetzt zeigen, wie man wieder aus einer solchen Krise rauskommt. Für unser Land gibt es wichtigere Themen als die Feststellung, dass in ihrem Buch Passagen verwendet wurden, die von anderen klugen Menschen stammen.

    Aber wie verhält es sich mit dem ungenauen Lebenslauf und der Nachmeldung von Einkünften bei Frau Baerbock?

    Kaeser: Das war schlicht schlampig und darf nicht mehr passieren. Jeder Mensch – auch Bundeskanzler und Kandidatinnen sowie Kandidaten für das Amt – machen Fehler und müssen daraus lernen. Verglichen mit den widerlichen Corona-Masken- und Schutzkleidungsaffären wird dann aber auch vieles leichter. Das Problem für Frau Baerbock ist gerade, dass die meisten Bürger die Debatte um Einkünfte, Lebenslauf und Buch besser verstehen als die Kernfragen der sozial-ökonomischen Marktwirtschaft. Politik ist ein hartes Brot. Ich bin jedenfalls froh, dass wir drei gute Kanzlerkandidaten haben.

    Drei gute? Steht Ihnen Frau Baerbock nicht doch am nächsten?

    Kaeser: Ich kenne alle drei Kandidaten sehr gut. Und ich bleibe dabei: Alle drei sind respektable Bewerber um das Kanzleramt. Herr Laschet besitzt eine ungemein große Integrationsfähigkeit. Wer mit einer Stimme Mehrheit erfolgreich ein schwieriges Land wie Nordrhein-Westfalen führt, der kann deeskalieren und befrieden. Das könnte in den künftigen Koalitionskonstellationen wichtig werden.

    Deeskalieren ist ja auch in einem Unternehmen wichtig.

    Kaeser: Wenn der Druck von außen auf einen Vorstandsvorsitzenden kommt, etwa von Hedgefonds, Aktionären oder Medien, darf ein guter Manager eines nicht tun, nämlich den Druck nach unten weitergeben und ihn so verstärken. Man muss den Druck dann als Manager auffangen, im Zweifel auf sich ziehen und die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter schützen. Ich hatte das zum Beispiel damals bei diesem unseligen Adani-Kohleminen-Projekt in Australien gemacht.

    Sie fühlen sich intensiv in Politiker ein, wo doch Managern oft vorgehalten wird, Sie brächten kein Verständnis für Politiker und die Langsamkeit von Reformprozessen auf.

    Kaeser: Politische Beziehungen gehörten zu meinem Job. Und ich habe ein Unternehmen mit fast 400.000 Mitarbeitern geführt, das ist mehr als manche Großstadt. Siemens war über 40 Jahre meine unternehmerische Heimat. Ich habe zwei Drittel meines Lebens bei Siemens verbracht und habe eine starke emotionale Bindung an das Unternehmen. Das ist schon eine Parallele zur Politik. Und: In früheren Zeiten habe ich im Konzern auch viele Abgründe gesehen.

    Sie meinen sicher die Siemens-Schmiergeld-Affäre.

    Kaeser: Ja, die Compliance-Krise der Jahre 2006 und 2007. Da habe ich Abgründe gesehen, auch was die Charaktere von Menschen betrifft. Auch die Jahre zwischen 2010 und 2013 waren eine harte Zeit für Siemens. Uns ist es nicht gelungen, die Compliance- und die Finanzmarktkrise abzuschütteln und strategische Ziele in den Vordergrund zu stellen. Dann habe ich 2013 das Amt von Peter Löscher als Siemens-Chef übernommen. Dass das alles damals etwas ruppig passiert ist, war nicht gut.

    Welche Situation fanden Sie vor, als Sie 2013 Nachfolger von Löscher wurden?

    Kaeser: Siemens stand damals, nach überstandener Compliance- und Finanzkrise, strategisch vor einem Trümmerhaufen. Die Beschäftigten waren müde. Das muss eine Organisation erst einmal aushalten. Ich habe den Blick nach vorne gerichtet und versucht, zu integrieren. Wir haben den Konzern umgebaut, was auf viel Unverständnis stieß. Mir wurde vorgehalten, ich hätte doch Ruhe versprochen – was stimmte. Aber ich hatte nicht von Stillstand gesprochen. Ich weiß also, wie schwierig es ist, eine Organisation umzubauen und gleichzeitig nach innen zu integrieren. Deshalb verspüre ich Empathie für Politiker. Letztlich stehen Politiker und Manager, die ihr Land beziehungsweise ihr Unternehmen in eine bessere Zukunft führen wollen, vor der gleichen Herausforderung.

    Was würden Sie Frau Baerbock und den Herren Laschet wie Scholz raten, wie Sie das Land reformieren sollten und dabei vor allem die Energiewende stemmen müssen?

    Kaeser: Es gibt nichts Schlimmeres als ungebetene Ratschläge.

    Aber Sie haben doch auf dem Grünen-Parteitag eine Rede gehalten.

    Kaeser: Diese Rede hätte ich auch bei einem Parteitag der CDU, CSU oder SPD halten können.

    Haben Sie aber nicht.

    Kaeser: Die Grünen haben mich eben um eine Rede gebeten, die anderen Parteien nicht. Ich bin weder grün, noch schwarz, rot, oder gelb und schon gar nicht bin ich an politischen Rändern unterwegs. Ich mache mir einfach Sorgen um die Zukunft unseres Landes. Deshalb beteilige ich mich als engagierter Bürger an Debatten.

    Welche Sorgen treiben Sie um?

    Kaeser: Ich mache mir Sorgen, weil es so viele Konflikte in diesem Land gibt. Und sie nehmen zu: Reich gegen Arm, Jung gegen Alt. Hinzu kommen umbruchartige Veränderungen wie die Energiewende und die vierte industrielle Revolution, also die fortschreitende Digitalisierung. Auch geopolitische Veränderungen werden Auswirkungen auf die Exportpolitik unseres Landes haben. All das wird sich auf das Leben von Millionen Menschen auswirken. Dann noch die Pandemie. Ich habe kürzlich in einer Studie gelesen, dass weltweit rund 400 Millionen Menschen durch die vierte industrielle Revolution ihren Job verlieren werden oder eine grundlegend andere Arbeit ausüben müssen. Das sind gut 15 Prozent der globalen Erwerbstätigen.

    Und wie wirkt sich die Pandemie sozial aus?

    Kaeser: Die Pandemie hat die Kluft zwischen Arm und Reich unsäglich vergrößert. Nach einer Studie der internationalen Arbeitsorganisation ILO ist die Zahl der Jobs im Vergleich zu der Zeit vor der Pandemie um etwa 140 Millionen zurückgegangen. 140 Millionen! Andererseits gab es in Industrieländern noch nie so viele offene Stellen für Hochqualifizierte wie heute. Die soziale Spaltung wird also immer weiter getrieben. Die meisten dieser 140 Millionen Menschen sind übrigens Frauen, auch das ist ein soziales Problem.

    Was heißt das für Deutschland?

    Kaeser: Wir müssen uns auch in Deutschland die Frage stellen, wie wir den Wohlstand in die nächste Generation weitergeben können und wie wir mit den Folgen der Digitalisierung umgehen, ja wie wir den Klimawandel aufhalten wollen. Deshalb plädiere ich so stark für eine sozialökologische Marktwirtschaft. Also die Integration von Sozialstaat, Ökologie und innovativem Unternehmertum.

    Da bräuchten wir einen neuen, grün angehauchten Ludwig Erhard oder eine Öko-Ludwig-Erhardin.

    Kaeser (lacht): Der neue Erhard sollte aber nicht so viel Zigarre rauchen. Das ist schlecht fürs Klima und für die Gesundheit.

    Bisher haben Sie noch nicht verraten, welche Partei Sie bei der Bundestagswahl wählen.

    Kaeser: Nein, das habe ich noch nicht und das werde ich auch nicht.

    Haben die Grünen Ihnen denn schon einen Mitgliedsantrag geschickt, nachdem Sie Frau Baerbock immer wieder loben?

    Kaeser (lacht): Nein, das haben sie noch nicht getan. Falls doch, dann müsste er beim Umzug von meinem Siemens-Vorstandsbüro in mein neues Büro als Aufsichtsratsvorsitzender von Siemens Energy verloren gegangen sein. Auf alle Fälle ist die ökologisch-soziale Marktwirtschaft eine nationale Aufgabe. Es ist mir letztlich egal, welche Partei es macht. Aber es ist zu tun, weil es für die Zukunft unseres Landes existenziell ist.

    Aber lassen sich ökonomische, ökologische und soziale Interessen gleichermaßen erreichen?

    Kaeser: Das gelingt, wenn wir dafür sorgen, dass der Sozialstaat weiter bezahlbar bleibt und wenn wir endlich anfangen, das Klimaproblem zu lösen, statt zum 20. Mal die Diagnose zu stellen, dass wir ein Problem haben. Wir müssen von der Diagnose endlich zur Therapie übergehen.

    Beim Stoppen des Klimawandels läuft uns die Zeit davon.

    Kaeser: Trotzdem müssen wir das Machbare gegenüber dem Wünschenswerten sorgfältig abwägen. Dann wird man schnell merken, dass das Wünschenswerte nicht immer das Machbare ist. Vor allem nicht alles auf einmal. Wenn wir rasch von fossilen auf erneuerbare Energien umstellen, geht etwa die Hälfte der Jobs in der Branche verloren und wir haben ein soziales Problem. Was machen wir mit diesen Menschen, die Angst um ihre Zukunft haben? Es besteht die Gefahr, dass sie Parteien wählen, die vorgeben, Alternativen für Deutschland zu kennen. Ökologie muss auch machbar sein, sonst birgt sie sozialen Sprengstoff. Wir müssen alle drei Ziele, Wohlstand, Ökologie und Ökonomie, gleichermaßen berücksichtigen. Dabei sollten wir uns vor Augen halten, dass Deutschland für etwa zwei Prozent des weltweiten CO2-Ausstoßes steht. Wenn wir ein Prozent einsparen und auf anderen Kontinenten wie Asien oder Afrika weiter munter fossile Brennstoffe verfeuert werden, ist insgesamt wenig gewonnen.

    Wie kann die Klimawende dennoch weltweit gelingen?

    Kaeser: Indem wir in Deutschland noch effizientere Technologien für erneuerbare Energien entwickeln, also etwa Wasserstofftechnik oder Systeme zur Energieeinsparung in Gebäuden, und diese weltweit verkaufen. Und wir müssen schneller werden. Die EU hat ja diese Woche ihre Fit-for-55-Pläne vorgestellt, das geht alles in die richtige Richtung. Aber wir müssen nicht nur reden, sondern auch endlich handeln. In Deutschland zum Beispiel vergehen für den Bau einer Stromtrasse, die klimaneutral produzierten Windkraft-Strom im Land verteilt, bis zu 12 Jahre. Das Gleiche gilt etwa für Bahntrassen oder die Aufstellung von Windrädern. Mit diesem Schneckentempo gelingt keine Energiewende.

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