Herr Burkert, Ihre Gewerkschaft befindet sich im Tarifkampf mit der Deutschen Bahn, bei dem nun um die Schlichtung gerungen wird. Die Deutsche Bahn hat immerhin zwölf Prozent mehr Lohn für die unteren Lohngruppen, zehn für die mittleren und acht für die oberen angeboten. Warum haben Sie da nicht eingeschlagen, sondern fordern mehr?
MARTIN BURKERT: Vorneweg: Zur Schlichtung selbst kann ich nichts sagen, weil wir mit der Bahn Stillschweigen vereinbart haben, damit die Schlichter in Ruhe arbeiten können. Natürlich hätten auch die mittleren Lohngruppen gerne mehr, aber es gibt große Solidarität zwischen allen Berufsgruppen. Auch für die unteren Lohngruppen waren die Verhandlungen vor der Schlichtung sehr komplex. Wir haben zum Beispiel bei der Bahn 2500 Beschäftigte im Mindestlohnsektor. Für die ist es enorm wichtig, über welche Basis wir bei Erhöhungen sprechen: Wir sagen, wir nehmen zwölf Euro Mindestlohn als Ausgangslage, die Arbeitgeber wollten von den früheren 10,30 Euro aus starten. Entscheidend ist, dass die Beschäftigten angesichts der Inflation eine wirklich deutliche Steigerung brauchen. Sonst wird auch der Arbeitskräftemangel bei der Bahn zum immer größeren Problem.
Aber zwölf Prozent waren doch auch Ihre Lohnforderung. Warum ist immer noch ein Streik möglich, wenn die Schlichtung erfolglos bleibt?
BURKERT: Unsere Forderung lautete zwölf Prozent, mindestens aber 650 Euro brutto mehr im Monat. Ein hoher Mindestbetrag ist gerade für die unteren Lohngruppen wichtig. Und wir fordern die Angleichung der Löhne von Ost und West, das wäre ein Meilenstein, wenn das auch bei der Deutschen Bahn kommt. Wir konnten inzwischen Lohnabschlüsse mit zwei Dutzend Privatbahnen vereinbaren. Dabei wurden die Löhne bundesweit an das Niveau der Bahnen in Bayern angeglichen. Das ist ein Riesenerfolg gerade für die Beschäftigten im Osten. Wir haben bei den nicht bundeseigenen Bahnen durchschnittlich mit 12,5 Prozent abgeschlossen, in unteren Lohngruppen umgerechnet mit 18 Prozent. In vielen Regionen ist man mit den Abschlüssen hochzufrieden, in Bayern haben die Beschäftigten wegen der höheren Lebenshaltungskosten aber mehr erwartet.
Für wie hoch halten Sie bei der Deutschen Bahn die Gefahr, dass die Schlichtung noch scheitert und es zu einem Streik in der Ferienzeit kommt?
BURKERT: Zur Schlichtung kann ich mich wegen des Stillschweigegebotes nicht inhaltlich äußern. Was ich sagen kann: Bis Ende August wird definitiv nicht gestreikt. Am Freitag wollen die Schlichter ihr Ergebnis präsentieren, dann beraten wir im Bundesvorstand über eine Empfehlung für die Mitglieder und beginnen im August die Urabstimmung. Wir schreiben dafür alle Mitglieder unter den 180.000 DB-Beschäftigten per Post an. Wegen der Ferien dauert das ganze Verfahren bis 31. August. Es ist die erste Urabstimmung bei der EVG seit 30 Jahren.
Aber wie wollen Sie im Ernstfall bei einem Streik einem Berufspendler klarmachen, der in der Regel von zwölf Prozent mehr Lohn nur träumen kann, dass kein Zug mehr fährt, weil inzwischen die Bahn gefühlt dauernd streikt?
BURKERT: In Deutschland sind wir, was Streiks angeht, am unteren Ende in Europa. Die letzten Warnstreiks bei der Bahn vor der aktuellen Tarifauseinandersetzung gab es vor fünf Jahren. Der Punkt aber ist: Die meisten Berufsgruppen bei der Deutschen Bahn sind bei den Löhnen inzwischen im unteren Drittel der Einkommensskala angekommen. Das ist ein wirklich gravierendes Problem. Die Stimmung unter den Beschäftigten ist echt mies, weil immer mehr Leute fehlen. Wir müssen die Löhne und die Einstiegseinkommen deutlich anheben, um überhaupt neue Leute zu bekommen.
Wie schlimm ist der Fachkräftemangel? Wird das zum Sicherheitsproblem?
BURKERT: Die Sicherheit leidet nicht, aber zum Beispiel die Pünktlichkeit. Wenn Fahrdienstleiter ausfallen, fallen auch Züge aus, weil sie dann nicht mehr fahren können. In Regensburg zum Beispiel sucht die Bahn zehn Weichenwärter und hat nur eine einzige Bewerbung bekommen. Ein Stellwerker im Schichtdienst fängt derzeit mit 2500 Euro brutto an, eine Busfahrerin je nach Bundesland zwischen 2100 und 2400 Euro brutto. Da findet man heute kaum noch jemanden, der dafür Schicht arbeiten möchte. Wir müssen die Berufsbilder der Eisenbahner und der Busfahrer dringend aufwerten. Der Fachkräftemangel wird zum immer größeren Problem. Die Bahn darf hier nicht noch weiter hinter andere Branchen zurückfallen. Sonst fallen wieder mehr Klimaanlagen aus, Bordtoiletten bleiben gesperrt, weil ungeleert, und Bordbistros unbesetzt.
Lähmt eigentlich der Konkurrenzkampf mit der GDL nicht die Gewerkschaftsarbeit?
BURKERT: Ich habe davor gewarnt, dass das Tarifeinheitsgesetz 2014 – das uns durch das Handeln der GDL beschert worden ist – die Gräben tiefer machen wird. So ist es gekommen. Die Anfeindungen zwischen den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern auch im Umfeld der jüngsten Betriebsratswahl waren schrecklich. Das alles muss aufhören! Tatsache aber ist, dass in 286 der 302 Betriebe der Deutschen Bahn unser Tarifwerk Anwendung findet, die GDL kommt auf 18. Mit GDL-Chef Claus Weselsky sieze ich mich nach wie vor. Er bleibt noch dieses Jahr, vielleicht wird das Verhältnis dann besser.
Claus Weselsky liebäugelt damit, eine eigene Gesellschaft zu gründen, die Bahn-Lokführer beschäftigen soll. Wie sehen Sie das?
BURKERT: Es gibt auch im Ausland Genossenschaften, die Mitarbeiter bündeln. Es stellen sich aber für mich viele Fragen, wenn Lokführer in solch eine Genossenschaft wechseln. Angenommen, ein 52-jähriger Lokführer kann seinen Dienst nicht mehr ausüben. Bisher stellt er sich dann im Job-Service der Deutschen Bahn – einer Art internem Arbeitsamt – vor und wird weiterqualifiziert. Was aber würde er in der externen Genossenschaft machen? Wir beobachten dies, sehen es aber gelassen.
Vergangenes Jahr hatte das 9-Euro-Ticket zu einem regelrechten Ansturm auf die Bahn geführt. Wie zufrieden sind Sie mit dem 49-Euro-Ticket?
BURKERT: Die Richtung ist vollkommen richtig, dass man versucht, mehr Menschen zum Bahnfahren zu bringen. In Estland und Luxemburg ist der Nahverkehr auf der Schiene beispielsweise bereits kostenlos. Die Bahn und die Politik haben sich auf das 49-Euro-Ticket auch besser vorbereitet als auf das 9-Euro-Ticket. Es muss aber noch viel geschehen, wenn bis 2030 doppelt so viele Menschen Zug fahren sollen als bisher.
Was muss passieren, damit mehr Menschen Bahn fahren können?
BURKERT: Man hat aus den hohen Passagierzahlen beim 9-Euro-Ticket gelernt und das Personal aufgestockt, beispielsweise bei den Mobilitätsdiensten, wenn man Hilfe mit dem Rollstuhl braucht. Nachholbedarf gibt es aber auch bei der Infrastruktur: Man wird zum Beispiel mit den Fahrzeugherstellern diskutieren müssen, ob sich nicht auch die Passagierwaggons anpassen müssen. Im letzten Jahr habe ich in Hamburg gesehen, wie die Menschen regelrecht aus dem Wagen gepurzelt sind, als die Tür aufging. Im Zug kamen die Mitarbeiter vor lauter Passagieren nicht mehr durch die Gänge. Diese Überbelastung führt zu Fahrzeugschäden. In Berlin waren angesichts des Ansturms am Hauptbahnhof reihenweise die Rolltreppen durch die Dauerbelastung ausgefallen. Grundsätzlich braucht es nach dem Ankurbeln der Nachfrage im ÖPNV durch die Preisreduzierung auch eine klare Angebotsausweitung: mehr zusätzliche Verkehrsangebote, weitere Fahrzeuge und noch deutlich mehr Personal.
Reicht denn die finanzielle Ausstattung, um die Bahn fit zu machen?
BURKERT: Bis 2030 braucht die Schieneninfrastruktur unserer Meinung nach 150 Milliarden Euro. Ursprünglich hatte die Bundesregierung 43 Milliarden Euro für die Bahn bis 2027 vorgesehen, angesichts der Herausforderungen hat man dieses Jahr weitere 45 Milliarden eingeplant, damit wären wir bei knapp 90 Milliarden Euro. Damit fehlen aber allein bis 2027 noch immer 20 Milliarden Euro! Wenn Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck Mitte August sagt, wie er die 100 Milliarden Euro für den Klimaschutz verteilt, muss dabei auch die Schiene berücksichtigt werden. Der Bund hat uns lange finanziell alleingelassen, jetzt geht es nicht mehr. Wenn 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr aufgebracht werden können, sollte dies für die Schiene auch gehen.
Kann ein 49-Euro-Ticket angesichts dieser Zahlen erhalten bleiben?
BURKERT: Ein günstiges, deutschlandweites Ticket für den Nahverkehr sollte auf Dauer angeboten werden. Durch das Ticket steigen erwiesenermaßen Menschen vom Auto auf die Bahn um. Es ist bisher elf Millionen Mal verkauft worden. Es hilft vielen. Wer zum Beispiel bisher 100 Euro monatlich für ein Abo im Nahverkehr zahlt, muss nun nur 49 Euro ausgeben. Das Ticket muss aber auch finanziert werden. Allerdings ist es im Vergleich mit bisher drei Milliarden Euro jährlich gar nicht so teuer. Es muss insgesamt mehr Geld in den Nahverkehr gesteckt werden. Das ist im Koalitionsvertrag der Bundesregierung eigentlich auch vereinbart.
Günstige Preise helfen aber kaum, wenn man dann mit dem Rad am Bahnsteig stehen bleibt, weil kein Platz mehr frei ist …
BURKERT: Das Thema „Fahrräder“ müssen wir angehen, die Bahn braucht hier mehr Kapazitäten in den Wagen. Das muss auch mit den Herstellern besprochen werden. Manchmal ist in den Gängen kein Durchkommen mehr vor lauter Rädern. Wir haben die Fahrradmitnahme auch im ICE durchgesetzt, vorne acht Räder, hinten acht Räder. Das reicht aber gerade in der Urlaubszeit hinten und vorne nicht.
Ein anderes Thema: Bundesverkehrsminister Volker Wissing bereitet eine Bahnreform vor, welche eine gemeinwohlorientierte Infrastruktursparte schaffen soll. Wie sehen Sie den Plan?
BURKERT: Das größte Problem von Verkehrsminister Wissing ist die Zeit. Es ist irre, dies in wenigen Monaten machen zu wollen. Eine zweite Bahnreform – nach der Privatisierung – muss gut durchdacht werden. Bei vielen Fragen stoße ich noch immer auf ratlose Gesichter, zum Beispiel, wie mit den Rückstellungen für die Renten umgegangen wird oder wer die 30 Milliarden Euro Schulden übernehmen soll? Meiner Meinung nach müsste eine sinnvolle Verkehrspolitik überparteilich über mehrere Legislaturperioden festgeschrieben werden. Die Regierungen müssten sich dann daran halten. Bisher fangen wir nach jeder Bundestagswahl wieder für vier Jahre von Neuem an: Was ist mit der Bahn? Was mit dem Fahrrad? Wie geht es mit der Autobahn weiter? Das bringt nur Nachteile.
Der jüngste Vorschlag der CSU geht dahin, die Bahn zu zerschlagen und Infrastruktur und Transport komplett zu trennen.
BURKERT: Gegen eine Zerschlagung der Deutschen Bahn werden wir uns als Gewerkschaft mit allen Mitteln stemmen. Eine Zerschlagung würde jahrelangen Stillstand angesichts des Organisationsaufwandes bedeuten. Internationale Beispiele zeigen, dass eine Zerschlagung der falsche Weg ist. Japan und die Schweiz haben gut funktionierende, integrierte Konzerne. Frankreich und Großbritannien haben die Zerschlagung rückgängig gemacht. Und Spanien – das als Vorbild gilt – hat 21 Personenzüge bestellt und dann festgestellt, dass sie nicht durch die Tunnel passen! In einem integrierten Konzern wäre das nicht passiert. Ich vermute, dass die CSU mit dem Vorstoß übertönen will, dass ihre letzten drei Bundesverkehrsminister zu wenig Geld für die Schiene gegeben haben.
Gewerkschaftsarbeit, auch Streik, macht nicht nur Freunde. Was haben Sie selbst erlebt?
BURKERT: Ich befürchte, dass die Mittelschicht in unserem Land wegbricht, wenn wir nicht für bessere Löhne kämpfen. Tatsächlich bekommt man aber auch Morddrohungen. Das war auch früher so, nicht nur wegen des Streiks, auch wegen des Rauchverbots in Gaststätten in Bayern oder weil ich einmal den türkischen Präsidenten Erdogan kritisiert habe.
Wie geht Ihre Gewerkschaft mit der AfD um?
BURKERT: Wir waren die erste Gewerkschaft, die einen Unvereinbarkeitsbeschluss eingeführt hat: Wer öffentlich für die AfD und ihre Programmatik eintritt, den schließen wir klipp und klar aus der EVG aus. Dasselbe gilt natürlich für alle rechtspopulistischen oder rechtsextremen Parteien oder Gruppierungen. Der Erfolg der AfD macht uns Gewerkschaften Sorgen. Wehret den Anfängen, sage ich immer.
Zur Person
Martin Burkert, 58, leitet seit 2022 die Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG). Mit knapp 200.000 Mitgliedern ist sie die größte deutsche Bahn-Gewerkschaft. Burkert saß von 2005 bis 2020 für die SPD im Bundestag. Er wohnt in Nürnberg, ist verheiratet und hat zwei Kinder. Nach der Hauptschule stieg er einst selbst beruflich bei der Bahn ein.