Frau Kemfert, Sie beschäftigen sich seit langen Jahren mit dem Klimaschutz. Was ging Ihnen angesichts der Überflutungen in Westdeutschland durch den Kopf?
Claudia Kemfert: Grundsätzlich hat die Welt nicht genug getan, um den Klimawandel aufzuhalten. Das Problem ist seit 40 Jahren bekannt. Wenn wir nicht umsteuern und die globalen Treibhausgase deutlich senken, werden extreme Wettereignisse häufiger und intensiver auftreten - so, wie wir es bei der Hochwasserkatastrophe gesehen haben. Bereits heute befinden wir uns in einer Welt, in der die Temperatur im Schnitt 1,2 Grad höher liegt als vor der Industrialisierung. Jetzt müssen wir alles dafür tun, das Ruder herumzureißen, und versuchen, deutlich unter zwei Grad globaler Erwärmung zu bleiben. Sonst drohen wir, Kipppunkte zu erreichen, die zu irreversiblen Klimaveränderungen führen - mit noch schlimmeren, gravierenderen Auswirkungen, als wir sie derzeit erleben.
Im Kampf gegen den Klimawandel hat die scheidende schwarz-rote Bundesregierung eine CO-Steuer eingeführt und die Klimaziele verschärft. Hat sie genug getan?
Kemfert: Die Anpassungen sind ein Schritt in die richtige Richtung. Die Bundesregierung hat ihn nicht ganz freiwillig unternommen. Das Bundesverfassungsgericht hat in einem Urteil darauf hingewiesen, dass man die Lasten des Klimaschutzes nicht zukünftigen Generationen aufbürden darf. Die Schritte der Bundesregierung passen zu den Klimazielen der EU. Um das in Paris vereinbarte Ziel, die Klimaerwärmung auf 1,5 Grad zu begrenzen, zu erreichen, reichen sie aber nicht aus. Und: Mit Zielen allein erreicht man zudem keinen Klimaschutz, es müssen viel mehr und effektive Maßnahmen folgen. Sich Ziele zu setzen, ist gut, jetzt müssen wir endlich ins aktive Handeln kommen.
Was ist zu tun?
Kemfert: Der erste dringende Punkt ist, dass man den Ausbau der erneuerbaren Energien beschleunigt. Hier muss der Turbo eingelegt werden. Wir brauchen eine Vervierfachung des jetzigen Ausbautempos. Wir brauchen dafür Solarenergie auf allen Dächern und mehr Windenergie - auch in Bayern, im Süden Deutschlands. Dafür muss man Marktbarrieren abbauen, Genehmigungsverfahren erleichtern, Flächen ausweisen, die nicht mit dem Naturschutz in Konflikt stehen, und alte Anlagen schnellstmöglich erneuern.
Gerade neue Anlagen sind deutlich höher und stoßen deshalb auf Widerstand ...
Kemfert: Neue Windräder können allerdings auch deutlich mehr Strom produzieren als ältere Modelle. Sie sollten an vorhandenen Standorten nicht nochmals komplizierte Genehmigungsverfahren durchlaufen müssen. Wichtig sind zudem finanzielle Beteiligungen für die Bürgerinnen und Bürger an solchen Projekten. Wir wissen, dass die Akzeptanz für erneuerbare Energien in den Kommunen steigt, wenn die Bürger über niedrige Strompreise oder Steuereinnahmen zugunsten ihrer Gemeinde von den Projekten profitieren.
Manche Kritiker sagen, dass Bayern oder Baden-Württemberg nicht die windreichsten Standorte sind...
Kemfert: Neueste Windkraftanlagen bieten auch in Schwachwindregionen eine hohe Ausbeute. Wir schlagen hier finanzielle Förderungen durch Marktwertmodelle vor, damit solche Anlagen installiert werden. Denn Deutschland braucht eine dezentrale Versorgung an Windenergie, Solarenergie, Wasserkraft, Biomasse. Nutzen wir alle erneuerbaren Energien als Teamplayer, lässt sich in der Kombination Versorgungssicherheit gewährleisten, wenn Kohle- und Atomkraftwerke richtigerweise vom Netz gehen. Das Energiesystem der Zukunft muss flexibel, intelligent und dezentral sein, dann kommt es alleine mit erneuerbaren Energien aus.
Wo sehen Sie noch Handlungsbedarf?
Kemfert: Der zweite wichtige Punkt ist die Verkehrswende. Um die Emission von Klimagasen zu senken, müssen wir für die Elektromobilität die Lade-Infrastruktur ausbauen. Wir müssen den öffentlichen Personennahverkehr stärken und mehr Güter auf die Schiene bringen. Wir müssen Gleise bauen statt Straßen. Flankieren kann man dies mit einem Bündel an Maßnahmen, von der Pkw-Maut, einer Quote für Elektrofahrzeuge über ein Tempolimit auf Autobahnen bis hin zu höheren Diesel-Steuern.
Das dürfte für einige Bürgerinnen und Bürger nach tiefen Eingriffen in ihren Lebensstil klingen. Mancher mag sich fragen, ob es verhältnismäßig ist, wenn man bedenkt, dass ein Stahlwerk allein genauso viel Energie verbraucht wie eine Großstadt ...
Kemfert: Zum Klimaschutz muss deshalb als dritter Punkt die Transformation der Industrie gehören. Eine grüne Schwerindustrie ist möglich. In der Stahlproduktion lässt sich zum Beispiel mit grünem Strom gewonnener Wasserstoff statt Koks einsetzen. Auch in der restlichen Industrie lassen sich erneuerbare Energien stärker nutzen, das geht von Solarthermie hin zu Hochleistungswärmepumpen.
Wenn die Elektromobilität ausgebaut wird und Häuser mit Wärmepumpen elektrisch beheizt werden, wie groß schätzen Sie den künftigen Strombedarf in Deutschland ein?
Kemfert: Eine Vollversorgung Deutschlands mit erneuerbaren Energien ist möglich. In unserer jüngsten Studie zeigen wir, dass sich der Strombedarf verdoppelt. Interessant ist, dass sich der Endenergiebedarf aber halbiert. Der Grund ist, dass fossile Energie sehr ineffizient genutzt wird. Im Verbrennungsmotor gehen 60 bis 80 Prozent der Energie ungenutzt verloren. Wenn wir Ökostrom im E-Auto, auf der Schiene oder mit Wärmepumpen direkt nutzen, erhöht sich die Effizienz massiv. Aber nur dann. Wenn wir dagegen davon träumen, alle Fahrzeuge und Heizungen im Land mit synthetischen Kraft- und Heizstoffen zu betreiben, die mithilfe von Ökostrom erzeugt wurden, dann kommen wir in der Tat zu einer Vervierfachung bis Versechsfachung des Strombedarfs. Das ist nicht sinnvoll und ökonomisch nicht effizient, ich halte es für nicht machbar.
Die Vollversorgung mit erneuerbaren Energien ist also möglich, sagen Sie?
Kemfert: Ja, nutzen wir Ökostrom direkt für alle möglichen Anwendungen im Verkehrs- und Gebäudesektor wie etwa die E-Mobilität auf Straße und Schiene oder Wärmepumpen, verdoppelt sich der Strombedarf. Diese Verdopplung ist mit erneuerbaren Energien vollständig machbar.
Gerade auf Wasserstoff ruhen aber große Hoffnungen. Wo sehen Sie dann dessen Einsatzbereich?
Kemfert: Nur dort, wo wir keine elektrische Alternative haben, sollte grüner Wasserstoff zum Einsatz kommen. Also im Bereich der Schwerindustrie und der Stahlerzeugung, im Schwerlastverkehr, in der Luft- und Schifffahrt.
Bisher gibt es ökologisch erzeugten, grünen Wasserstoff aber kaum ...
Kemfert: Hierauf müssen wir den Fokus setzen: Neben dem Ausbau der erneuerbaren Energien müssen wir in Deutschland Elektrolyseure zur Gewinnung von Wasserstoff einsetzen. Damit schaffen wir eine neue Technik, die mit Arbeitsplätzen verbunden ist und zum Exportschlager werden kann. Wichtig ist es, dass der grüne Wasserstoff in Deutschland produziert wird. Wir müssen in Deutschland den Turbo einschalten. Offshore-Windkraft lässt sich hervorragend zur Wasserstofferzeugung nutzen, um große Mengen für die Industrie zu erzeugen. Nur Restmengen sollten importiert werden, wenn wir in Richtung einer Vollversorgung mit erneuerbaren Energien gehen.
Wer kann denn kontrollieren, ob aus dem Ausland wirklich grüner Wasserstoff kommt oder ob dieser nicht doch einfach aus Erdgas erzeugt wird?
Kemfert: Tatsächlich könnte es sein, dass die Anlagen, die in der Welt zur Wasserstoffgewinnung gebaut werden, in Konflikt geraten mit der Wasserversorgung, dem Klimaschutz oder dem Umweltschutz vor Ort. In südlichen Ländern, die sich zur Wasserstoffproduktion eignen würden, ist beispielsweise Süßwasser knapp. Wir schlagen deshalb im Sachverständigenrat für Umweltfragen vor, einer Zertifizierung vorzunehmen. Wasserstoff darf nicht importiert werden, wenn nicht Umweltschutz, Sozialstandards und Klimaschutz eingehalten werden. Wenn wir den falschen Pfad einschlagen und blauen Wasserstoff aus fossilen Energien tolerieren, erreichen wir das Gegenteil. Dann erhöhen sich die Emissionen an Klimagasen. Bereits bei der Erdgas-Förderung entstehen große Mengen Treibhausgase, zusätzlich kostet die Erzeugung des Wasserstoffs aus Erdgas Energie. Wir müssen uns auf grünen Wasserstoff fokussieren.
Das alles sind sehr komplexe Zusammenhänge. Die FDP schlägt da ein schlankeres Modell vor: Nämlich CO2 zu bepreisen und den Rest dem Markt zu überlassen, der dann technologische Innovationen hervorbringt. Was halten Sie davon?
Kemfert: Ein CO2-Preis allein kann es nicht regeln, es wird eine starke Steuerung durch den Staat nötig sein. Da wir ambitionierte Klimaziele in den nächsten Jahren haben, müssten wir sehr hohe CO2-Preise einführen, um eine Steuerungswirkung zu bekommen. Dann geht es bei 200 Euro pro Tonne CO2 los. Derzeit liegen wir bei 25 Euro für Heiz- und Kraftstoffe. Die Benzinpreise würden um rund 50 Cent pro Liter steigen, das ist politisch nicht durchsetzbar. Die FDP suggeriert, dass ein CO2-Preis dem Klima hilft, dieser soll aber niedrig sein. Ein niedriger CO2-Preis entfaltet aber keine Lenkungswirkung.
Die Grünen wollen besonders stark steuern und den mühsam für 2038 verhandelten Kohleausstieg auf 2030 vorziehen. Ist das realistisch?
Kemfert: Der Kohleausstieg muss bis 2030 kommen, da wir ja eben striktere Klimaschutzziele beschlossen haben. Es gibt nur wenige Politikerinnen und Politiker, die dies offen aussprechen, Herr Söder hat es beispielsweise getan. Mit einem Kohleausstieg 2038 werden wir die eben vereinbarten Klimaziele nicht erreichen.
Mitten in der Flut ist CDU-Kanzlerkandidat Armin Laschet mit dem Satz zum Klimaschutz aufgefallen, dass man wegen eines Tages nicht seine Politik ändere. Ist diese schon so gut?
Kemfert: Klimaschutz ist keine neue Herausforderung. Die Klimaverträge in Paris wurden vor über 2000 Tagen vereinbart. Die bisherige Politik hat uns nicht in ausreichendem Maße in Richtung Klimaschutz geführt. Leider bleibt die CDU in ihrem Parteiprogramm sehr vage. Gerade die CDU müsste doch die wirtschaftlichen Chancen des Klimaschutzes stärker wahrnehmen und nutzen. Andere Länder in Europa und die USA haben es jetzt begriffen: Es gibt riesige Chancen. Ich würde mir wünschen, dass wir auch in Deutschland diese Chancen endlich entschlossen ergreifen.
Mit China und den USA gibt es andere große Emittenten. Kann denn Europa im Klimaschutz allein einen nennenswerten Beitrag erbringen?
Kemfert: Bei den CO2-Emissionen pro Kopf sind wir in Europa in der Spitzengruppe dabei. Insofern sind wir mitverantwortlich für den Klimawandel. Wir müssen handeln. Derzeit hat ein Deutscher einen durchschnittlichen CO2-Fußabdruck von 8,5 Tonnen pro Jahr. Wir dürften aber nur 2 Tonnen ausstoßen. Das haben wir auch vereinbart, insofern müssen wir dorthin kommen. Zum Vergleich: Afrika kommt pro Kopf auf eine Tonne CO2 pro Jahr, Indien auf 1,5. Wenn wir es ernst nehmen mit den Pariser Klimabeschlüssen - und diese haben 195 Staaten unterzeichnet -, können wir es schaffen, unter 2 Grad Erwärmung zu bleiben und die schlimmsten Folgen abzuwenden. Es geht nicht darum, den Klimawandel zu verhindern, aber wir können ihn abmildern. Die Extremwetterereignisse - die Flut bei uns, die Brände im Süden - sind der letzte Weckruf gewesen. Wenn wir den immer noch nicht verstanden haben, schaden wir den folgenden Generationen wirklich sehr.
Wenn nur jetzt CO2 und damit das Heizen oder Fahren teurer wird, leiden wahrscheinlich ärmere Haushalte stärker. Wie ließen sich die sozialen Folgen mildern?
Kemfert: Durch eine jährliche Klimaprämie pro Kopf. Damit ließe sich der CO2-Preis komplett zurückerstatten. Das haben wir in einer Studie 2019 gezeigt. Zugute kommen würde die Klimaprämie vor allem den einkommensschwachen Haushalten, die am wenigsten Treibhausgase verursachen, aber die am meisten Leidtragenden sind. Die von der Bundesregierung beschlossene erhöhte Pendlerpauschale weiter zu erhöhen, bevorteilt Empfängerinnen und Empfänger mittlerer und hoher Einkommen.
Wie hoch wäre die Klimaprämie denn?
Kemfert: Das hängt vom CO2-Preis ab. Bei einem CO2-Preis von rund 80 Euro pro Tonne könnte man mit über 130 Euro pro Jahr und Empfänger rechnen.
Auch Strom ist sehr teuer. Was schlagen Sie hiergegen vor?
Kemfert: Strom ist zu teuer, fossile Energie ist dagegen zu billig. Diese Unwucht muss in einer Energiesteuer- und Abgabenreform beseitig werden. Wir haben zum Beispiel vorgeschlagen, die Stromsteuer deutlich zu senken. Die EEG-Umlage wird mit steigendem CO2-Preis und sinkenden Kosten für erneuerbare Energien sinken. Der Preis für fossile Energien muss dagegen höher sein.
Eine letzte Frage hätte ich noch: Machen Sie dieses Jahr wieder Urlaub mit dem Rad?
Kemfert: Ja, klar. Radfahren, Wind, Sonne - effizienter kann man nicht Energie tanken!