Können Sie erkennen, wo die Bundesregierung Deutschland wirtschaftspolitisch verortet?
Marcel Fratzscher: Die Ampel ist immer noch im Krisenbekämpfungsmodus, auch wenn sie diese Krise in vielerlei Hinsicht gut bewerkstelligt hat. Wir haben keine tiefe Rezession, die Arbeitslosigkeit steigt nicht, Fabriken mussten ihre Produktion nicht drosseln. Meine Sorge ist, dass die Bundesregierung in diesem Modus bleibt und immer noch nicht verstanden hat, dass man jetzt wirklich die Zukunftsfähigkeit von Deutschland sichern muss. Was es nicht sein kann: Riesige Subventionen, nationale Alleingänge machen, Wettbewerb schwächen, Einzelunternehmen unter die Arme greifen, sich China anbiedern. So besehen bleibt einiges zu wünschen übrig.
Was muss zuerst angepackt werden?
Fratzscher: Deutschland ist in der digitalen Steinzeit. Wir haben eines der schlechtesten digitalen Netze, und vor allem in kleinen und mittleren Unternehmen, also dem Rückgrat der deutschen Wirtschaft, findet die Digitalisierung praktisch nicht statt. Die Pandemie hat die Bemühungen noch weiter zurückgeworfen. Es mangelt an Zukunftsinvestitionen, um produktiver und effizienter zu werden. Und dann muss die ökologische Transformation endlich vorangetrieben werden.
Wenn es darum geht, behaupten Wirtschaftsvertreter gerne, Deutschland trete in eine Phase der Deindustrialisierung ein. Angeführt werden die im internationalen Vergleich so hohen Energiepreise.
Fratzscher: Das stimmt so nicht. Die Deindustrialisierung ist ein Risiko, aber nicht, weil Energiepreise oder Steuern für Unternehmen zu hoch wären. Wir sehen, wie mächtig die USA und China ihre grünen Technologien ausbauen. Die große Frage ist, ob es auch der deutschen Wirtschaft gelingen wird, ökologisch, digital, effizient mit grünen Technologien zu werden. Im Moment sieht es nicht so aus, als würde sie den Wandel schaffen. Das gilt für die Automobilbranche, die Chemiebranche und viele andere. Das macht mir große Sorgen.
Die Zeit wird allmählich knapp, um mehr Fortschritt zu wagen. An welcher Schraube würden Sie zuerst drehen?
Fratzscher: Um innovativ zu sein, müssen Unternehmen im Wettbewerb stehen. Sie brauchen gute Investitionsbedingungen, einen guten Rahmen. Die Bundesregierung subventioniert Unternehmen und zementiert damit teilweise überholte Strukturen. Kein Land hat größere Ausnahmen bei den EU-Beihilferegeln als Deutschland. Das ist der falsche Weg. Geld allein schafft nicht Innovation.
Was meinen Sie konkret?
Fratzscher: Die Bundesregierung hat in der Pandemie und jetzt in dieser Krise so riesige Subventionen, vor allem für fossile Energieträger, an seine Unternehmen gegeben, dass die Nachbarn zu Recht über einen unfairen Wettbewerbsvorteil für deutsche Unternehmen klagen. Dieser Protektionismus, also Unternehmen mit Geld zuzuschütten, und sie nicht in den globalen Wettbewerb zu drängen, bedeutet, dass sie erst einmal ein paar Jahre satte Gewinne machen und dann in fünf Jahren nach weiteren staatlichen Geldern rufen und Unterstützung benötigen. Aber das ist ein Irrweg. Der Staat muss ihnen bei der Förderung von Forschung und Entwicklung helfen. Und zwar bei solchen Projekten, die auch wirklich Synergien über die Branchen und Unternehmen haben.
Und an welcher Schraube würden Sie dann drehen?
Fratzscher: Das Zweite ist, sich auf die europäische Dimension zu konzentrieren. Hier gibt es im Forschungs- und Entwicklungsbereich durchaus eine Blaupause, die IPCEI, also transnationale, wichtige Vorhaben von gemeinsamem europäischem Interesse. Dies wird beispielsweise für die Förderung von grünem Stahl in ganz Europa genutzt. Auch das bedeutet mehr Wettbewerb. Es kann sein, dass da deutsche Unternehmen den Kürzeren ziehen, wenn sie nicht wettbewerbsfähig sind.
Auch E-Autos werden stark subventioniert, ist das nicht richtig, um den Markt anzuschieben?
Fratzscher: Der Staat würde gut daran tun, E-Mobilität attraktiver zu machen, indem die Infrastruktur deutlich verbessert wird. Da ist die Aufgabe des Staates, eine leistungsfähige Ladeinfrastruktur zu schaffen. Aber was macht die Bundesregierung? Sie verzettelt sich in einem Kampf über vermeintliche Technologieoffenheit. Das ist Augenwischerei. Wir wissen, dass E-Fuels extremst ineffizient sind. Und ein Staat kann nicht zwei gigantisch neue Infrastrukturen aufbauen. Nicht für E-Fuels und für E-Mobilität gleichzeitig. Der Staat muss sich entscheiden und auf ein Pferd setzen. Wir können nicht den Fehler der vergangenen 20 Jahre wieder und wieder machen und darauf hoffen, dass der Markt alleine alle Probleme löst.
Was ist falsch daran?
Fratzscher: Wir werden, wenn wir das tun, in zehn Jahren immer noch da stehen, wo wir heute sind. Es passiert dann nichts, und die deutschen Automobilhersteller verlieren an Wettbewerbsfähigkeit, viele gute Jobs wandern ab. Der Staat muss eine klare Vorgabe machen, und im Bereich der Mobilität ist diese technologisch eindeutig. Die Entscheidung ist global längst gefallen, E-Fuels gehört nicht die Zukunft, zumindest nicht außerhalb eines sehr engen Segments der Mobilität. Hier hat in Deutschland eine politische Partei versucht, Partikularinteressen einiger weniger zu wahren – zulasten der Zukunftsfähigkeit der deutschen Wirtschaft.
Sollten, um die Wettbewerbsfähigkeit der Autoindustrie zu steigern, die Kaufprämien ganz weg?
Fratzscher: Die Subventionen für hybride Antriebe halte ich für falsch und für E-Mobilität kurzfristig für wenig effektiv. Wichtiger ist mittelfristig eine leistungsfähige Infrastruktur für E-Mobilität. Und wir sollten zuallererst die massiven Subventionen für Verbrennungsmotoren, für fossile Brennstoffe, abschaffen. Deutschland subventioniert noch immer jedes Jahr fossile Energieträger mit 65 Milliarden Euro. Das ist eine extreme Belastung für das Klima. Nur ein Beispiel: Das Dienstwagenprivileg – mit rund dreieinhalb Milliarden Euro jährlich. Davon profitieren ausschließlich Topverdiener. Der Staat muss ehrlich sagen, was schädlich ist. Und dann müssen die Menschen dafür einen Preis zahlen. Auch beim Dienstwagenprivileg geht es nur darum, Partikularinteresse zu schützen.
Stichwort Innovationsfähigkeit: Wenn Sie ein Start-up hochziehen wollten, wo würden Sie das tun?
Fratzscher: Für kluge Köpfe, für Ideen und in Sachen Vielfalt ist Berlin ein sehr guter Ort. Es ist der Stadt hervorragend gelungen, Talente aus Israel, den USA, China oder Brasilien herzubringen, die etwas Neues schaffen wollen. Eine Schwäche liegt in Deutschland noch immer auf der Finanzierungsseite – also den Wachstumsmöglichkeiten für Start-ups. Die sind in Deutschland sehr beschränkt. Es ist immer noch viel schwieriger, Wagniskapital zu bekommen als etwa in den USA. Und wir haben keinen wirklichen Binnenmarkt für Dienstleistungen in Europa. Auch das ist wichtig, denn wenn sie heute als Unternehmen im digitalen Bereich erfolgreich sein wollen, dann brauchen sie einen großen Heimatmarkt. Und der kann nur Europa sein, nicht das winzige Deutschland. Wir haben kluge Köpfe, wir haben viel Kreativität, wir haben viel Innovationskraft, aber die Rahmenbedingungen sind einfach für viele nicht gut genug. Also ziehen sie zu häufig Richtung USA, Großbritannien oder Asien.
Und die hohen Zinsen machen die Finanzierungsmöglichkeiten für Start-ups nicht besser..
Fratzscher: Ja, es gibt noch sehr viel für die Ampel zu tun. Die Kapitalmarktunion in Europa muss endlich vollendet werden. Problematisch ist auch, dass wir in Deutschland eine katastrophale Unternehmer- und Unternehmerinnenkultur haben. Sich selbstständig zu machen, ein Risiko einzugehen, zu scheitern, wird in Deutschland nach wie vor sehr negativ gesehen und auch so behandelt. Wir sehen das in den Zahlen von Unternehmensgründungen, die in Deutschland rückläufig sind. Und wenn wir junge Menschen fragen, was sie vorhaben, dann sagen sehr viele, ich möchte gerne für den Staat arbeiten. Immer weniger aber sagen: Ich möchte mein eigenes Ding machen. Wir brauchen hier einen grundlegenden Kulturwandel.
Zur Person: Marcel Fratzscher ist Präsident des Instituts für Wirtschaftsforschung DIW und Professor für Makroökonomie an der Humboldt Universität Berlin.