Herr Professor Fratzscher, nach der Corona-Krise steckt Deutschland in der Energiekrise, die durch den Ukrainekrieg ausgelöst wurde. Wie tief geht es kommendes Jahr bergab?
Marcel Fratzscher: Die ehrliche Antwort ist, dass das keiner auch nur annähernd genau sagen kann und wir in den letzten 70 Jahren selten mehr Unsicherheit hatten. Hoffnungsvoll ist, dass wir im wahrscheinlichsten Szenario einen milden Abschwung durchmachen werden. Die Prognose lautet auf ein Schrumpfen der Wirtschaftsleistung um 0,3 bis 0,5 Prozent in 2023. Positiv ist auch, dass wir trotz Abschwungs keine Krise auf dem Arbeitsmarkt sehen. Wir rechnen damit, dass die Beschäftigung auf Rekordniveau bleibt.
Das klingt doch beherrschbar...
Fratzscher: Leider kann viel schief gehen. Und meine größte Sorge ist, dass es zu einer Energie- oder Gasknappheit kommt. Das muss nicht unbedingt jetzt im Winter sein, das könnte auch im nächsten Winter 2023/24 passieren. Das halte ich jetzt nicht für sehr wahrscheinlich, aber diese Möglichkeit besteht. Wer weiß, was in diesem Krieg in der Ukraine noch passiert? Dann hätten wir einen Einbruch der Wirtschaft um sechs, sieben Prozent, ähnlich stark wie während der Weltfinanzkrise. Das zweite Risiko sind sicherlich die Lieferketten, die durch die gelockerte Corona-Politik Chinas wieder schwer unter Druck kommen könnten. Vielen Millionen Chinesen droht die Ansteckung mit dem Virus. Und drittens ist da noch der Handelskonflikt zwischen China und den USA, bei dem Europa in die Klemme geraten könnte.
Das klingt jetzt wiederum bedrohlich…
Fratzscher: Die Möglichkeit einer schweren Rezession besteht. Aber selbst, wenn es relativ gut läuft, wird das neue Jahr für viele Menschen in Deutschland hart. Und das liegt an der Inflation.
Die soll doch laut den Schätzungen nachlassen…
Fratzscher: Richtig. Die Chancen stehen gut, dass sie schrittweise runtergeht. Aber das klingt besser, als es ist. Die Situation für viele Menschen im nächsten Jahr wird noch mal dramatischer sein als in diesem Jahr. Viele werden den Gürtel noch mal enger schnallen müssen.
Weil dann zum Beispiel ihre Rücklagen aufgebraucht sind oder weil dann erst die Preiserhöhungen für Strom, Gas oder Heizöl bei ihnen ankommen?
Fratzscher: Wir rechnen jetzt in unserem wahrscheinlichsten Szenario mit 7 Prozent Inflation im nächsten Jahr – nach 9 bis 10 Prozent im Jahresdurchschnitt 2022. Aber Inflation und Preise werden oft vermischt. Die Tatsache, dass Inflation runtergeht, heißt ja immer noch, dass die Preise steigen, nur eben nicht mehr ganz so stark. Und das Problem ist, dass wir in diesem Jahr bei 10 Prozent Inflation im Schnitt vier Prozent Lohnsteigerung hatten. Wir rechnen mit ähnlichen Lohnsteigerungen im nächsten Jahr bei dann 7 Prozent Inflation. Das heißt, die Menschen müssen dieses Jahr mit 5 Prozent weniger Kaufkraft auskommen. Und nächstes Jahr noch mal mit 3 Prozent weniger Kaufkraft.
Woran liegt es, dass der Preisdruck so stark bleibt?
Fratzscher: In diesem Zusammenhang fällt oft das Wort Lohn-Preis-Spirale. Das heißt, dass die Gewerkschaften wegen der Inflation hohe Lohnsteigerungen durchsetzen und damit die Teuerung weiter treiben. Da schwingt auch die Warnung an die Beschäftigten mit, den Bogen nicht zu überspannen. Aber die Tarifabschlüsse liegen deutlich unter der Inflationsrate. Es gibt keine Anzeichen dafür, dass wir eine Lohn-Preis-Spirale haben. Ganz im Gegenteil: Wir haben eine Gewinn-Preis-Spirale.
Was ist das?
Fratzscher: Viele Unternehmen springen auf den Zug auf und wollen sich die Taschen noch mal voll machen und geben die Schuld für die steigenden Preise dann den Energiekosten oder dem Krieg in der Ukraine. Der Treiber für die Inflation im kommenden Jahr werden nicht steigende Energiepreise sein, sondern eher, dass viele Unternehmen ihre Preise weiter anziehen. Und es sind dann häufig nicht die kleinen und mittelständischen Unternehmen. Es ist nicht die Bäckerei um die Ecke, sondern es sind eher die großen Konzerne, die das dann sehr gut umsetzen können.
Ist Ihre Kritik nicht etwas pauschal?
Fratzscher: Nein, das zeigen die Daten ganz deutlich. Und dann fragt man sich natürlich, ob es richtig ist, dass die Bundesregierung diesen Unternehmen noch einmal Milliarden durch eine Gas- und Strompreisbremse zusätzlich in Rachen schmeißt. Ich halte die beiden Preisbremsen für kolossale Fehler. Wir haben eine Schieflage im doppelten Sinne. Diese Hilfsgelder kommen viel stärker den Unternehmen zugute, zu wenig den privaten Haushalten. Das ist die erste Schieflage für mich. Die zweite Schieflage ist, dass man eben Menschen mit hohen Einkommen, mit hohen Vermögen, deutlich mehr Geld gibt als Menschen mit geringem Einkommen.
Ihre Ökonomen-Kollegen sagen, das Instrument ist nicht ideal, aber wegen der Kürze der Zeit geht es nicht anders. Gleiches sagt die Bundesregierung…
Fratzscher: Diese Instrumente werden immer als alternativlos dargestellt, aber das stimmt nicht. Ökonomisch und sozial ist der allerbeste Weg Direktzahlungen. So wie man das mit der Energiepauschale für Rentner und Studierende gemacht hat. Jeder, der es braucht, bekommt das Geld. Man hätte das einkommenspezifisch machen können. Haushalte mit - sagen wir - über 100.000 Euro Bruttoeinkommen im Jahr hätten keine Unterstützung erhalten, weil sie sie nicht brauchen. Und Unternehmen hätte man analog zu den Corona-Hilfen über die Steuerberater entlasten können. Unter dem Strich wäre das zielgenauer, gerechter und viel billiger gewesen.
Die Wirtschaftsverbände waren vor einer De-Industrialisierung, wenn den Unternehmen in der Energiekrise nicht umfassend mit Subventionen geholfen wird. Das konnte die Politik doch nicht riskieren…
Fratzscher: Die De-Industrialisierung ist genauso ein Popanz, wie die Lohn-Preis-Spirale. Es ist letztlich ein Schreckgespenst, das aufgebaut wird, um der Politik Geld aus den Rippen zu leiern. Gibt es das Risiko, dass manche energieintensive Unternehmen pleitegehen oder abwandern? Ja, das Risiko ist da. Es wäre wahrscheinlich auch ohne Energiepreis-Schock unvermeidbar gewesen. Denn Deutschland hat bisher noch nie einen Kostenvorteil bei Energie gehabt. Wir haben schon lange hohe Kosten. Ich bin sehr optimistisch, dass unsere Industrie diesen Schock gut wegstecken kann. Und dass die notwendige Transformation hin zu erneuerbaren Energien, neuen Technologien, und grünem Wasserstoff jetzt eher beschleunigt wird. Wenn die BASF chemische Grundstoffe nun billiger in den USA herstellt, ist das insgesamt für das Unternehmen besser und damit auch für die deutsche Wirtschaft.
Zur Person: Marcel Fratzscher, 51, stammt aus Bonn und studierte in Kiel, Oxford, Cambridge und Florenz Ökonomie. Seit 2013 leitet er das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Kiel und ist Professor für Makroökonomie an der Humboldt-Universität zu Berlin.