Frau Loheide, es wird im Zusammenhang mit der Inflation vor einer zunehmenden Armut gewarnt. Arme Menschen im reichen Deutschland, das ist eigentlich schwer vorstellbar. Wie ernst ist die Lage?
Maria Loheide: Wir werden sehr viel mehr Arme bekommen, als wir bisher gedacht haben. Angesichts der Inflation und der steigenden Energiepreise reicht bei vielen Menschen das Gehalt nicht mehr aus, und sie geraten in Armut. Diese Menschen müssen sich genau überlegen, ob sie ausreichend heizen oder sich genügend Lebensmittel leisten können. Die steigenden Preise werden dazu führen, dass immer mehr Menschen ergänzend Grundsicherung oder Wohngeld brauchen. Bei den aktuellen Notlagen reden wir noch gar nicht über die gesellschaftliche Teilhabe, zum Beispiel den Eintritt fürs Kino mit Freunden oder das Geld für eine Zeitung.
Wie kommen Sie zu dieser Prognose?
Loheide: Wir merken das in jeder Beratungsstelle, in den Schuldnerberatungen, den Sozialberatungsstellen und auch den Familienzentren. Immer mehr Menschen klagen, dass sie ihren Kindern nicht mehr das kaufen können, was sie eigentlich brauchen, um in der Schule mitzukommen oder bei ihren Freunden nicht dadurch aufzufallen, dass sie sich nichts mehr leisten können. Immer mehr Menschen müssen darauf achten, dass sie am Ende des Monats überhaupt noch genug zum Essen einkaufen können.
Wie wirken sich die hohen Lebensmittelpreise auf die Arbeit der Tafeln aus?
Loheide: Sie haben große Probleme, bekommen einfach nicht mehr genug Lebensmittel. Dafür gibt es zwei Ursachen. Zum einen erreichen die Tafeln nicht mehr so viele Lebensmittel-Spenden, denn in den Supermärkten bleibt weniger übrig, und es werden viele Spenden für Geflüchtete gebraucht, was ja ebenfalls wichtig ist. Zum anderen werden aber immer noch sehr viele Lebensmittel einfach weggeworfen. Die Tafeln und eine Reihe von neuen Initiativen kümmern sich darum. Man muss aber gleichzeitig immer wieder betonen, dass die Tafeln sozialpolitisch nur eine Notlösung sein können. In einem reichen Deutschland muss dafür gesorgt sein, dass die Existenz aller Menschen dauerhaft gesichert ist.
Der andere Problembereich sind die steigenden Energiepreise. Die hohen Kosten schlagen in vielen Abrechnungen erst später durch. Haben wir das Schlimmste erst noch vor uns?
Loheide: Man muss da differenzieren. Die Stromkosten schlagen sofort zu Buche, und die Geräte müssen weiterlaufen, egal, wie das Wetter ist. Bei den Heizkosten wird sich die Belastung erst mit den Nachzahlungen bemerkbar machen. Viele Menschen werden durch die enorm hohen Nachzahlungen in Not geraten. Und dann dreht die Spirale nach unten: Es drohen Sperren für Gas und Strom, die Heizung bleibt kalt und das Licht aus. Unsere dringende Forderung ist deshalb, dass diese Nachzahlungen für Menschen, die Grundsicherung beziehen, komplett finanziert werden.
Nun soll es einen Sofortzuschlag von monatlich 20 Euro geben und einen Bonus von 100 Euro für Kinder und Jugendliche oder eine Einmalzahlung von 200 Euro für erwachsene Sozialleistungsbeziehende. Die Energiepauschale von 300 Euro ist beschlossen. Reicht das nicht?
Loheide: Auch da muss man genau hinsehen, denn die Hilfen sind nicht zielgenau. Die 300 Euro bekommen alle Erwerbstätigen, also auch diejenigen, die sie eigentlich nicht brauchen, weil sie genügend Geld haben. Wer Grundsicherung bezieht, erhält hingegen nur 200 Euro. Das reicht überhaupt nicht aus. Der einmalige Zuschlag von 100 Euro für Kinder und die 20 Euro Sofortzuschlag, die sich daran monatlich anschließen, reichen vorne und hinten nicht.
Wie lautet Ihr der Gegenvorschlag?
Loheide: Zunächst einmal müssen Politik und Regierung dafür sorgen, dass die Hartz-IV-Regelsätze entsprechend der Inflationsrate automatisch angehoben werden und die Grundsicherung wirklich existenzsichernd ist. Die letzte Erhöhung betrug 0,7 Prozent, die Inflation hingegen liegt bei mehr als sieben Prozent. Im Regelsatz sind pro Monat 155 Euro für Lebensmittel vorgesehen, 36 Euro für Strom. Die Preise laufen davon. Es ist klar, dass das nicht reichen kann.
Was wäre denn ausreichend?
Loheide: Es müssen mindestens 180 Euro mehr Grundsicherung sein, also mindestens 630 Euro. Für Kinder müsste die Erhöhung mindestens 78 Euro betragen. Dazu müssten noch gezielte krisenbezogene Hilfen kommen.
Damit werden besondere Lagen aber auch nicht aufgefangen.
Loheide: Die ewigen Einmal- und Bonuszahlungen haben was von Almosen. Unser Vorschlag ist eine Notlagenregelung, die fest in den Sozialgesetzbüchern verankert wird und in einer nationalen Krisensituation eine Unterstützung von Betroffenen – mit mindestens 100 Euro monatlich für ein halbes Jahr – vorsieht. Dazu müsste der Bundestag eine soziale Notlage feststellen. Damit entfiele die Notwendigkeit, in jeder Krise aufs Neue über eine gesetzliche Regelung für eine Notlösung für die Ärmsten zu beraten.
Sind Sie enttäuscht von der Ampel-Koalition?
Loheide: Die Ansätze im Koalitionsvertrag sind gar nicht schlecht. Es gibt das erklärte Ziel, eine Kindergrundsicherung einzuführen. Darauf setzen wir ganz stark, denn hier muss dringend nachgebessert werden. Es gab in der Corona-Pandemie viele Kinder aus armen Haushalten, die nicht am Homeschooling teilnehmen konnten, weil sie sich keine digitale Ausstattung leisten konnten. Ein Gerichtsurteil hat da für Abhilfe gesorgt, und ein Computer gehört nun dazu. Aber es geht weiter. Ein WLAN-Anschluss wird immer noch nicht finanziert. Lange gab es auch kein Geld für ein Smartphone. Da verkennt die Ampel die Realität der Menschen, die nichts oder nur ganz wenig haben. Sie macht sich zudem kein Bild davon, wie schnell eben auch der Mittelstand in die Armut abrutschen kann.
Wer kein Geld hat, leiht sich was, macht Schulden?
Loheide: Es ist tatsächlich so, dass die Schuldnerberatungsstellen einen enormen Zuwachs an Anfragen verzeichnen und mit langen Wartelisten arbeiten müssen. Wenn Menschen sich aber in einer finanziellen Krise befinden und ein halbes Jahr auf einen Termin warten müssen, dann verzweifeln sie.
Die Verzweiflung war vielfach durch die Corona-Pandemie schon groß. Wie sehr verschärft die Inflation die gesellschaftliche Lage?
Loheide: Das vorherrschende Gefühl ist im Moment tatsächlich Verzweiflung. Die Menschen sind niedergeschlagen und ratlos, weil sie nicht mehr wissen, wie sie zurechtkommen sollen. Sie haben Zukunftsangst. Das ist das, was wir am häufigsten hören. An zweiter Stelle folgt Wut. Viele Menschen sind wütend auf die Politik. Es gibt eine enorme Politikverdrossenheit, und das ist natürlich immer ein Boden für rechte, für radikale Tendenzen. Es wird geschaut, wer es vermeintlich besser hat in unserer Gesellschaft. In den Köpfen verfangen dann leider schnell oberflächliche Parolen wie: Die Flüchtlinge kriegen jetzt alles und wir nichts.
Der Ukraine-Krieg verschlimmert die Situation?
Loheide: Ja. Die gesellschaftliche Stimmung wird schlechter, der Zusammenhalt bröckelt. Das bereitet uns große Sorgen.
Zur Person: Maria Loheide, Jahrgang 1958, ist Vorständin Sozialpolitik der Diakonie Deutschland. Sie hat zwei erwachsene Söhne.