Herr Stiedl, Sie präsentieren acht große Gewerkschaften in Bayern, wo starker Fachkräftemangel herrscht. Viele Tarifkonflikte sind mit einem ordentlichen Plus für die Arbeitnehmer ausgegangen. Sind die Gewerkschaften gerade so mächtig wie noch nie?
Bernhard Stiedl: Wir Gewerkschafter, die Gewerkschaften, waren noch nie unmächtig. Es gibt einfach Zeiten, in denen unsere Themen und unsere Forderungen stärker in der öffentlichen Wahrnehmung sind. Jetzt, wo die Preise extrem und die Mieten weiter steigen, müssen auch die Einkommen entsprechend steigen. Das war und ist der einfache Handlungsansatz der Gewerkschaften. Und weil wir als mächtige Organisation vernünftige Löhne erkämpft haben, hat man uns stärker wahrgenommen als früher. Ich nehme wahr, dass die Politik inzwischen wieder stärker auf uns hört. Die Politik der vergangenen 20 bis 30 Jahre, diese "Geiz-ist-Geil"-Mentalität, hat uns in die Sackgasse geführt. Da haben Unternehmen Produktionen in die Billiglohnländer verlegt – dann kam die Pandemie, und die Lieferketten sind gerissen. Wir als Gewerkschaften haben immer schon vor diesen Betriebsverlagerungen gewarnt.
Große Macht bedeutet, wenn man sie nutzt, große Verantwortung. Das ist ein schmaler Grat. Beim Tarifkonflikt zwischen Deutscher Bahn und der EVG, die auch zum DGB gehört, fehlt manchem Beobachter das Verständnis – und den Bahnkunden sowieso.
Stiedl: Das kann ich verstehen, wenn man morgens in die Arbeit muss oder einen wichtigen Termin hat und der Zug kommt nicht. Aber durch kollektives Betteln haben wir noch nie vernünftige Tarifabschlüsse bekommen. Wir brauchen das Druckmittel des Streiks, um die Arbeitgeber am Verhandlungstisch ein Stück weit zu zwingen, uns entgegenzukommen. Sonst würden wir nie solche Ergebnisse erzielen. Die Gewerkschaften, insbesondere in Deutschland, setzen das Mittel des Streiks aber sehr zurückhaltend ein. Wenn Sie sich internationale Statistiken anschauen, wird in Deutschland im weltweiten Vergleich mit am wenigsten gestreikt. Es stimmt, wenn es im öffentlichen Dienst passiert, spürt die Bevölkerung die Auswirkungen sehr schnell und sehr deutlich. Aber das ist gut, denn dann sieht man, wie wichtig die Arbeit ist, was sie wert ist, was die Menschen leisten. Dass sie es sind, die den Laden am Laufen halten und deshalb auch vernünftige Löhne und Gehälter verdienen. Ich nenne nur mal die Pflegekräfte oder die Beschäftigten in der Kinderbetreuung.
Die Pandemie, der russische Überfall auf die Ukraine, die Energiekrise und die Inflation haben die Verteilungskämpfe in der Gesellschaft erheblich verschärft. Wie gerecht geht es in Bayern und Deutschland zu?
Stiedl: Gerade in der Pandemie ist die Zahl der Milliardäre und Millionäre gestiegen, Großkonzerne haben Rekordgewinne eingefahren. Wenn man auf der anderen Seite sieht, dass die Löhne im letzten Jahr effektiv um vier Prozent gesunken sind, dann beantwortet das Ihre Frage.
Wie müsste Ihrer Meinung nach umverteilt werden?
Stiedl: Erster Ansatz: Mehr Steuergerechtigkeit. Grundfreibetrag rauf, damit niedrige Einkommen entlastet werden. Die Spitzenverdiener müssen stärker herangezogen werden. Wir brauchen die Vermögensabgabe. Und auf der anderen Seite müssen eben die Löhne und Gehälter steigen – ebenso wie der Mindestlohn. Dass gerade in der jetzigen Lage die Menschen mit niedrigem Einkommen besonders belastet sind, bringt die Gesellschaft ins Kippeln. Der deutsche Niedriglohnsektor ist einer der größten in der EU. Diesen Zusammenhang müssen die Arbeitgeber irgendwann erkennen. Die Gewerkschaften haben ihren Beitrag zum Ausgleich geleistet. Die Preise bleiben aber hoch, die Mieten steigen, weshalb die Gewerkschaften in den anstehenden Tarifrunden entsprechende Forderungen stellen werden.
Sehen Sie – zumal in Rezessionszeiten – nicht die Gefahren einer Lohn-Preis-Spirale?
Stiedl: So etwas gibt es nicht.
Wie bitte?
Stiedl: Wir stellen unsere Lohnforderungen immer nach drei Kriterien auf: Wir schauen, wie die Gewinne der Unternehmen gestiegen sind – da wollen wir unseren Anteil haben. Dann schauen wir uns an, wie die Produktivität gestiegen ist. Für die Produktivität sind wir ein Stück weit verantwortlich, weil wir besser und schneller arbeiten. Da wollen wir dann auch unseren Anteil haben. Und dann schauen wir uns an, wie die Preise gestiegen sind. Und wir stellen unsere Lohnforderungen immer erst im Nachhinein, wenn die Preise also schon gestiegen sind. Es ist nicht so, dass wir unsere Lohnforderungen stellen, und dann ziehen die Preise an. Wir reagieren, wenn die Preise gestiegen sind. Nehmen Sie nur die Autoindustrie. Da liegt der Lohnanteil an einem Auto, wenn es verkauft wird, bei etwa 20 Prozent. Wenn nun der Lohnanteil steigt, können Sie sich ausrechnen, wie viel teurer das Auto werden müsste. Eine Lohn-Preis-Spirale gibt es nicht. Wenn, dann gibt es eine Profit-Preis-Spirale.
Eines der größten Standortprobleme in Deutschland ist der Fachkräftemangel. Hat die Ampel genügend auf den Weg gebracht, um diesen zu beheben?
Stiedl: Wir sollten deutlich mehr auf unserem heimischen Arbeitsmarkt schauen, ob wir da nicht viel mehr Fachkräfte heben könnten. Wir haben insgesamt 2,6 Millionen Menschen bis zum 34. Lebensjahr, die keine Berufsausbildung haben. Die müsste man mal qualifizieren. Wir haben sehr viele Frauen, die in der Teilzeitfalle stecken, weil es an der notwendigen Kinderbetreuung fehlt. Auch ältere Arbeitnehmer tun sich bei uns schwer, ihren Platz zu finden. Ich finde deshalb die Debatte um den Fachkräftemangel scheinheilig. Wir sollten uns mal mehr bei uns umschauen, bevor wir zum Beispiel Pflegekräfte aus Brasilien abwerben, die dort auch dringend gebraucht werden. Wir wissen, dass in Deutschland 300.000 ehemalige Pflegekräfte bereit wären, wieder in ihren alten Beruf zurückzukehren, wenn die Arbeitsbedingungen dort besser würden. Aber weil die psychischen Belastungen so hoch sind und die Bezahlung nicht stimmt, arbeiten sie in anderen Branchen.
Sie bestreiten aber nicht ernsthaft, dass es einen Fachkräftemangel in Deutschland gibt. Wir sind in einem Arbeitnehmermarkt, die Forschung ist sich da einig.
Stiedl: Wir haben in bestimmten Wirtschaftsbereichen einen Mangel, das bestreite ich nicht. Man muss aber genauer hinschauen, woran das liegt. Und da ist man schnell bei Arbeitsbedingungen und Gehältern. Als Fachkraft zum Beispiel gehe ich lieber nach Schweden oder Norwegen, weil die Kinderbetreuung da besser organisiert ist und mehr gezahlt wird. Oder nehmen Sie die Gastronomie. Die sind doch selbst dafür verantwortlich, dass ihnen das Personal fehlt. Die haben mit 20 Prozent bundesweit mit die niedrigste Tarifbindung. In der Pandemie haben die Leute festgestellt, dass anderswo besser bezahlt wird. Zugleich ist es aber ja nicht so, dass die Leute nicht zum Essen gehen würden – und wenn sie wüssten, dass von einem teureren Essen auch mehr bei der Bedienung ankäme, würden sie den höheren Preis auch zahlen. Jetzt wollen sie in der Gastrobranche die Arbeitszeiten verlängern. Die sollen endlich in die Tarifbindung und vernünftige Löhne zahlen – dann kommen auch ihre früheren Angestellten zurück.
Käme es so, würden die aber wieder in anderen Branchen fehlen. Wir berichten permanent über Mittelständler, die mehr Umsatz machen könnten, wenn sie mehr Personal hätten. Haben Sie aber nicht. Die Babyboomer gehen in Rente – der Mangel ist – jenseits der Arbeitsverhältnisse in den einzelnen Branchen – real.
Stiedl: Das bestreite ich auch nicht. Ich meine aber, dass sich die Unternehmen teilweise mehr Gedanken machen sollten, woran es liegt, dass sie keine Leute finden. Und dann sind wir wieder bei guten Arbeitsbedingungen und fairen Löhnen. Ich erwarte von den Arbeitgebern, dass sie kreativer sind und nicht nur jammern, dass sie niemand finden. Mein Eindruck ist, dass die herbeigesehnten Fachkräfte vor allem billig sein sollen. Wer sich aber wirklich bemüht, Wertschätzung zeigt, der findet meiner Erfahrung nach auch welche. Aber das kostet eben.
Zum Schluss noch ein Wort zum Wahlkampf im Freistaat. Der bayerische Wirtschaftsminister hat schon früh hohe Betriebstemperatur entwickelt. Was sagen Sie zu seinem berüchtigten Auftritt in Erding und der Behauptung, die Menschen müssten sich die Demokratie zurückholen?
Stiedl: Das war eine unsinnige Aussage. Wenn er in sich geht, dann weiß er das auch, auch wenn er sich in der Öffentlichkeit weiterhin anders dazu äußert. Ich würde mir wünschen, dass die Politik in Bayern zur Sachpolitik zurückkehrt. Wir haben hier so viele Themen zu lösen: die Energieversorgung, die Kinderbetreuung, der Wohnungsmarkt. Ob es so wichtig ist, dass wir uns proteinreich ernähren oder gendern? Ich verstehe, dass Politiker Themen suchen, die emotionalisieren – ob aber jemand Fleisch essen sollte oder nicht, ist unerheblich. Wir haben drängendere Probleme. Darum sollte es im Wahlkampf gehen.
Zur Person: Bernhard Stiedl ist Vorsitzender des DGB Bayern. Bevor er an die Spitze des Deutschen Gewerkschaftsbundes im Freistaat wechselte, war der 52-jährige Betriebswirt und Feinmechaniker Erster Bevollmächtigter der IG Metall Ingolstadt.