Herr Silberbach, wie groß ist der Frust der Beschäftigten im Öffentlichen Dienst?
Ulrich Silberbach: Wegen des Personalmangels und der Arbeitsverdichtung war der Frust im Öffentlichen Dienst schon lange groß. Doch der Frust der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ist noch einmal deutlich angestiegen. Die Stimmung in vielen Dienststellen und Betrieben ist alles andere als gut. Beschäftigte sind deswegen so frustriert, weil sie erkennen mussten, dass ihr Dienstherr, also letztlich die Politikerinnen und Politiker, ihre Arbeit nicht schätzen. Die Beschäftigten sind zunehmend nicht mehr in der Lage, ihre Aufgaben zu erledigen, weil es zu wenig Personal gibt.
Wie dramatisch ist der Personalmangel?
Silberbach: Im Öffentlichen Dienst sind rund 360.000 Arbeitsplätze bundesweit nicht besetzt. Insgesamt ist der Personalbedarf noch viel höher. Wegen des Personalmangels müssen Bürger zum Teil bis zu einem halben Jahr warten, bis sie das beschlossene Wohngeld bekommen. Die Kommunen können dafür nicht ausreichend Personal zur Verfügung stellen.
Wie kommt das?
Silberbach: Die Kommunen leiden unter anderem darunter, dass die Bundesländer Gelder des Bundes nicht ausreichend an sie weiterleiten. Da bleibt einiges an den klebrigen Händen der Länder-Verantwortlichen hängen. Nun ist die Lage so ernst, dass sich schon die Wirtschaft Sorgen um den Zustand des Öffentlichen Dienstes macht, da dessen Defizite den Standort Deutschland gefährden.
Die Lage spitzt sich also zu.
Silberbach: Die Lage könnte noch dramatischer werden: Denn in den nächsten zehn Jahren gehen 1,3 Millionen Mitarbeiter des Öffentlichen Dienstes in den Ruhestand. Die Politik weiß schon lange, wie durch die demografische Entwicklung der Fachkräftemangel immer größer wird. Nur, die Politik tut nichts.
Herrscht im Öffentlichen Dienst Alarmstimmung? Wie gefährlich ist das für unser Gemeinwesen?
Silberbach: Uns droht ein Staatsversagen. Denn der Öffentliche Dienst kann die Vorgaben der Politik angesichts des Personalmangels und der unzureichenden Digitalisierung nicht erfüllen. Die Politik erkennt das an, ob Bundeskanzler Olaf Scholz oder Bundesinnenministerin Nancy Faeser. Doch der Erkenntnis folgen keine Taten. Denn am Ende sagt das Finanzministerium, notwendige Verbesserungen für den Öffentlichen Dienst würden zu viel Geld kosten. Doch Geld ist da: In den vergangenen Jahren hat Deutschland über 600 Milliarden Euro als Reaktion auf all die Krisen auf den Tisch gelegt.
Dennoch wollen die Arbeitgeber in der angelaufenen Tarifrunde im Öffentlichen Dienst des Bundes und der Kommunen nicht rund 16 Milliarden Euro für Lohnerhöhungen ausgeben.
Silberbach: Die Arbeitgeber haben ausgerechnet, dass unsere Lohnforderung von 10,5 Prozent den Staat für rund 2,5 Millionen Beschäftigte 16 Milliarden kosten würde. Doch es sei kein Geld für eine solche Lohnerhöhung da. Das ist unverständlich und erhöht nur den Frust in den Dienststellen.
Nach ihren Ausführungen gönnt Kanzler Scholz den Beschäftigten des Öffentlichen Dienstes ordentliche Lohnerhöhungen. Er wird aber von Finanzminister Lindner ausgebremst.
Silberbach: Nicht nur Linder bremst. Die Lage ist viel fataler für die Beschäftigten, schließlich haben auch 16 Länder-Finanzminister die Hand auf dem Geld.
Wird auch deswegen die Tarifrunde nicht „sonderlich lustig“, wie Sie befürchten?
Silberbach: Das habe ich gesagt, weil die Arbeitgeber nach Bekanntgabe unserer Forderungen besonders schroff reagiert haben. Und dies, obwohl mit Nancy Faeser und der Gelsenkirchener Oberbürgermeisterin Karin Welge zwei Sozialdemokratinnen mit uns verhandeln. Ich rechne also mit einer besonders harten Auseinandersetzung und schließe nach Warnstreiks, die schon angelaufen sind, Flächen-Streiks nicht aus. Wir fangen langsam an und steigern uns dann. Die Arbeitgeber sollen wissen: Das ist kein Spaß, eben nicht das übliche Ritual. Wir machen Ernst, weil wir etwas gegen den Frust in den Dienststellen unternehmen müssen. Ich habe den Eindruck, dass die öffentlichen Arbeitgeber den Druck der Straße brauchen, um die Politik zu bewegen, tiefer in die Tasche zu greifen.
Und wenn die Politik auf stur schaltet: Droht dann nach einem möglichen Scheitern der vereinbarten Schlichtung ein längerer Arbeitskampf?
Silberbach: Ein solcher harter Arbeitskampf droht, wenn die Arbeitgeber nach drei Verhandlungsrunden kein Angebot vorlegen. Dann reichen Nadelstiche, also Warnstreiks, nicht mehr aus. Dann droht ein Arbeitskampf, also ein Lockdown für den Öffentlichen Dienst.Dann bleiben Straßenbahnen stehen, Kitas zu und der Müll bleibt liegen. Dann wird es ungemütlich in diesem Land.
Dabei hat Scholz beim Gewerkschaftstag des Beamtenbundes die Beschäftigten des Öffentlichen Dienstes als Gestalter der Zeitenwende gewürdigt, die Anspruch auf eine faire Bezahlung hätten.
Silberbach: Nach dieser Steilvorlage und der großen Wertschätzung für die Beschäftigten setze ich darauf, dass Kanzler Scholz am Ende ein Machtwort spricht, wenn Finanzminister Lindner sich einem Abschluss verweigert. Doch ein solches Machtwort würde nur für den Bund gelten. Scholz kann nicht in die Kommunen durchregieren. Dort sind aber die meisten von der Tarifrunde betroffenen Beschäftigten tätig.
Sollte denn der Kanzler überhaupt ein Machtwort sprechen? Die Politik müsste sich doch, worauf sonst Gewerkschaften pochen, aus Tarifrunden raushalten.
Silberbach: Der Kanzler hat sich schon in die Tarifpolitik eingeschaltet, indem er die Konzertierte Aktion mit Arbeitgeber- und Gewerkschaftsvertretern einberufen hat. Und er hat auch den Tarifvertrags-Parteien mit der steuer- und abgabenfreien Inflationsprämie von 3000 Euro ein Angebot gemacht. Auch wenn Tarifpolitik nicht im Kanzleramt stattfindet, hat Herr Scholz durch solche Maßnahmen die Finger mit im Spiel.
Aber überziehen Beamtenbund und Verdi nicht mit der Forderung nach 10,5 Prozent mehr Lohn? Wäre es nicht klüger gewesen, ein noch einstelliges Lohn-Plus zu verlangen, also etwa 8,0 Prozent wie in der Metallindustrie?
Silberbach: Wir haben aber 2020 einen milden Tarifabschluss vereinbart. Dadurch stiegen die Löhne nur um 4,5 Prozent in der niedrigsten Entgelt-Gruppe und um lediglich 3,2 Prozent in der höchsten. Doch dann sollte die Inflation dramatisch auf zum Teil über zehn Prozent steigen. Die Energiepreise zogen massiv an. Wenn wir eine Lohnforderung aufstellen, schauen wir zurück und nehmen noch die nächsten zwölf Monate ins Visier.
Sie fordern also einen kräftigen Inflations-Nachschlag für 2022 in der Tarifrunde.
Silberbach: Genau, schließlich zog die Inflation 2022 um 7,9 Prozent an und die Institute erwarten für dieses Jahr eine Teuerung von 6,0 bis 6,5 Prozent.
Nach der Nachschlag-Logik hätten Beamtenbund und Verdi fast 15 Prozent mehr Lohn fordern müssen.
Silberbach: Das wäre an sich richtig. Doch wenn wir für den Öffentlichen Dienst wie Verdi bei der Post 15 Prozent mehr Lohn gefordert hätten, hätte uns sicher das ein oder andere Medium gefragt, ob wir noch alle Tassen im Schrank haben.
Das wäre sicherlich nicht auszuschließen gewesen. Doch passt ihre Forderung nach 10,5 Prozent noch in die Landschaft, schließlich geht die Inflation Monat für Monat zurück? Wirtschaftsminister Robert Habeck hofft, dass die Teuerungs-Reise 2023 bei unter fünf Prozent endet.
Silberbach: Habeck rechnet sehr positiv. Unsere Forderung nach 10,5 Prozent oder mindestens 500 Euro je Beschäftigten bleibt richtig. Schließlich müssen wir auch die Inflation des vergangenen Jahres ausgleichen. Und viele Beschäftigte aus den unteren Lohngruppen, die mit 2000 bis 2500 Euro brutto pro Monat auskommen müssen, wissen nicht mehr, wie sie die Preissteigerungen bezahlen sollen. Es geht nicht, dass wie heute ein Teil der Beschäftigten des Öffentlichen Dienstes, also etwa Ungelernte, Servicekräfte oder Straßenwärter, zum Wohngeldamt gehen muss, um zu niedrige Gehälter aufzustocken. Das passt nicht in die Zeit.
Noch einmal: Ist die Forderung nach mindestens 500 Euro mehr für jeden Beschäftigten nicht überzogen? In den unteren Lohngruppen würde das auf Steigerungen von rund 20 Prozent herauslaufen.
Silberbach: Wir müssen auch die unteren Lohngruppen attraktiver machen. Selbst hier finden die Arbeitgeber schwer Arbeitskräfte. Zu viele Stellen bleiben unbesetzt. Das ist das Ergebnis einer jahrzehntelangen falschen Spar-Politik im Öffentlichen Dienst.
Was kann man gegen den Fachkräfte-Mangel im Öffentlichen Dienst tun? Sollten wir auch gezielt Personal aus dem Ausland oder Migrantinnen und Migranten anwerben? Brauchen wir Zuwanderung in den Öffentlichen Dienst?
Silberbach: Absolut. Wenn wir uns bei dem Thema „Migration“ im Öffentlichen Dienst nicht besser aufstellen, haben wir keine Chance, dem Fachkräftemangel entgegenzuwirken.
Was muss konkret passieren?
Silberbach: In Deutschland müssen Berufsbildungs-Abschlüsse aus anderen Ländern anerkannt werden. Das geschieht heute oft nicht. Die Anerkennung scheitert an bürokratischen Hürden, die von der Politik so erlassen wurden. Es muss schneller möglich sein, dass etwa Krankenschwestern aus anderen Ländern bei uns arbeiten können. Wenn Kräfte aus dem Ausland das ein oder andere Manko haben, müssen wir sie eben bei uns schnell qualifizieren. Was mich ärgert: In der freien Wirtschaft wird über eine Anerkennung von ausländischen Berufsabschlüssen intensiv diskutiert, doch im Öffentlichen Dienst ist das kein Thema.
Sie haben früher als Verwaltungsfachangestellter gearbeitet, zuletzt im Kölner Ordnungsamt. Würden Sie heute als junger Mensch noch einmal in den Öffentlichen Dienst gehen?
Silberbach: Ich würde mich uneingeschränkt wieder für den Öffentlichen Dienst entscheiden.
Trotz aller Defizite?
Silberbach: Ja, weil es enorm sinnstiftend ist, für das Gemeinwesen und damit das Gemeinwohl zu arbeiten. Weil ich für das Gemeinwohl so brenne, würde ich es wieder tun.
Zur Person: Ulrich Silberbach, 61,ist seit 2017 Bundesvorsitzender der Interessenvertretung und Gewerkschaft „DBB Beamtenbund und Tarifunion“. Zuvor war er von 2011 an stellvertretender Bundesvorsitzender der Organisation. Der gebürtige Kölner steht an der Spitze einer Gewerkschaft mit über 1,3 Millionen Mitgliedern. Der Beamtenbund reklamiert für sich, „die große deutsche Interessenvertretung für Beamte und Tarifbeschäftigte im Öffentlichen Dienst und im privaten Dienstleistungssektor zu sein“.