Gartenpartys in 10 Downing Street, das Königshaus in der Krise und dazu – strukturell – die Folgen des Brexit. Großbritannien ging es schon besser. Wie sehr hat der Austritt aus der EU dem Vereinten Königreich wirtschaftlich bis heute geschadet?
Lisandra Flach: Jüngste Zahlen zeigen, dass die Folgen beträchtlich sind: Ende 2020 hatten sich eigentlich Anzeichen einer Erholung des britischen Handels vom Covid-19-Schock abgezeichnet. 2021 hat sich diese Erholung jedoch nicht fortgesetzt – im Gegenteil: Anders als der Euroraum, der das Vorkrisenniveau im Oktober 2021 bereits um vier Prozent übertroffen hat, stagniert das Vereinigte Königreich auf einem deutlich niedrigen Niveau. Gleichzeitig beobachten wir, dass die EU im Verlauf der Pandemie ihren Handel zunehmend weg vom Vereinigten Königreich leitet. Der britische Anteil an den EU-27 Warenimporten und -exporten gingen stark zurück.
Für wie viele Milliarden – quasi im Ärmelkanal versenkte – Pfund ist der britische Ex-Premier und Initiator des Brexit-Referendums David Cameron also verantwortlich?
Die Langzeitfolgen lassen sich bislang noch gar nicht exakt beziffern. Klar ist: Der Brexit verursacht deutlich höhere Handelskosten für die Insel. Da viele Zwischenprodukte betroffen sind, wird auch die Endproduktion im Vereinigten Königreich teurer. Durch die Corona-Krise ist mit weiteren Unterbrechungen in einer bereits gestörten Lieferkette zu rechnen. Und es entsteht zusätzlicher Inflationsdruck.
Und wie sehr haben die EU und Deutschland ökonomisch unter dem Brexit gelitten?
Flach: Insgesamt kann man sagen, dass der Brexit Großbritannien wirtschaftlich härter trifft als die EU. Das gilt insbesondere für Güter, bei denen es nicht viele Lieferanten gibt. 64 Prozent der Waren, die das Vereinigte Königreich von fünf oder weniger Zulieferern einführt, stammen aus EU-Ländern. Im Gegensatz dazu stammen in fast allen EU27-Ländern weniger als 10 Prozent dieser Art von Waren aus dem Vereinigten Königreich. Die Herausforderungen und negativen Folgen für Europa gehen jedoch weit darüber hinaus: Mit dem Brexit hat die EU etwa ein Sechstel ihrer Wirtschaftskraft und einen weitaus größeren Teil ihres außen- und sicherheitspolitischen Gewichts verloren. Das Vereinigte Königreich ist ein Partner mit erheblichem globalem Einfluss, und mit seinem Austritt entsteht auch eine Finanzierungslücke, die zum Teil durch höhere Beiträge der verbleibenden Mitgliedstaaten geschlossen werden muss.
Wo sind derzeit die größten Probleme?
Flach: Ein großes Problem ist die Bürokratie: Für die meisten Produkte sind seit Januar 2021 zum Beispiel Inspektionsbescheinigungen oder weitere Dokumente nötig, um die Grenze zwischen dem Vereinigten Königreich und der EU passieren zu dürfen. Das kostet Zeit und Geld. Diese neuen Hindernisse sind verheerend für die Unternehmen in der EU und im Vereinigten Königreich. Die hohe Belastung durch die neuen Zollanforderungen und die große Menge an neuem Papierkram verschlechtern die Geschäftsaussichten.
Haben Sie ein weiteres Beispiel?
Flach: Ein anderes Problem ist die Unsicherheit, die mit dem Handelsabkommen nicht vollständig beseitigt werden konnte. Viele kritische Punkte wurden zwar geregelt, aber mit einem Zeitrahmen versehen, in dem sie neu verhandelt werden können. Stichwort: Fischerei. Oder: die nordirische Grenze. Das bedeutet, dass trotz des Handelsabkommens nicht alle handelspolitischen Unsicherheiten, die durch ein umfassenderes und dauerhaftes Abkommen hätten beseitigt werden können, beseitigt sind.
Was muss passieren, damit die Handelsbeziehungen wieder prosperieren?
Flach: Die Austrittsverhandlungen waren lang und unerfreulich. Die EU sollte in den bilateralen Verhandlungen pragmatischer vorgehen und weniger Rosinenpickerei betreiben. Andernfalls bleibt ihr nichts anderes übrig, als die von anderen Ländern festgelegten Normen und Standards für die internationalen Beziehungen zu übernehmen.
Wie stellt Großbritannien sich denn nun auf? Mit wem sind Handelsabkommen schon unter Dach und Fach? Wie ist die globale wirtschaftliche Position?
Flach: Das Vereinigte Königreich ist dabei, Handelsabkommen mit mehreren Partnern zu verhandeln. Aber selbst wenn die Briten politische Unterstützung für die Unterzeichnung von Handelsabkommen mit anderen Ländern finden, ist die Vorstellung, dass der Handel mit der Europäischen Union durch einen intensiveren wirtschaftlichen Austausch mit Ländern wie den USA oder etwa Indien ausgeglichen werden könnte, irreführend. Jahrzehntelange Forschung in den verschiedensten Wirtschaftsräumen zeigt, dass die Nachbarländer stets die größte Bedeutung für den Austausch mit Waren und Dienstleistungen haben. Deswegen ist Integration mit Europa nicht so ohne Weiteres durch andere Partner zu ersetzen.
Und sind positive wirtschaftliche Effekte für Großbritannien erkennbar?
Flach: Derzeit können wir weder für das Vereinigte Königreich noch für die EU Vorteile erkennen. Die negativen Auswirkungen werden uns allerdings noch lange Zeit beschäftigen.
Großbritannien war für Bayern als Handelspartner wichtiger als es das Königreich für Gesamtdeutschland war. Welche Probleme haben vor allem bayerische Mittelständler?
Flach: Die Zunahme an Bürokratie sowohl was den Übertritt von Waren als auch den Austausch von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern angeht, trifft insbesondere kleine und mittelgroße Unternehmen in Bayern besonders hart. Mit ihrem Geschäft auf andere Märkte auszuweichen, ist für sie schwierig, denn die damit verbundenen Fixkosten kaum zu stemmen sind. Auch wenn einige Barrieren noch nicht in Kraft getreten sind, da das Vereinigte Königreich ihre Einführung verschoben hat, müssen die Unternehmen bereits jetzt eine große Menge an Bürokratie bewältigen.
In einem Wort: Der Brexit ist … ?
Flach: …ein Loser’s Game, beide Seiten verlieren, und er ist das Ende des über 50 Jahre andauernden Trends zu mehr politischer Integration in Europa. Das ist ernst. Und wie gesagt: Die Folgen sind noch lange nicht bewältigt.
Zur Person: Lisandra Flach ist Leiterin des Ifo-Zentrums für Außenwirtschaft und Professorin für Volkswirtschaftslehre an der LMU-München.