Frau Nahles, in Ihrem Buch "Frau, gläubig, links" zitieren Sie die Punkband "Die Ärzte" mit der Erkenntnis: "Es ist nicht Deine Schuld, dass die Welt ist, wie sie ist. Es wär nur Deine Schuld, wenn sie so bleibt." Wie wollen Sie als Chefin der Bundesagentur für Arbeit dem hohen Anspruch gerecht werden?
Andrea Nahles: Indem wir verstehen, dass wir es mit Menschen zu tun haben, die oft mit mehr als einem Problem zu uns kommen. Mit Menschen, denen zum Beispiel mit dem Verlust des Arbeitsplatzes ein Stück Sicherheit abhandengekommen ist. Sie wurden rausgeworfen aus ihrem gewohnten Leben. Diese Menschen brauchen unsere Unterstützung. Und die können wir ihnen dank der vergleichsweise niedrigen Arbeitslosenzahlen auch intensiver als früher geben. Zum Glück sind die Zeiten vorbei, als unsere Vermittler und Fallmanager in den 2000er Jahren jeweils 300 bis 400 Menschen betreuen mussten. Heute sind es 150 bis 200. Wir können uns jetzt viel intensiver um unsere Kundinnen und Kunden kümmern.
Doch der Betreuungsaufwand bei Langzeitarbeitslosen ist immens.
Nahles: Wir müssen Langzeitarbeitslose intensiver begleiten. Dazu haben wir mit dem neuen Bürgergeld zusätzliche Möglichkeiten. Wir können Langzeitarbeitslosen auch leichter Grundkompetenzen vermitteln, wenn sie zum Beispiel sprachliche oder mathematische Defizite haben. Doch nicht alle Langzeitarbeitslosen sind bildungsaffin.
Also offen, sich weiterzubilden.
Nahles: Ja. Wir müssen nicht selten Überzeugungsarbeit leisten. Für meine Kolleginnen und Kollegen ist es oft schwierig, Menschen, die als Ungelernte von einem Helfer-Job in den anderen wechseln, davon zu überzeugen, dass sie sich qualifizieren sollten.
Angesichts des immer dramatischeren Arbeitskräftemangels sind Helfer-Jobs zum Teil ganz passabel bezahlt.
Nahles: Richtig, aber viele dieser Helfer-Jobs, etwa in der Logistik-Branche, können in Zukunft automatisiert und damit wegrationalisiert werden. In solchen Bereichen bleiben in der Zukunft eher Arbeitsplätze für höher qualifizierte Kräfte übrig. Deswegen werden wir Menschen verstärkt beraten, was langfristig beruflich auf sie zukommt. Beschäftigte im Helfer-Bereich, die jetzt noch ganz gut verdienen, können in einigen Jahren Probleme bekommen. Insgesamt ist hier einiges zu tun: Denn fast 70 Prozent der Langzeitarbeitslosen haben keinen formalen Bildungsabschluss. Wir müssen in die Zukunft dieser Menschen investieren. Jeder kann sich im Internet mit unserem Job-Futuromat selbst ein Bild machen, wie stark sein Beruf durch Automatisierung betroffen ist.
Was haben Sie dank des Futuromaten gelernt?
Nahles: Dass es einen ganz klaren Trend zu einer höheren Qualifizierung gibt. Dabei beschleunigt Künstliche Intelligenz diese radikale Entwicklung. Menschen werden künftig häufiger die Arbeiten von Robotern und Künstlicher Intelligenz kontrollieren.
Ist der Mega-Trend Beschäftigten ausreichend bewusst?
Nahles: Viele denken nicht darüber nach, zumal der Arbeitsmarkt wegen des enormen Fachkräftemangels in hohem Maße aufnahmefähig ist. Ich will die Menschen mit meinen Warnungen nicht verunsichern, sondern ihnen helfen, über den Tellerrand hinauszuschauen. Denn wir brauchen in einem Land mit einer stark alternden Gesellschaft auch in Zukunft jeden, der mit anpackt.
Für Sie ist ein gutes Leben ohne gute Arbeit nicht möglich. Was macht gute Arbeit aus?
Nahles: Gute Arbeit ist mehr als Existenzsicherung. Sie gibt Sinn. Dank ihrer Arbeit haben Berufstätige eine Vorbildfunktion für jüngere Menschen. Es ist ein erfüllendes Gefühl, Wissen weitergeben zu können und Kollegialität zu erleben. Ob Müllwerker oder Professor: Jeder übt eine gesellschaftlich wichtige Aufgabe aus. Gute Arbeit geht über gute Löhne hinaus. Wer sich mit seiner Arbeit identifiziert, ist flexibel und bereit, eins draufzulegen, wenn es mal eng wird.
Letzteres Zusatz-Engagement soll unter jungen Beschäftigten, die der Generation Z angehören, nicht sonderlich ausgeprägt sein.
Nahles: Die Erwartungshaltung hat sich nicht zuletzt durch die Corona-Zeit verändert – und das nicht nur unter jungen Menschen. Der Wunsch, flexibler zu arbeiten, ist deutlich größer geworden. Schon bei der Einstellung machen viele jüngere Menschen die Möglichkeit, auch im Homeoffice tätig sein zu können, zur Bedingung. Die Arbeitgeber sind nun gut beraten, in ihre Betriebe reinzuhören. Und sie sollten die Beschäftigten fragen, was sie tun können, damit diese in den Unternehmen bleiben.
Was sollten die Arbeitgeber Frauen anbieten?
Nahles: Das kann ich so pauschal nicht sagen. Eine Idee wäre, dass Arbeitgeber weibliche Beschäftigte fragen, was notwendig ist, dass sie statt bisher 20 künftig 30 Stunden arbeiten. Viele Frauen würden gerne länger arbeiten, wenn sie ihre Arbeitszeit stärker selbstbestimmt festlegen könnten. Frauen ist schon geholfen, wenn sie morgens eine halbe Stunde später kommen dürfen, damit sie ihr Kind zur Kita bringen können. Wir müssen Arbeitszeiten besser an das Leben der Menschen anpassen. Gute Arbeit muss mit dem Lebensrhythmus der Familie in Einklang stehen.
Dabei scheinen einige junge Menschen den Einklang von Leben und Arbeit sehr ernst zu nehmen und bei Einstellungsgesprächen zu fordern, dass sie ihren Hund ins Büro mitnehmen dürfen und keine einzige Überstunde machen müssen.
Nahles (lacht): So etwas irritiert mich auch manchmal. Wir müssen Arbeit immer wieder neu aushandeln. Der Arbeitsmarkt verändert sich in Deutschland stärker als in anderen Ländern, weil wir ein massives demografisches Problem haben. Der deutsche Arbeitsmarkt wandelt sich von einem Arbeitgeber- zu einem Arbeitnehmer-Arbeitsmarkt. Fragen der Work-Life-Balance müssen neu ausgehandelt werden, wie meine Generation die Verteilung der Arbeit zwischen Frau und Mann in Familien neu ausgehandelt hat. Aushandeln heißt aber auch an die jüngere Generation gerichtet: Arbeit ist kein Ponyhof.
Wie verhindern wir, dass der Arbeitskräftemangel eine Gefahr für den Standort Deutschland wird? Sie fordern, man müsse auf alle Knöpfe drücken. Welche Knöpfe haben Sie im Blick?
Nahles: Die positive Nachricht ist: Anders als die Pandemie, die über uns hereinbrach, lässt sich der Fachkräftemangel durch das Drücken einiger Knöpfe positiv beeinflussen. Das Problem kann vielleicht gelöst, zumindest aber deutlich gemildert werden.
Doch noch einmal: Wie funktioniert das konkret?
Nahles: Der erste Knopf besteht sicher darin, dass Frauen mehr Stunden bezahlter Arbeit schaffen. Dieses Arbeitskräfte-Potenzial könnten wir relativ leicht heben. Der zweite Knopf bezieht sich auf junge Menschen. Deutschland kann es sich nicht leisten, dass jährlich rund 46.000 Jugendliche die Schule ohne Abschluss verlassen.
Wie können die Arbeitsagenturen den Problem-Jugendlichen helfen?
Nahles: Indem wir ihnen doch noch den Weg in die duale Berufsausbildung mit einer Lehre ebnen, etwa dank einer assistierten Ausbildung. Durch Coaching helfen wir, dass die Jugendlichen pünktlich in den Betrieben erscheinen. Mein Appell an die Arbeitgeber lautet: Gebt auch nicht so idealen Bewerbern eine Chance. Wir helfen Euch dann. Dafür haben wir Geld und Personal. Doch für all das brauchen die Arbeitsagenturen die Daten der Jugendlichen ohne Schulabschluss.
Daran hapert es aber noch vielfach in Deutschland.
Nahles: Bis auf Hamburg und Bremen hat es noch kein Bundesland geschafft, mit uns den Datenaustausch vollumfänglich zu organisieren. Und das, obwohl ein Bundesgesetz genau das seit 2020 ermöglicht. Und wir leben im Jahr 2023! Ein bisschen mehr Speed wäre da gut. Die übrigen Bundesländer müssen mit uns rasch die Daten austauschen, damit die Arbeitsagenturen überhaupt in Kontakt mit den jungen Menschen treten können.
Ihnen ist es ein Anliegen, dass keiner in der Gesellschaft runterfällt, also allen geholfen wird. Ist das ein Herzensanliegen der Katholikin Nahles?
Nahles: Dazu muss man keine Katholikin sein. Zu der Auffassung sollte man auch als Sozialdemokratin, Christdemokratin, Grüne oder schlicht als Humanistin kommen. Und es ist eine Frage der Klugheit, mehr Jugendliche für die duale Ausbildung zu gewinnen. Wir wollen mit unseren Netzwerkpartnern dieses Jahr als zusätzlichen Knopf eine Praktikums-Initiative starten, damit Schülerinnen und Schüler in Berufe hineinschnuppern, was während Corona oft nicht gelungen ist.
Doch es gibt noch mehr Knöpfe, um dem Arbeitskräftemangel entgegenzuwirken.
Nahles: Einen zusätzlichen Knopf drücken wir, indem ältere Menschen länger arbeiten, bis zum Erreichen der gesetzlichen Altersgrenze oder auch darüber hinaus, wenn sie das wollen. Doch viele wollen nicht mehr Vollzeit arbeiten. Auch hier könnten Arbeitgeber und Beschäftigte miteinander reden. Arbeitgeber sind gut beraten, auf die Bedürfnisse der älteren Mitarbeitenden einzugehen. Dieses Umdenken setzt in den Firmen ein. In dem Eifel-Dorf, in dem ich lebe, gibt es einen Mann, der nach seiner Rente nach einigen Reisen in den Elektrobetrieb zurückgekommen ist und in Teilzeit die Auszubildenden mit betreut. Das macht ihm Spaß und das Unternehmen ist heilfroh.
Doch selbst wenn all diese Knöpfe ausgiebig gedrückt werden, ist der Arbeitskräftemangel zwar gelindert, aber noch lange nicht gelöst. Ohne eine stärkere Einwanderung geht es nicht.
Nahles: Das ist so. Wir brauchen gezielte Zuwanderung. Deutschland weist aber noch eine kurze Geschichte als Einwanderungsland auf. Andere Länder wie die USA oder Kanada sind viel länger unterwegs. Wir sind ein Einwanderungs-Anfänger. Deutschland ist oft noch zu kompliziert, etwa was die Anerkennung ausländischer Berufsabschlüsse betrifft. Für viele Zuwanderer ist zudem die deutsche Sprache ein Hindernis. Migranten sprechen hingegen oft Englisch.
Als Germanistin sagen Sie: "Die deutsche Sprache ist ein Wettbewerbsnachteil."
Nahles: Ich bedauere das, weil die deutsche Sprache sehr präzise und schön ist. Doch unsere Sprache ist nicht leicht zu lernen. Auch hier müssen wir flexibler werden und den Migranten beim Lernen der Sprache neue Wege ermöglichen. Es kommen schließlich nicht nur Fachkräfte, sondern Menschen zu uns. Und viele, die zu uns kommen, wandern wieder aus. Im vergangenen Jahr waren das 750.000 Menschen bei 1,14 Millionen Zuwanderern.
Woran liegt das?
Nahles: Auch wenn sich viele Unternehmer bei der Integration von Flüchtlingen in Deutschland sehr persönlich engagieren, gibt es noch immer keine echte gesamtgesellschaftliche Willkommens-Kultur für Arbeitskräfte in diesem Land.
Und wie läuft die Integration von Ukrainerinnen und Ukrainern in den Arbeitsmarkt?
Nahles: Die Integration läuft vergleichsweise schnell: 135.000 befinden sich in Integrationskursen, etwa 67.000 sind sozialversicherungspflichtig und 21.000 geringfügig beschäftigt. In München gibt es ein interessantes Projekt: Da haben wir alle Apotheker unter den Ukrainern gesucht. Für die haben wir 40 Apotheken in München gefunden, die nun die Patenschaft für diese Menschen übernommen haben, sie fachspezifisch sprachlich ausbilden und sie übernehmen wollen. Das ist eine tolle Geschichte, wie Integration laufen kann.
Doch sollte Englisch nicht zweite Amts-Sprache in Deutschland werden, um die Integration von Zuwanderern zu beschleunigen?
Nahles: Mit der Sprache offener zu sein, halte ich für richtig. In vielen Firmen, gerade im IT-Bereich, ist die Firmensprache bereits Englisch. Aber das geht nicht immer. Pflegekräfte müssen Deutsch lernen, damit sie von älteren Menschen verstanden werden. Es gibt aber noch einen weiteren Knopf, auf den wir drücken müssen, um dem Arbeitskräftemangel Herr zu werden. Doch danach fragen mich die Journalisten nie.
Hier kann rasch Abhilfe geschaffen werden: Was ist das für ein Knopf?
Nahles: Die Automatisierung ist ein wichtiger Knopf, auf den wir zur Bekämpfung des Fachkräftemangels drücken müssen. Um es am Beispiel der Bundesagentur für Arbeit deutlich zu machen: Wir haben 113.000 Beschäftigte. Davon werden absehbar 35.000 in den Ruhestand gehen. Wir brauchen als Behörde Automatisierung, um künftig unsere Leistungen mit weniger Menschen erbringen zu können. Denn auch wir spüren den Fachkräftemangel. Wir glauben nicht, dass wir diese 35.000 Menschen alle wieder rekrutieren können. Meine Devise heißt also: Automatisierung küsst Demografie. Wenn wir alle Knöpfe drücken, dann kann es gelingen. Es ist anspruchsvoll, aber wir können den Fachkräftemangel mildern. Deutschland ist das beliebteste nicht-englischsprachige Einwanderungsland. Wir sind ein demokratisch prosperierendes Land, das sich den Herausforderungen der Klima-Krise stellt. Jetzt müssen wir umparken im Kopf.
Das ist ein alter Opel-Spruch.
Nahles (lacht): Den Werbespruch habe ich geklaut, weil er so gut zu allen Transformationen, die wir in Deutschland bewältigen müssen, passt, ob es die Digitalisierung, die Klima-Krise oder die demografische Herausforderung ist. So ist "Umparken im Kopf" zu meinem Lieblings-Spruch geworden.
Andrea Nahles, 52, ist seit August 2022 Vorstandsvorsitzende der Bundesagentur für Arbeit und damit Nachfolgerin von Detlef Scheele. Die frühere SPD-Spitzenpolitikerin und einstige Bundesarbeitsministerin war zuvor Präsidentin der Bundesanstalt für Post und Telekommunikation.