Frau Rudloff, haben Sie noch Hoffnung, dass der Getreide-Deal durch Verhandlungen wieder in Kraft treten kann? Schließlich bombardiert Russland die ukrainische Hafenstadt Odessa und blockiert den Seeweg militärisch.
Bettina Rudloff: Schwer einzuschätzen. Man sollte aber auf jeden Fall weiter mit Moskau verhandeln. Es gibt ja nicht nur das geplatzte Getreide-Abkommen, das die sichere Passage von ukrainischen Exporten durch das Schwarze Meer regeln sollte. Eine zweite, weniger bekannte Vereinbarung zwischen den UN und Russland wurde parallel beschlossen. Es soll die ungehinderte Ausfuhr von russischen Agrarprodukten und Düngemitteln sicherstellen. Und da hat Russland noch bis vor Kurzem signalisiert, dass Verhandlungen über eine Neuauflage des Getreide-Deals denkbar wären, wenn man sich hier über Handelsverbesserung verständigen könnte. Falls es dabei um den Wegfall von Sanktionen geht, stünde die EU vor einem Dilemma. Aber vielleicht finden sich andere Erleichterungen.
Der ukrainische Präsident sucht im Gespräch mit der Nato nach Möglichkeiten, dennoch weiterhin Getreidetransporte über seine Schwarzmeerhäfen abzuwickeln. Halten Sie das für realistisch?
Rudloff: Da bin ich skeptisch. Zumal die Umsetzung des Getreide-Abkommens schon vor dem Ausstieg Russlands schwierig war, immer wieder unterbrochen wurde und zuletzt, was das Volumen betrifft, immer geringere Bedeutung hatte. Jetzt droht Russland offen mit militärischer Gewalt gegen Frachtschiffe. Die Frage ist auch, welche Reedereien das Risiko eingehen, die Schwarzmeerpassage zu nutzen und ob sich dafür Versicherungen finden würden. Abgesehen davon dürfte das Ganze so teuer werden, dass der Preisvorteil, der für die Schwarzmeer-Route sprach, verpuffen könnte.
Welche Folgen könnte das Scheitern des Abkommens für afrikanische Länder haben, die von Getreideimporten abhängig sind?
Rudloff: Der Preisauftrieb ist ein großes Problem für alle importierenden Länder, natürlich umso mehr, wenn es wirtschaftsschwache Länder sind, wie insbesondere in Afrika. Die Ukraine ist ein wichtiger Akteur auf dem Agrarsektor. Bei Weizen hält das Land einen weltweiten Marktanteil von rund zehn Prozent, zählt man Russland hinzu, sind es zusammen 30 Prozent. Wenn diese beiden Nationen gegeneinander Krieg führen, sind die Auswirkungen natürlich gewaltig. Seit dem Stopp des Getreide-Deals sind die Preise um sieben Prozent gestiegen. Das hört sich nicht so viel an. Doch man muss wissen, dass sie vor Kriegsbeginn ohnehin schon sehr hoch lagen. Als die Russen einmarschierten, verdoppelten sie sich zwischenzeitlich. Daran, dass sie nach dem Abkommen wieder auf Vorkriegsniveau fielen, sieht man, dass der Deal in Bezug auf den Weltmarkt funktionierte. Aktuell wird die Versorgungsunsicherheit zudem auch dadurch verschärft, dass der Topexporteur für das wichtige Grundnahrungsmittel Reis – Indien – seine Exporte drosselt.
Brüssel hat erklärt, dass nahezu das gesamte für den Export bestimmte ukrainische Getreide über von der EU und der Ukraine ausgebaute Handelswege laufen könnte. Ist das zu vollmundig?
Rudloff: Die Transporte über EU-Gebiet – also über die sogenannten Solidaritätskorridore – sind schon sehr relevant und könnten weiter ausgebaut werden: In der Spitze betrug das Volumen vier Millionen Tonnen Getreide pro Monat, im Durchschnitt zwei bis drei Millionen. Insgesamt liefert die Ukraine im Schnitt sechs Millionen Tonnen im Monat.
Kritiker bemängeln, dass diese Alternative sehr kostspielig sei.
Rudloff: Sie ist aus zwei Gründen teuer. Um ein Frachtschiff zu ersetzen, benötigt man tausende Lastwagen, sehr viele Güterzüge und viele Binnenschiffe. Hinzu kommt, dass auf der Route zu europäischen Ausweichhäfen Zwischenstationen nötig sind, um das Getreide umzuladen. Das kostet Zeit und Geld. Die Frage ist, ob sich das dann für die ukrainischen Landwirte noch lohnt. Der politische Preis wäre sehr hoch, wenn die Ukraine als wichtiger Getreideexporteur mittel- oder langfristig auf dem Weltmarkt keine Rolle mehr spielen würde. Das muss die EU verhindern.
Landwirte in osteuropäischen EU-Ländern fürchten, durch preiswertes Getreide aus der Ukraine auf dem Markt nicht mehr konkurrenzfähig zu sein.
Rudloff: In einigen Regionen mögen die Landwirte Einbußen haben. Gleichzeitig haben wir ja ein weit höheres Preisniveau auf dem Markt als etwa vor zehn Jahren. Zudem gab es ja auch EU-Ausgleichszahlungen von rund 150 Millionen Euro. Die angespannte Situation kann auch von einigen Regierungen in Osteuropa politisch instrumentalisiert werden. Wichtig ist, dass Brüssel diese Probleme schnell löst, damit die EU nach außen ein Zeichen der Einheit und Solidarität mit der Ukraine sendet.
Nutzt Russland seine Nahrungsmittelexporte strategisch?
Rudloff: Russland ist weltweit die Nummer eins, was den Weizen-Export betrifft. Danach kommen die EU, Kanada, Australien, die USA, Argentinien und eben die Ukraine. Westliche Staaten könnten eine Getreideallianz – so etwas wie eine Getreide-Nato – gründen, die einen deutlich größeren Anteil am Weltmarkt hätte als Russland. Das wäre ein Signal für eine gemeinschaftliche Versorgung, das nicht zu überhören wäre.
Was müsste weiter passieren, um Hungersnöte zu verhindern?
Rudloff: Neben einer Getreideallianz würden weitere internationale Bündnisse helfen, Preise stabil zu halten oder zu verringern. Zum Beispiel mit Indien beim Thema Reis. Die EU verhandelt da aktuell ein Handelsabkommen und könnte darauf hinwirken, dass Indien auf öfter genutzte Exportrestriktionen verzichtet. Koordinierte Stärke schafft Vertrauen, beruhigt die Weltmärkte. Natürlich muss humanitäre Hilfe effektiver in Notsituationen greifen. Auf der anderen Seite sehen wir, dass viele von Hunger bedrohte Länder eigene, erfolgreiche Strategien in der Landwirtschaft entwickelt haben.
Zur Person: Dr. Bettina Rudloff, 54, ist als Agrarökonomin bei der Stiftung Wirtschaft und Politik tätig. Sie forscht zu Agrarpolitik und Welternährung, Handels- und Entwicklungspolitik.