Der Publizist Gabor Steingart ist ein ebenso fleißiger Bücherschreiber und Provokateur wie Hans-Werner Sinn. Und so hat sich der Journalist zum anstehenden Ruhestand des Ökonomen ironische Gedanken gemacht. Dabei ist eine witzige Überlegung herausgekommen. Wäre der Professor ein Buddhist, spekuliert Steingart hinterfotzig, würde er im nächsten Leben wohl als Politiker wiedergeboren.
Welcher Politikertyp nach einem sinnschen Transformationsprozess Wähler beglücken könnte, lässt der Autor offen. Dabei gäbe der Ökonom (natürlich mit Abraham-Lincoln-Hals-Kinn-Backen-Bart) sicher eine interessante, widerborstige Mischung ab. Eine Mixtur aus den Andersdenkern Wolfgang Bosbach (CDU), Peter Gauweiler (CSU) und Bernd Lucke (Alfa).
Sinn wäre wohl immer in der Opposition
Auf alle Fälle würde sich Sinn in der Opposition wiederfinden – und sei es in der eigenen Partei. Zum Mainstream, einem opportunistischen Parteigänger, taugt der 67-Jährige nicht. Dafür ist er ein zu notorischer Gegen-den-Strich-Sprecher, was auf seine politische Bewusstwerdung zurückgeht. Darüber gibt Sinn inzwischen Auskunft. Bei seiner Abschiedsvorlesung als Wirtschafts-Professor in München kommt ein vielschichtiger Charakter zum Vorschein, der mit Stempeln wie „Euro-Kritiker“ oder „Neoliberaler“ unzureichend beschrieben ist. Sinn entstammt einer Zeit, als junge Menschen nach den bleiernen Jahren der Verdrängung des Nazi-Unrechts gegen das Establishment aufbegehrten. Der aus dem westfälischen Brake bei Bielefeld kommende Wirtschaftswissenschaftler ist ein 68er-Revoluzzer, auch wenn das angesichts seiner Vorliebe für dreiteilige Anzüge und Krawatten unwahrscheinlich klingt.
Der Ökonom startete links und hat sich nach dem Marsch durch die Institutionen irgendwo weiter rechts eingereiht. Ob er nun als Liberaler oder Konservativer durchgeht, darüber streiten die Gelehrten. Im Innersten ist er aber ein Freigeist. Bei seinem Vortrag in München lässt Sinn ein halbes Jahrhundert deutscher Wirtschaftsgeschichte Revue passieren und in seine wilde Vergangenheit blicken. Er gesteht, einst bei den Falken, einer sozialistischen Jugendorganisation gewesen zu sein. So in Outing-Laune lächelt Sinn mit eisgrauem Kapitänsbart in den voll besetzten Saal der Ludwig-Maximilians-Universität und sagt: „Als Linker gehörte ich auch dem sozialdemokratischen Hochschulbund an.“ Da kam es natürlich zwangsläufig zu Demonstrationen gegen den Vietnam-Krieg.
Sinn wollte stets der Wirtschaftswissenschaftler für die Bürger sein
Sinn mag solche Momente, in denen er seine Zuhörer irritiert. Nach vollendeter Provokation schaut er mit sich zufrieden in die Runde und grinst. Deutschlands bekanntester und umstrittenster Ökonom spricht druckreif in kurzen, knappen, manchmal ätzenden Sätzen, ohne jedes „Äh“ und „Ähm“. Das kann so kein deutscher Ökonom. Und da Sinn glaubt, ein Volkswirt müsse dem Volk, nicht den Politikern dienen, hat er sich mit Interviews und Büchern leidenschaftlich wie kein anderer Wirtschaftswissenschaftler hierzulande in öffentliche Debatten eingemischt. Wer derart in den Medien präsent ist und polarisiert, schafft sich gleichermaßen Fans und Feinde. Ob er den Mindestlohn, die Flüchtlingspolitik von Angela Merkel oder die aus seiner Sicht zu einer Transferunion verkommene Euro-Gemeinschaft attackiert, der Professor verschafft seinen Worten Nachhall. Dabei benutzt Sinn geschickt die Medien, die ihn aber auch kritisieren, was ihn bis heute fuchst.
Wer dem Ökonom vorhält, mit seinen Einschätzungen zur Konjunktur oder wirtschaftspolitischen Themen daneben zu liegen, darf sich auf Widerworte gefasst machen. Hier tritt er als typischer 68er auf, der Dinge gerne ausdiskutiert. Von seinem Naturell her, einer Spezial-Mischung aus überbordendem Selbstbewusstsein, argumentativer Schärfe und umfangreichem Wissen, ist er Politikern wie dem Grünen Joschka Fischer oder dem CSU-Mann Peter Gauweiler nicht unähnlich. Sie alle stärkten in der 68er- Zeit ihr Ego und haben Deutschland – auf ihre linke oder rechte Weise – bereichert. Sinn selbst, der Ende März kommenden Jahres als Professor in München und Chef des Ifo-Institutes aufhört, hat sich für die Zeit des Ruhestandes eine Strategie zurechtgelegt. Als er dem Publikum in München verkündet, dann seine Schuldigkeit getan zu haben und sich aus dem Tagesgeschäft zurückzuziehen, schauen ihn einige ungläubig an. Sinn soll Ruhe geben?
Der Professor kritisiert auch Angela Merkels Kurs in der Euro-Politik
Der Unruhe-Stifter schweigt, wenn Griechenland wieder Hilfe braucht? Ja, er werde sich mit seiner Frau Gerlinde, die auch eine Ökonomin ist, mehr dem Privatleben widmen, verspricht er, um schelmisch hinzuzufügen: „Aber ich bleibe ein politisch und ökonomisch denkender Mensch.“ Sinns Gegner dürfen also damit rechnen, dass er als provozierender Privatmann noch in der ein oder anderen Talkshow auftaucht. Dann könnte er knallige Thesen vertreten, wie bei seiner Abschiedsvorlesung, wo er mit schneidigen Sätzen zur Euro-Krise die Erwartungen erfüllt: „Frau Merkel wird zum Gläubiger der Südländer.“ Die seehofergestählte Kanzlerin steckt ganz andere Attacken als diese weg. Und sie würde sicher als Kanzlerin und CDU-Chefin wiedergeboren. Wenn dann ein Herr Hans-Werner Sinn mit Abraham-Lincoln-Hals-Kinn-Backen-Bart Einlass in die CDU begehrt, muss Merkel auf der Hut sein.