Umkreist von Bäumen liegt die kleine Kirche an diesem Dienstagnachmittag fast verschlafen da. Das Dach des angelsächsischen Gotteshauses aus dem 13. Jahrhundert ragt in den wolkenbehangenen Himmel, wohl ebenso alt sind manche der verwitterten Grabsteine im Garten. Es könnte ein Ort der Einkehr sein, hier in Sevington, einem Vorort von Ashford in der englischen Grafschaft Kent. Oft spazierten die Bewohner des Nachbardorfs Mersham im Frühjahr hierher, über Felder und weite Wiesen, wo Hasen sich in den Hecken versteckten und Vögel vor sich hin zwitscherten. Zwischen der Kirche und der Gemeinde mit seinen Tudor-Häusern herrschte trotz der nahen Autobahn M20 vor allem Idylle. Im Juli aber hatte die Ruhe ein Ende.
Ab 1. Januar Warteplatz für 2000 Lastwagen
Seitdem ist Baustelle. Die Bagger rattern und schaufeln Erde aus der riesigen Grube, ein Lastwagen nach dem anderen trägt den Schutt ab, Arbeiter in leuchtender Schutzkleidung sind im Einsatz. Am Tag und mittlerweile auch nachts wird hier gearbeitet. Denn: Es eilt. Ab 1. Januar schon sollen auf der 27 Hektar großen Fläche knapp 2000 Lastwagen Platz finden, um zum einen vor der Ausreise in die EU oder nach der Ankunft vom Kontinent abgefertigt zu werden. Die Zollstation soll zum anderen auch das Nadelöhr Dover entlasten.
Aktuell können die Lastwagen direkt auf die Kanalfähre oder zum Eurotunnel in Folkestone rollen, um ihre britischen Waren auf den europäischen Kontinent zu liefern. Am 31. Dezember aber endet die Brexit-Übergangsperiode. Das Vereinte Königreich, das zum 31. Januar dieses Jahres aus der EU austrat, ist dann auch kein Mitglied des europäischen Binnenmarkts mehr und gehört auch nicht mehr zur Zollunion. Weil die Lage des Hafens von Dover inmitten der berühmten Kreidefelsen keine Erweiterung erlaubt, werden Anlagen im Hinterland wie jene in Ashford notwendig, um die zusätzlichen Kontrollen zu bewerkstelligen. Die britische Regierung wurde sich dieser Realität offenbar erst im Sommer bewusst. Sie kaufte rasch Parkplätze sowie verfügbares Land auf – und begann die gigantische Zollstelle zu bauen.
Brexit: Den Menschen in Kent ist angst und bange
Die Menschen in Kent, die beim Referendum 2016 mit einer klaren 59-Prozent-Mehrheit für den Austritt aus der EU stimmten, blicken nun mit Sorge in die ungewisse Zukunft. Könnte sich der „Garten von England“, wie die Grafschaft voller Stolz genannt wird, zur „Toilette von England“ entwickeln? Das befürchten Kritiker, wenn künftig zigtausende Lkw in Staus feststecken. Schon jetzt finden die Menschen in den Büschen am Straßenrand und auf Parkplätzen regelmäßig uringefüllte Zwei-Liter-Flaschen, wie Sharon Swandale erzählt.
Sie lebt am Ortsrand von Mersham, nur wenige Minuten von der Baustelle entfernt, und ist Sprecherin der lokalen Gruppe „Village Alliance“, die seit der Planung des Areals die Bewohner über die Maßnahmen informiert und mit Erfolg dafür kämpfte, das ein Teil der Fläche der Natur überlassen bleibt – als grüne Pufferzone zwischen Mersham und dem Riesenparkplatz.
Aus Swandales Stimme hört man großes Erstaunen heraus, wenn sie über die Baustelle redet. „Alles geht so schnell“, sagt die Gartendesignerin und zeigt auf den geteerten Teil, wo letzte Woche lediglich ein Haufen aufgeschüttete Erde lag. Sie sei nicht per se gegen das Projekt, auch weil die Zusammenarbeit mit der Regierung gut laufe und die Fläche seit vier Jahren Baugebiet ist und damit klar war, dass hier eines Tages etwas errichtet werde. „Aber wir versuchen, die negativen Auswirkungen auf die Anwohner zu reduzieren“, so die Britin, die den Umstand nicht unerwähnt lässt, dass die Gegend um Ashford ein Überschwemmungsgebiet ist. Je mehr Fläche zubetoniert wird, desto mehr kommt das Wasser woanders raus, was die Arbeiten immer wieder blockiert.
Während an diesem Tag die Sonne über der weiten Landschaft unter- und das Flutlicht über der Baustelle angeht, präsentiert sich die Transport- und Logistikbranche frustriert über den Mangel an Informationen vonseiten der Regierung.
Warnung vor täglichen Staus mit 7000 Lkw
So sei etwa die Software nicht bereit. Viele Unternehmen würden auch gar nicht wissen, wie sie sich überhaupt vorbereiten sollen. Britische Behörden schätzen, dass pro Jahr 270 Millionen neue Zollerklärungen nötig werden. Bis zu 10.000 Trucks überqueren täglich den Ärmelkanal – und nur noch vier Wochen bleiben, um ein absolutes Chaos zu verhindern. Das wird im Falle eines No Deals erwartet. In einem Worst-Case-Szenario müsse man mit „täglichen Staus von bis zu 7000 Lastwagen“ rechnen, warnte sogar der für die Brexit-Vorbereitungen zuständige Staatssekretär Michael Gove. Noch verhandeln Brüssel und London in letzter Minute über ein Freihandelsabkommen.
Aber selbst wenn es zu einer Einigung kommt, werde es massive Beeinträchtigungen geben, mahnen sowohl Unternehmen als auch Handelsexperten. Hinzu kommt der Bürokratieaufwand. Um das Chaos zumindest in einer Richtung einzudämmen, will Großbritannien in den ersten sechs Monaten 2021 aus der EU kommende Lastwagen ohne größere Kontrollen durchwinken.
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