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Großbritannien: London will die Reichen stärker besteuern

Großbritannien

London will die Reichen stärker besteuern

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    Der britische Finanzminister Jeremy Hunt muss ein Finanzloch stopfen.
    Der britische Finanzminister Jeremy Hunt muss ein Finanzloch stopfen. Foto: Kin Cheung, dpa

    Haferflocken, Dosen-Thunfisch, Toilettenpapier: Charles stellt seine gefüllte Plastiktüte neben einen Stuhl und seinen Energie-Shake vor sich auf den Tisch. Dann setzt er sich. "Die Zeiten sind hart", sagt der durchtrainierte Mann im blauen Trainingsanzug. Der 62-jährige Vater eines Teenagers kommt immer mal wieder in die Tafel im Londoner Stadtteil Hackney im Nordosten der Stadt, seit der frühere IT-Experte in der Folge eines Herzinfarktes den Anschluss in der Branche verloren hatte. Aufgeben wollte er nicht. Er begann Sport zu machen und will nun als Personal Trainer Arbeit finden. Bis es so weit ist, muss er schauen, wo er bleibt.

    Die staatlichen Leistungen reichen Arbeitssuchenden auf der Insel zum Leben und Überleben längst nicht mehr aus. Familien gerieten in so einer Situation schnell ins Straucheln, erklärt die Leiterin der Tafel, Pat Fitzsimons. Doch nicht nur Menschen ohne Beschäftigung sind häufiger auf Hilfsorganisationen angewiesen. Auch Angestellte kommen immer öfter, weil sie sich den Einkauf im Supermarkt trotz zusätzlicher Hilfen durch den Staat nicht mehr leisten können.

    Die Ungleichheit in Großbritannien ist größer als in vielen anderen Ländern

    Die gestiegenen Lebenshaltungskosten und Energiepreise haben dazu geführt, dass den Menschen das Geld ausgeht. Erschwerend hinzu kommt aber noch etwas anderes: "Großbritannien hat die höchste Inflation seit vier Jahrzehnten. Das Niveau der Sozialleistungen ist jedoch real niedriger als in den 1990er-Jahren", erklärt Kartik Raj von Human Rights Watch. Außerdem wurde der gesetzliche Mindestlohn unter der konservativen Regierung von umgerechnet rund 10,30 Euro pro Stunde bis zuletzt nicht weiter angehoben und die Gehälter im öffentlichen Dienst deutlich langsamer als in der freien Wirtschaft erhöht.

    In der Folge ist die Ungleichheit größer als in vielen anderen Ländern, wie Experten betonen. Zusätzlich schuf der Brexit ein wirtschaftlich unsicheres Klima. Ausländische Unternehmen investierten in den vergangenen Jahren auf der Insel weniger, der Mangel von Fachkräften wurde verstärkt. Darunter litten das Wachstum und der Wohlstand. In dieser Situation musste Finanzminister Jeremy Hunt am Donnerstag im Parlament seinen lang erwarteten mittelfristigen Finanzplan für Großbritannien vorlegen. Experten bezeichneten ihn im Vorfeld als den wichtigsten seit Jahrzehnten. Das mediale Interesser war entsprechend groß.

    Millionen von Menschen sind vom Anstieg der Lebenserhaltungskosten in Großbritannien betroffen.
    Millionen von Menschen sind vom Anstieg der Lebenserhaltungskosten in Großbritannien betroffen. Foto: Frank Augstein, dpa

    Am maroden Gesundheitssystem in Großbritannien wird nicht weiter gespart

    "Wir werden uns dem Sturm entgegenstellen", sagte Hunt und sprach von schwierigen Entscheidungen, die aber für Stabilität sorgen, die Inflation senken und den Staatshaushalt ausgleichen würden. Dazu gehöre auch, die öffentlichen Ausgaben in einigen Bereichen deutlich zu senken. Für das marode staatliche Gesundheitswesen NHS sowie im Bereich Bildung werden die Ausgaben durch den Staat jedoch erhöht.

    In seinem Plan stellte Hunt den Ansatz seines konservativen Vorgängers Kwasi Kwarteng gewissermaßen vom Kopf auf die Füße. Anders als Kurzzeit-Premierministerin Liz Truss, die in Zeiten der Krise den Besserverdienenden im Land Steuererleichterungen versprach, sollen nun wohlhabende Briten und Unternehmen dazu beitragen, die Hilfen für Bedürftige angesichts der explodierenden Lebenshaltungskosten und Energiepreise zu finanzieren. Hierzu soll unter anderem die Höhe des Steuerfreibetrags für zwei weitere Jahre bis 2028 eingefroren und die Schwelle für den Spitzensteuersatz gesenkt werden, von einem Jahreseinkommen von etwa 170.000 Euro auf rund 140.000 Euro.

    Das Vertrauen der Wirtschaft ist weiter gering

    Auf dem Weg zu mehr Wachstum seien weitere Schulden keine Option, sagte Hunt in auffallend ruhigem Tonfall. Es ist Ausdruck einer Botschaft, die schon der neue Premierminister Rishi Sunak im Rahmen seiner Antrittsrede zu vermitteln versuchte: weniger Emotionen, mehr Vernunft. Die Kritik aus der Opposition fiel jedoch harsch aus. "Der Schlamassel, in dem wir uns befinden, ist das Ergebnis von zwölf Wochen Chaos, welches die Partei selbst ausgelöst hat", sagte die Labour-Abgeordnete und Schattenministerin Rachel Reeves und spielte damit auf das finanzpolitische Versagen von Sunaks Vorgängerin Liz Truss an. Schließlich hatte ihr vager Plan, Steuersenkungen durch Schulden in Milliardenhöhe gegenzufinanzieren, im September zu massiven Turbulenzen an den britischen Finanzmärkten gesorgt.

    Um ein erneutes Chaos an den Märkten zu unterbinden und den Ruf der Partei zu verbessern, strebt die neue Regierung unter Sunak nun einen deutlich moderateren Kurs an. Der 42-Jährige wurde letzten Monat im Schnellverfahren durch die konservativen Abgeordneten ins Amt gehoben, um einen raschen und reibungslosen Machtwechsel zu ermöglichen. Damit sollte auch das vermieden werden, was angesichts der historisch schlechten Umfragewerte der Partei im Moment keiner der Tories will: Neuwahlen.

    Doch das Vertrauen der Wirtschaft ist noch immer gering. Und auch die Wähler sind weiterhin nicht überzeugt von der Partei. Auch Pat Fitzsimons von der Tafel rechnet nicht damit, dass sich die Lage bald verbessert. "Wir eröffnen demnächst eine neue Tafel, um der steigenden Nachfrage gerecht zu werden." Und Charles? Er stellt sich auf einen harten Winter ein. "Ich werde weitermachen. Man hat ja keine Wahl."

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