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Gesundheit: Desaster in Großbritannien: Wenn selbst Besatzungen von Notarzt-Wagen streiken

Gesundheit

Desaster in Großbritannien: Wenn selbst Besatzungen von Notarzt-Wagen streiken

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    Beschäftigte und Pflegekräfte des Gesundheitsdienstes NHS verlangen eine deutliche Lohnerhöhung.
    Beschäftigte und Pflegekräfte des Gesundheitsdienstes NHS verlangen eine deutliche Lohnerhöhung. Foto: Peter Powell, PA Wire/dpa

    Die verwackelten Bilder zeigen signalgelbe Rettungswagen in nächtlicher Kulisse. Sie stehen in einer langen Schlange rechts und links einer Straße, die zum Krankenhaus in Peterborough führt, einer Stadt im Osten Englands. „Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie viele Wagen es genau waren“, sagt Hannah und blickt dabei auf den Bildschirm ihres Smartphones. 

    Ihr Vater, ein Diabetiker, lag nach einem Sturz fast zwei Tage in seiner Wohnung, bevor er gefunden wurde, berichtet die Frau, die ihren Nachnamen nicht nennen möchte, gegenüber Journalisten. Durch die Polizei zu Hilfe gerufene Rettungskräfte transportierten ihn vergangene Woche zu einer Klinik. Dort harrte er aus, rund 36 Stunden, erst im Rettungswagen, dann im Gang. Hannah drehte ein Video, um das Unfassbare zu dokumentieren. „Da war Blut auf dem Fußboden, in den Korridoren lagen Verletzte. Ich konnte es einfach nicht glauben.“

    Krankenschwester: Patienten in Großbritannien sind "nicht mehr sicher"

    Geschichten dieser Art werden in Großbritannien aktuell täglich berichtet. Die seit Jahren anhaltende Krise des nationalen Gesundheitsdienstes NHS eskaliert nun vollends. Ärzte, Pfleger, Krankenhausmanager und Rettungssanitäter sind sich einig: So schlimm war es noch nie. 

    Um auf die Lage aufmerksam zu machen und mehr Lohn einzufordern, haben Gewerkschaften zu Streiks aufgerufen. Seit Dezember gehen Pflegekräfte regelmäßig auf die Straße – aller Hürden zum Trotz. Denn das Streikrecht in Großbritannien gilt schon jetzt als besonders restriktiv. Während auch andere öffentliche Branchen wie Lehrer, Postbeamte, Busfahrer und Grenzschutzbeamte protestieren, erregt die Arbeitsniederlegung des NHS-Personals die Gemüter besonders. 

    Schließlich geht es dabei um eine Institution, die den Briten heilig ist. „Es fällt mir schwer, das so zu sagen. Aber unter den aktuellen Umständen sind Patienten in den öffentlichen Krankenhäusern nicht mehr sicher“, fasst Chelsea, eine 22-jährige Krankenschwester aus London, die Lage zusammen. „Wir wollen den Menschen helfen. Wir geben unser Bestes. Aber wir werden ihnen nicht mehr gerecht.“ 

    Zeitweise sind Patienten völlig auf sich gestellt

    Die junge Frau arbeitet dort, wo die Lage aktuell besonders brisant ist: in einer Notaufnahme. „Ich habe in den vergangenen Wochen ungewöhnlich viele Menschen auf unserer Station sterben sehen“, sagt sie. Sie beobachte täglich, wie Patientinnen und Patienten auf den Gängen warten müssen. Oft seien es die Rettungskräfte, die dann bei ihnen bleiben, weil Betten und Personal fehlen. Und das, obwohl sie längst zum nächsten Einsatz müssten. Zeitweise seien die Patienten auch völlig auf sich allein gestellt. Die Zustände sind beängstigend, auch weil der NHS gerade bei Notfällen als besonders gut galt. „Wir eilen von einem zum nächsten, haben kaum Zeit.“ 

    Laut Schätzungen des Berufsverbandes „Royal College of Emergency Medicine“ sterben in den Notaufnahmen aktuell jede Woche zwischen 300 und 500 Menschen an den Folgen von Verzögerungen.

    Verzweiflung von Patienten führt zu Beleidigungen

    Jetzt im Winter ist die Lage aufgrund von Infektionskrankheiten noch angespannter. Die Umfrage „British Social Attitudes“ ergab, dass die Zufriedenheit der Öffentlichkeit mit dem Gesundheitsdienst zwischen 2020 und 2021 von 53 auf 36 Prozent gesunken ist. Das ist der niedrigste Stand seit 1997. Im Gespräch mit britischen Bürgerinnen und Bürgern verfestigt sich der Eindruck, dass die Zustimmung seither weiter gefallen ist.

    „Weil die Patienten verzweifelt sind, werden wir oft beleidigt“, berichtet Aldwin, ein 44-jähriger Krankenpfleger und Teamleiter in einem Londoner Krankenhaus. „Der NHS ist nicht mehr, was er einmal war“, sagt Chelsea. „Wer im öffentlichen Gesundheitssystem arbeitet, macht das nicht des Geldes wegen.“ Auch wenn es in der aktuellen Diskussion natürlich auch um höhere Löhne geht. „Die meisten wählen diesen Beruf, weil sie sich den Menschen und der Medizin widmen wollen.“ Vor allem junge Pfleger fühlten sich desillusioniert. Die Zustände seien infolge der mangelnden Finanzierung sehr traurig.

    Konservative Politiker haben zu viel gespart

    Doch wie konnte es so weit kommen? Für die Zuspitzung der Lage sind die Sparmaßnahmen der konservativen Tories seit 2010 verantwortlich, betont Stuart Hoddinott von der Denkfabrik „Institute for Government“. Der Gesundheitsdienst wird, anders als in Deutschland, nicht über eine Versicherung, sondern über Steuern finanziert. Die konservative Regierung habe in den vergangenen zwölf Jahren jedoch nicht nur an den Löhnen gespart, es sei insgesamt deutlich weniger investiert worden.

    Es gibt weniger Betten und weniger Personal. Krankenhäuser wurden nicht restauriert, IT-Systeme nicht aktualisiert, technisches Equipment nicht erneuert. Geld wurde nur dann in die Hand genommen, wenn es zu spät ist. Großbritannien besitzt nur 8,8 Computertomografen pro eine Million Einwohner. In Deutschland sind es im Verhältnis etwa viermal so viele. Das System steckt schon lange in der Krise. „Als die Pandemie dann den NHS 2019 traf, war die Resilienz bereits sehr, sehr gering“, sagt der Experte. 

    In dieser Zeit haben Ärzte und Krankenpflege jedoch große Opfer erbracht, erzählt Aldwin. „Wir haben rund um die Uhr gearbeitet, kamen nur zum Schlafen nach Hause“, auch am Wochenende. „Wir riskierten unser Leben und unsere Gesundheit. Pfleger starben an Covid.“ 

    Briten machen bei Demonstrationen auf die Probleme des Gesundheitsdienstes NHS aufmerksam.
    Briten machen bei Demonstrationen auf die Probleme des Gesundheitsdienstes NHS aufmerksam. Foto: Danny Lawson, dpa

    Die Öffentlichkeit wusste dies zu schätzen. Die Mehrheit der Briten unterstützt den aktuellen Streik. An der Haltung der Regierung änderte sich in der Wahrnehmung der medizinischen Kräfte jedoch nichts. Im Gegenteil: Während Ex-Premierminister Boris Johnson die Sozialabgaben im Jahr 2021 noch erhöhen wollte, um mehr Geld in den NHS pumpen zu können, wurden diese Pläne im September vergangenen Jahres durch seine Nachfolgerin Liz Truss über den Haufen geworfen.

    Rund 2000 Euro netto für einen Krankenpfleger

    Rishi Sunak, der aktuelle Regierungschef, hält an dem Beschluss fest, bis heute. Zwar wurde dem Personal eine Lohnerhöhung von rund zwei Prozent zugesagt. Das ist den Gewerkschaften angesichts einer Inflation von rund elf Prozent im Vergleich zum Vorjahr aber deutlich zu wenig. 

    Auch der Brexit ist ein Problem. Pfleger gingen zurück in die EU, zu wenige ausländische Kräfte kamen nach. „Die Moral innerhalb des NHS ist massiv gesunken“, erklärt Hoddinott. Viele wechselten die Branche, weil sie in deutlich weniger stressigen Jobs mehr Geld auf ihrem Konto haben, beispielsweise in der Gastronomie. Ein Krankenpfleger verdient im NHS umgerechnet rund 2000 Euro netto pro Monat. „Das ist zu wenig, erst recht, wenn man in London lebt“, berichtet Aldwin. Nach Jahren der Unterfinanzierung sind das System und die Menschen, die darin arbeiten, am Anschlag. 

    NHS: In Großbritannien gibt es 30.000 offene Stellen

    Damit sich dies ändert, postieren sich am vergangenen Mittwoch Angestellte einer Notrufzentrale im kalten Wind vor einem grauen Verwaltungsgebäude im Stadtbezirk Newham, im Nordosten Londons. Es herrschen Frust und beinahe ein Gefühl von Hilflosigkeit. Mit in der Runde steht Jamie Briers, der Organisator des Streiks. „Wir wollen unsere Mitglieder schützen und sicherstellen, dass sie ihren Lebensunterhalt bestreiten können. Es geht auch darum, den NHS für alle zu verbessern.“ Es gebe rund 30.000 offene Stellen in ganz Großbritannien. Höhere Löhne würden den NHS als Arbeitgeber wieder attraktiver machen, ist er überzeugt. „Damit wären dann nicht alle Probleme gelöst. Aber irgendwo muss man ja anfangen.“

    Zu den Demonstranten gehören der 20-jährige Maruf Ahad und die 27-jährige Abbie Smith, die in der Notrufzentrale arbeiten. „Wir haben häufig Menschen am Telefon, deren Angehöriger stirbt, während sie auf einen Krankenwagen warten“, sagt Ahad. Und er fügt hinzu: „Das ist auch für uns schrecklich, vor allem, wenn es sich bei der betroffenen Person um ein Kind handelt.“ Die Wartezeit auf den Rettungsdienst beträgt aktuell durchschnittlich eineinhalb Stunden. „Viele Leute sagen, wir sollen nicht streiken, weil Menschen sterben, aber die Menschen sterben bereits jetzt“, betont die junge Frau. Erschwert würde die Lage dadurch, dass sich viele Briten an die Notrufzentrale wenden, wenn ihr Hausarzt zuständig ist. 

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