Herr Wolf, Ihr Vorstoß für eine Rente mit 70 erzürnt die IG Metall. Vorstandsmitglied Urban meinte entsetzt, Ihre Forderung sei verantwortungslos und ein erneuter Beleg für die Ignoranz gegenüber den sozialen Zukunftssorgen der Belegschaften. Was sagen Sie zu dem Ignoranz-Vorwurf?
Stefan Wolf: Diesen Vorwurf lasse ich so nicht stehen. Ich sage heute und auch in zwei oder drei Jahren: Wir müssen länger arbeiten.
Das ist eine maximal unpopuläre Botschaft.
Wolf: Die demografische Entwicklung, also die Überalterung der Gesellschaft, führt zu massiven Problemen bei der Finanzierung der Rentenversicherung. Ich habe unlängst einen Vortrag über lebenslanges Lernen gehört. Der Referent hatte einen großen und einen sehr kleinen Apfel dabei.
Was hat es mit dem großen Apfel auf sich?
Wolf: Er fragte die Teilnehmer, welchen Jahrgang der große Apfel hat. Alle rätselten. Der Wissenschaftler sagte, der Apfel stehe für den Jahrgang 1964. Das ist der geburtenstärkste Jahrgang in der bundesdeutschen Geschichte. 1964 wurden knapp 1,4 Millionen Kinder in Deutschland geboren.
Und der kleine Apfel?
Wolf: Der kleine Apfel steht für das Jahr 2011, in dem nur etwa 660.000 Kinder geboren wurden. Es fehlen also rund 740.000, die 1964 noch geboren wurden.
Was hat die Äpfel-Metapher mit der IG Metall und dem Ignoranz-Vorwurf von Herrn Urban an Sie zu tun?
Wolf: Es mutet ignorant an, wenn sich Herr Urban der Überalterung der Gesellschaft und den daraus resultierenden Folgen für die Rentenversicherung nicht stellt. Ich bin 62 Jahre alt und könnte mich auf den Standpunkt stellen, dass für meine Generation die Rentenversicherung stabil bleibt. Doch ich mache mir hier etwa Sorgen um meine Tochter, die 25 Jahre alt ist. Damit die Rente sicher bleibt, müssen auch die Jüngeren länger arbeiten.
Müssen alle länger arbeiten?
Wolf: Natürlich nicht. Ich bin nämlich der Überzeugung, dass Menschen, die schwere Tätigkeiten ausüben, also etwa im Straßenbau oder der Produktion tätig sind, natürlich nicht länger arbeiten müssen. Wenn aber Beschäftigte im Büro sich etwa um die Finanzen, das Controlling oder die Buchhaltung kümmern, warum sollten diese Beschäftigten nicht länger arbeiten? Ich bin nicht generell für die Rente mit 70, sondern für intelligente und differenzierte Lösungen. Für eine längere Lebensarbeitszeit spricht auch, dass die Menschen dank des medizinischen Fortschritts immer älter werden.
Was muss die Bundesregierung daraus für Konsequenzen ziehen?
Wolf: Die Bundesregierung muss endlich die Konsequenzen aus der Überalterung der Gesellschaft und der längeren Lebenszeit ziehen und langfristig die Altersversorgung der Menschen in diesem Land absichern.
Und zukunftsorientierte Politiker sollten sich Gedanken machen, wie der Industriestandort Deutschland gestärkt werden kann.
Wolf: Ich kämpfe jedenfalls für den Industriestandort Deutschland, auch für einfache Arbeitsplätze in der Produktion.
Wie schnell schreitet denn die Deindustrialisierung in Deutschland angesichts zu hoher Energiepreise, überbordender Bürokratie und des Arbeitskräftemangels voran?
Wolf: Die Deindustrialisierung ist leider bereits im Gange. Unser Standort ist einfach nicht mehr attraktiv. Und das liegt mittlerweile an einer Summe negativer Standortfaktoren, die die positiven Standortfaktoren deutlich überwiegen.
Was veranlasst Unternehmer vor allem, zunehmend Produktion ins Ausland zu verlagern?
Wolf: Es sind viele Faktoren, aber an erster Stelle die extrem hohen Aufwendungen zur Bewältigung der Bürokratie. Ich nenne hier etwa das deutsche Lieferketten-Sorgfaltspflichtengesetz. Um eines klarzustellen: Ich bin total gegen Menschenrechtsverletzungen und Kinderarbeit. Doch Deutschland ist nicht in der Lage, weltweit Verstöße gegen Kinderarbeit und Menschenrechte zu verhindern. Wer anderes behauptet, ist naiv. Ich kritisiere die Gängelung durch die Politik und besonders durch die Grünen.
Warum üben Sie hier so harte Kritik an den Grünen?
Wolf: Weil solche Bürokratie den Unternehmen jede Menge Geld kostet. Wir brauchen in diesem Land wieder einen klaren Blick dafür, was leistbar und vernünftig ist. Bei manchen spukt offenbar ein negatives Bild von Wirtschaft und ein negatives Unternehmerbild im Kopf.
Wirklich?
Wolf: Ja, diese Politiker glauben, sie müssten Beschäftigte vor der Wirtschaft und den Unternehmen schützen. Doch böse Unternehmer haben heute keine Chance mehr: Sie bekommen nämlich keine guten Leute, vor allem keine jungen, innovativen und gut ausgebildeten Beschäftigten. Unternehmer kämpfen heute vielmehr um die Talente.
Haben Sie die Hoffnung aufgegeben, dass die Ampel-Koalition mit Kanzler Scholz an der Spitze noch das Ruder herumreißt? Oder warten Sie auf den Wirtschafts-Fachmann Friedrich Merz als Kanzler?
Wolf: Ich befürchte, die Ampel-Koalition kriegt das nicht mehr hin. Und wenn der Bundeskanzler auf die Kritik von Wirtschaftsverbänden damit antwortet, das sei nur wieder das bekannte Klagelied der Kaufleute, dann kommt das bei Unternehmern, die täglich von morgens bis abends dafür kämpfen, Arbeitsplätze zu erhalten, schlecht an.
Doch immerhin hat die Bundesregierung eine Wachstums-Initiative zustande gebracht.
Wolf: Die Wachstums-Initiative enthält sicherlich einige richtige Ansatzpunkte. Die meisten Punkte dieser Initiative stammen von der FDP. Das rechne ich FDP-Chef Christian Lindner sehr hoch an, dass er sich endlich mal durchgesetzt hat. Und ich erkenne an, dass SPD und Grüne hier Reformen beschlossen haben, die sie vor einem halben Jahr wohl noch nicht gemacht hätten.
Sie fordern aber einen richtigen Ruck für Deutschland, eine Art Agenda 2030. Wird daraus noch was?
Wolf: Die Wachstums-Initiative der Bundesregierung stellt keinen Ruck dar. Sie ist keine Agenda 2030. Das ist auch kein Anfang, sondern nur ein Anfängle, wie man in Schwaben sagt. Ich bin enttäuscht über die bisherige Bilanz der Ampel-Regierung, wenn man bedenkt, mit welchem Reform- und Modernisierungswillen diese Koalition einst angetreten ist. Die Ampel hat bisher nicht geliefert. Dabei verkenne ich nicht, dass die Koalition ein schlecht bestelltes Haus der Vorgänger-Regierung unter Kanzlerin Angela Merkel übernommen hat. In den letzten vier Jahren der Kanzlerinnen-Ära von Frau Merkel ist ja quasi nichts mehr passiert.
Nichts passiert? Das klingt nach einer Abrechnung.
Wolf: In ihrer letzten Legislaturperiode hat die Regierung Merkel nur noch verwaltet, denn sie fand eine in dreifacher Hinsicht angenehme Situation vor: Es gab noch billiges Gas aus Russland, um die Verteidigung hat sich die USA gekümmert und China war anders als heute ein sensationeller Absatzmarkt für deutsche Firmen, die dort ohne Ende Geld verdient haben. Die Wirtschaft wurde immer weiter belastet und die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit war kein Thema. Aber mit dem Ukraine-Krieg ist alles in sich zusammengebrochen.
Noch einmal: Warten Sie auf den Wirtschafts-Retter Merz?
Wolf: Es braucht Zeit, um den Tanker Deutschland umzusteuern. Deutschland ist kein Segelboot. Ich hoffe auf eine Wende, wenn Friedrich Merz Bundeskanzler werden sollte. Meine Hoffnung speist sich aus dem neuen Grundsatzprogramm der CDU, das die Handschrift von Friedrich Merz und von CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann trägt. In dem Programm stecken Punkte, die unsere Wirtschaft massiv stimulieren würden.
Machen Sie sich derweil Sorgen um Deutschland?
Wolf: Mir macht der Zulauf extremer Parteien in Deutschland große Sorgen, ob es sich um Parteien wie die AfD oder auch um das Bündnis Sahra Wagenknecht handelt.
Und welche Sorgen bereitet Ihnen die angelaufene Tarifrunde in der Metall- und Elektroindustrie? Die IG Metall fordert ja sieben Prozent mehr Lohn.
Wolf: Viele Unternehmen in der Metall- und Elektroindustrie tun sich schwer damit, die bisher schon sehr hohen Löhne zu zahlen. Seit dem vierten Quartal 2023 befindet sich unsere Branche in der Rezession. Die Auftragseingänge sind mau. Unsere Industrie liegt 15 Prozent unter dem Umsatz des Jahres 2018, was ein herausragendes Jahr war. Die Kosten sind seit 2018 aber massiv gestiegen, etwa durch anziehende Energiepreise. Das drückt auf die Erträge. Viel zu verteilen gibt es nicht.
Rund 20 Prozent der Metall- und Elektrobetriebe schreiben rote Zahlen. Verbietet sich deswegen ein Kaviar-Abschluss und drängt sich ein Leberkäse-Abschluss auf?
Wolf: Verglichen mit der wirtschaftlichen Lage der Metall- und Elektro-Industrie ist die Forderung der IG Metall deutlich zu hoch. Mein Appell an die Gewerkschaft lautet deshalb: Wir müssen Maß halten in der Tarifrunde, sonst steigen die ohnehin hohen Löhne in der Metall- und Elektro-Industrie zu stark und der Abstand zu anderen Branchen wie dem Handel oder dem Pflegebereich wird immer größer, was diese Berufe unattraktiver macht und zu sozialen Verwerfungen führt.
Ist die Entwicklung wirklich so gefährlich?
Wolf: Es ist nicht mehr attraktiv für junge Menschen etwa eine Ausbildung als Erzieher oder Krankenpfleger zu machen. Viele von ihnen drängen wegen der hohen Löhne in die Metall- und Elektroindustrie. Da arbeiten sie 35 Stunden und verdienen prächtig.
Wie ernst ist die Lage vieler Metall- und Elektro-Firmen?
Wolf: Manche Unternehmen der Branche, die lange treu zum Standort Deutschland gestanden haben, schreiben schon länger rote Zahlen. Dann überlegen solche Firmeninhaber, ob sie die Produktion ins Ausland verlagern, ob nach China, Indien oder Osteuropa. Das Pendel ist umgeschlagen: Betriebe, die lange treu zum Standort Deutschland standen, denken angesichts immer größerer Belastungen um. So gehen auch prominente Unternehmen ins Ausland.
Was sagt das über den Standort Deutschland aus?
Wolf: Es ist nicht fünf vor zwölf für Deutschland. Wenn beispielsweise ein an sich heimatverbundenes Unternehmen wie Miele zum Teil aus der Heimat abwandert, ist es für mich Viertel nach zwölf für Deutschland.
Theodor Weimer, Chef der Deutschen Börse, glaubt, Deutschland sei ökonomisch gesprochen auf dem Weg zum Entwicklungsland. Überzieht er maßlos?
Wolf: Gut, dass das mal jemand so deutlich sagt.
Und was passiert, wenn die IG Metall nicht Maß hält?
Wolf: Ich hoffe, dass die IG Metall Maß hält.
Und wenn nicht?
Wolf: Die IG Metall und wir als Arbeitgeber der Branche haben nun eine historische Chance: Wir können den Menschen in der Tarifrunde zeigen, dass wir zusammen den Standort Deutschland stärken und Industrieproduktion erhalten. Dazu bedarf es Vernunft. Dazu gehören immer zwei Parteien. Ich bleibe optimistisch.
Sind Sie auch optimistisch, dass EU-Kommissions-Präsidentin von der Leyen stärker die Interessen der Wirtschaft berücksichtigt?
Wolf: Ich wünsche Frau von der Leyen alles Gute für die zweite Amtszeit. Ich wünsche mir, dass sie mehr auf die Stärkung von Wirtschaft und Wettbewerbsfähigkeit setzt und weniger auf Klimaschutz. Denn wenn wir die Wirtschaft zugunsten des Klimaschutzes opfern, haben wir nichts erreicht. Dann verlieren wir Wohlstand. Dann bestätigen wir nur weiter Menschen darin, rechts- oder linksradikale Parteien zu wählen. Die Wählerinnen und Wähler wollen Wirtschaft, Wohlstand und dass es ihnen gut geht. Sie wollen nicht nur Klimaschutz.
Stefan Wolf, 62, ist seit 2020 Präsident des Arbeitgeberverbandes Gesamtmetall.
Richtig, die Wirtschaft darf nicht zugunsten des Klimaschutzes geopfert werden. Ohne Wirtschaft könnte der Wohlstand ggf. auch bis unter die Schmerzgrenze zur Armut sinken. Es gibt aber noch ein gesellschaftliches Tabuthema. Die Einwanderer höhlen das Sozialsystem aus, weil sie zur Untätigkeit gezwungen werden. Es wären genug junge Menschen da, um die geburtenschwachen Jahrgänge aufzufüllen. Der enormen Herausforderung, 9 Jahre fehlende Schulbildung in einem Crashkurs nachzuholen, muss man sich stellen.
Die Wirtschaft wird vor die Hunde gehen wenn weiter so eine leidige konservative Schaukelpolitik betrieben wird. Windkraft verhindern, Verbrenner hin und her, und am besten noch die tolle Atomkraft wiederbeleben die wirtschaftlich nie rentabel war.
„Wir müssen Maß halten in der Tarifrunde“, weil es sonst zu sozialen Verwerfungen führt. Stefan Wolf ehrt einerseits sein „Soziales Gewissen“, andererseits würde ich es schon für gut erachten, wenn die Arbeitskräfte gerade dort zum Einsatz kommen, wo die Wertschöpfung am höchsten ist. (In Business Guide für strategisches Management schreibt Alfred-Joachim Hermanni: „Die nobelste unternehmerische Triebfeder, das „Soziale Gewissen“, ist altruistischer Natur und geprägt von uneigennützigem Handeln, Selbstlosigkeit und Rücksichtnahme auf andere Denk- und Verhaltensweisen.“)
Die Rentenkasse gibt für Suchtbehandlungen sehr viel Geld aus, Zeit die Tabak- und Alkoholsteuer dort hineinzuschiessen. Gewinne aus diesen Sachen werden privatisiert, die Verluste sozialisiert. Ich bezweifle aber das man nur weil man im Büro arbeitete, das noch länger tun kann. Bandscheiben,Gehör und die Optik halten nicht ewig. Ebenso steigt die psychische Belastung, hat man früher sich das Kreuz auf dem Bau kaputtgemacht, ist man heute total überfordert von immer mehr Umsatzstreben.
Wieso führt Herr Stahl eigentlich noch Interviews? In seinen Fragen an den Industrielobbyisten sind die Antworten doch schon enthalten. Am Ende geht es nur darum, die Lage schlechtzureden, um den Beschäftigten die nötigen Lohnsteigerungen vorenthalten zu können. Neutrale Experten wie der Bundesbankpräsident Joachim Nagel sehen die Lage wesentlich entspannter. Er hält in der Debatte über den Standort Deutschland mehr Optimismus für angebracht: "Dieses Narrativ mit der Deindustrialisierung ist aus den Daten, die wir so sehen, auch schwer ableitbar." https://www.spiegel.de/wirtschaft/bundesbank-praesident-joachim-nagel-firmenabwanderungen-fehlanzeige-a-6e094186-3d09-45a1-8f91-9a653bcde5aa
Bei allem Respekt: Dieses Interview hätte von einigen auch kritischen Rückfragen stark profitieren können. Damit meine ich nicht in erster Linie das "Schlagzeilen-Thema": Auch ich sehe in einer längeren Lebensarbeitszeit einen Beitrag zur Sicherung unseres Wohlstandes. Allerdings ist es auch Aufgabe der Wirtschaft, zur Beschäftigungsfähigkeit gerade älterer Mitarbeiter beizutragen. Wäre es nicht interessant gewesen, zu erfahren, welche Vorstellungen der Gesamtmetall-Präsident hierzu hat? Für wirklich bemerkenswert halte ich aber, dass ein extremer Standortpessimismus nicht hinterfragt wird, obwohl es hier durchaus auch andere Auffassungen gibt. Warum etwa findet sich kein Hinweis auf Bundesbank-Präsident Nagel, der "keine großen Firmenabwanderungen" sieht und in der Standortdebatte für mehr Optimismus plädiert? Und wo bleibt der Scheinwerfer auf das wachsende Risiko der internationalen Bedrohungslage für so manche Standortverlagerung?
Fortsetzung Deutschland gar „auf dem Weg zum Entwicklungsland“? Wem sollen solche nicht weiter hinterfragten Schlagworte denn bitteschön nutzen? Lasst doch die Tassen im Schrank! Diese Anmerkungen ändern freilich nichts daran, dass Stefan Wolf in vielem recht hat. Natürlich brauchen wir politische Kurskorrekturen - zum Teil gravierende. Mit ihnen sollten wir uns ernsthaft befassen - sine ira et studio. Übertreibungen und apokalyptische Szenarien sind da genauso fehl am Platze wie Problemverdrängung und Realitätsverweigerung.
Um kommentieren zu können, müssen Sie angemeldet sein.
Registrieren sie sichSie haben ein Konto? Hier anmelden