Irgendwann hat Hanna (Mia Rainprechter) einfach die Schnauze gestrichen voll. Von dieser verstaubten Enge, der Spießigkeit, dem Holzkreuz über dem Bett und der herrischen Mutter, die im elterlichen Gasthaus «Hirsch» die Ansagen macht. Hanna ergreift die Chance und auch die Flucht aus dem Kaff auf der Schwäbischen Alb. Sie beginnt eine Lehre in Stuttgart, feiert ausgelassen, genießt ihr neues Leben. Doch der Schritt aus der Heimat heraus kostet sie ihr Leben: Erwürgt wird sie in einem Gebüsch am Neckar entdeckt.
Eher routiniert macht sich das Ermittler-Duo Lannert und Bootz im neuen Stuttgarter «Tatort»-Fall (17. November, 20.15 Uhr, Das Erste) auf die Suche nach Hannas Mörder. Sie treten zurück, denn die neue Krimi-Folge mit dem Titel «Lass sie gehen» erzählt vor allem eine zweite Geschichte: Dokumentiert wird der Zerfall einer Familie - und das Schicksalhafte des Zufalls.
Wenn jemand aus der Reihe tanzt
Bichishausen, tatsächlicher Stadtteil von Münsingen. Pfarrkirche, Burgruine, und die Dorfschenke heißt tatsächlich «Hirsch». Schwäbische Heimat von knapp 120 Menschen an der Großen Lauter und Filmkulisse für den fiktiven Ort Waldingen. Hier regiert vor der Kamera der Inbegriff dessen, was gemeinhin als Dörflichkeit verspottet wird. Der Stammtisch trifft sich, er lässt seinem Alltagsrassismus unterm Hirschgeweih freien Lauf und in strengem Dialekt - und wehe, es tanzt jemand aus der Reihe. Während Sebastian Bootz (Felix Klare) in Stuttgart die Spur aufnimmt, mietet sich Thorsten Lannert (Richy Müller) im Gasthaus der trauernden Familie ein, um das Dorf und seine Einwohner in den Blick zu nehmen.
Denn von «Schöner Land» kann bei «Tatort»-Regisseur Andreas Kleinert keine Rede sein, der Schein trügt an jeder Straßenecke. Nicht alle hier haben Hanna den überstürzten Abschied gegönnt. Da gibt es die innerlich zerrissene Mutter (Julika Jenkins), die mit der Reue kämpft, weil sie die Tochter nach einem Streit nicht mehr sehen wollte. «Man kann doch nicht einfach machen, was man will», ist ihr Credo, das Hanna verzweifeln lässt. Da ist der Vater (Moritz Führmann), der zunehmend hilflos versucht, den Rest der Familie zusammenzuhalten und daran zerbricht. Und die kleine Schwester, die ihren Frust auf dem Sportplatz lässt, Runde für Runde für Runde.
Wenn sich der Mob rüstet
«Die Atmosphäre innerhalb unserer "Dreh“-Familie macht den Ausbruch der Tochter mehr als nachvollziehbar, wenn auch alle Familienmitglieder für ihr Handeln ihre "guten Gründe" haben», sagt Schauspieler Führmann über Hanna und die Rollen in diesem Stuttgarter «Tatort». Auch der gekränkte Ex-Verlobte und der unglücklich verliebte Stalker, der bei dem Mädchen abgeblitzt ist, hätten ein Motiv. Und dann ist da der Mob, der sich im Dorf rüstet, weil es ja irgendjemand gewesen sein muss.
Die Hauptkommissare ermitteln sich versiert, teils auch ein wenig arg bieder und nicht wirklich mitreißend durch ihren 33. gemeinsamen Fall, der bisweilen etwas schemenhaft daherkommt. Die Dörflichkeit wirkt zu tumb, während ein stets kläffender Hund, ein Wortwitz über Lannerts schokobraunen Porsche-Oldtimer hier und Gipsverbände dort etwas von der bleiernen Schwere nehmen sollen, die über dieser Folge liegt.
Der banale Zufall
Seine starken Momente hat «Lass sie gehen» vor allem, wenn das Grau im dörflichen Mikrokosmos dominiert, wenn der Konflikt zwischen Tradition und Moderne, zwischen familiären Pflichten und eigenen Träumen Platz erhält. Wenn klar wird, das eine persönliche Entscheidung Konsequenzen haben kann nicht nur für den Menschen selbst, sondern für ein ganzes Gefüge. Und wenn schließlich im Showdown im spektakulären Corpus der Stuttgarter Stadtbibliothek deutlich wird, dass auch ein grausam banaler Zufall eine tragende, eine schicksalhafte Rolle spielen kann.
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