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Interview: Verdi-Chef zum Haushaltskompromiss: Das ist der helle Wahnsinn

Interview

Verdi-Chef zum Haushaltskompromiss: Das ist der helle Wahnsinn

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    Verdi-Chef Frank Werneke äußert heftige Kritik am Haushalts-Kompromiss der Ampel-Regierung.
    Verdi-Chef Frank Werneke äußert heftige Kritik am Haushalts-Kompromiss der Ampel-Regierung. Foto: Monika Skolimowska, dpa

    Herr Warnecke, wie erleichtert sind Sie, dass sich die Ampel-Koalitionäre doch noch vor Weihnachten im Haushaltsstreit auf einen Kompromiss besonnen haben?

    Frank Werneke: Es hat lang genug gedauert. Ein Befreiungsschlag ist das nun wirklich nicht. Es ist falsch, in dieser Situation die Schuldenbremse wirken zu lassen. Anstatt mutig in die Zukunft zu investieren, wird der Bundeshaushalt zusammengestrichen, allein drei Milliarden Euro im Bereich Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik. Das ist der helle Wahnsinn. Das geht zulasten der Integration von Geflüchteten. Außerdem ist das Haushaltskonsolidierung zulasten der Beitragszahlerinnen und Beitragszahler.

    Wie sieht insgesamt die soziale Bilanz der Haushaltseinigung aus?

    Werneke: Die von der Ampelkoalition geplante Lösung hat eine harte soziale Schieflage. Die Anhebung des CO₂-Preises trifft alle Bürgerinnen und Bürger – insbesondere die mit nicht so hohem Einkommen. Und das eigentlich versprochene Klimageld zum sozialen Ausgleich ist auch nicht in Sicht. Vollkommen unverständlich ist, dass in dieser Situation am sogenannten Wachstums-Chancengesetz festgehalten wird, was zu erheblichen Einnahmeausfällen vor allem für Städte und Gemeinden führt. In Wahrheit ist das ein Kommunen-Verarmungsgesetz. Dabei wäre es jetzt wichtig, dass die Kommunen ausreichend finanzielle Kraft für Investitionen erhalten. Das Gesetz ist derzeit im Vermittlungsausschuss und es ist wirklich zu hoffen, dass die Länder diesem Unfug Einhalt gebieten. 

    Die Weihnachtszeit ist eine Zeit der Besinnung. Worauf sollten sich die Verantwortlichen in Berlin nach dem von vielen Seiten heftig kritisierten Haushalts-Frieden besinnen? 

    Werneke: Sie sollten sich auf ein grundlegendes Umdenken besinnen. Die notwendigen finanziellen Mittel für das Auflösen des Investitionsstaus in Deutschland, die Energiewende und den Umbau der Wirtschaft lassen sich nicht durch Umschichtungen im Bundeshaushalt auftreiben. 

    Wie dann, woher nehmen und nicht stehlen? 

    Werneke: Entweder wir ringen uns endlich durch, die Schuldenbremse grundlegend zu reformieren, oder wir schaffen mindestens einen Transformations- und Klimafonds nach dem Vorbild des Sondervermögens für die Bundeswehr über 100 Milliarden Euro. Ein solcher Fonds lässt sich so konstruieren, dass er mit dem Grundgesetz vereinbar ist und vor dem Verfassungsgericht Bestand hat. Bei beiden Vorhaben muss aber die Union mitwirken. Nur mit solchen Schritten können wir den Umbau der Industrie weg von fossiler Energie stemmen, ohne dass es zu gefährlichen Einschnitten im Sozial- und Bildungsbereich kommt. Es wäre eine schlechte Lösung, die Modernisierung der Industrie zulasten von Sozial- und Bildungsaufgaben voranzutreiben. 

    Sie nennen die Schuldenbremse eine „Zukunftsbremse“. 

    Werneke: Weil die Infrastruktur in Deutschland in wichtigen Bereichen marode ist: Das fängt bei den Brücken an und setzt sich bei den Schulen fort. Allein auf Ebene der Kommune schleppen wir in Deutschland einen Investitionsstau von über 140 Milliarden Euro vor uns her. Wie wollen wir die Verkehrswende schaffen, wenn wir nicht den öffentlichen Personennah- und den Fernverkehr ausbauen? Und um die Industrie in Deutschland zu halten, müssen wir die Wasserstoff-Wirtschaft ausbauen. 

    Doch die FDP zeigt keine Anzeichen von Besinnung, was eine Reform der Schuldenbremse betrifft. 

    Werneke: Die FDP hat die Schuldenbremse ideologisch total überhöht. Wie erfolgreich die FDP damit ist, sieht man an den Landtagswahlergebnissen und den aktuellen Umfragen. 

    Sollte die Schuldenbremse komplett gestrichen werden? 

    Werneke: Ich hätte damit kein Problem. Doch leider gibt es derzeit keine Mehrheit für ein komplettes Streichen der Schuldenbremse. Doch ich hoffe, dass wir die Schuldenbremse zumindest grundlegend reformieren, ehe das Wahlkampf-Getümmel vor der nächsten Bundestagswahl losgeht. Denn die reine Lehre vom Prinzip der schwäbischen Hausfrau, ja des schwäbischen Hausmanns funktioniert so nicht mehr. 

    Auch die Tarifverhandlungen im Handel funktionieren nicht. Verdi beißt seit April bei den Arbeitgebern auf Granit. Es gibt immer noch keinen Abschluss für die rund fünf Millionen Beschäftigten. Woran hakt es?

    Werneke: Zumindest im Einzelhandel liegt das daran, dass die Arbeitgeber versuchen, ein Tarifdiktat durchzudrücken. Sie legen ein völlig unzureichendes Angebot vor, das wir bitte schön unterschreiben sollen, Verhandlungen darüber verweigern sie sich. Ein so respektloses Verhalten gegenüber den eigenen Beschäftigten und ihrer Gewerkschaft habe ich selten erlebt. Offenbar soll auf Zeit gespielt werden. 

    Und das offensichtlich schon aufreizend lange. 

    Werneke: Angesichts der Reallohnverluste durch die Inflation reicht das Angebot der Arbeitgeber deutlich nicht aus. Für 2023 bieten sie im Einzelhandel nach drei Nullmonaten nur eine tabellenwirksame Erhöhung von sechs Prozent und im kommenden Jahr von vier Prozent an. Im Groß- und Außenhandel sieht das Angebot nach mehreren Nullmonaten 5,1 Prozent für 2023 und 2,9 Prozent für 2024 vor, während beispielsweise die Beschäftigten des Öffentlichen Dienstes, aber auch in vielen anderen Branchen, per Tarifvertrag eine Inflationsausgleichsprämie von 3000 Euro erhalten. Das ist der Rahmen, der durch die Bundesregierung geschaffen wurde. Auch davon sind wir in den Tarifverhandlungen im Handel weit entfernt. 

    Verdi verlangt also deutlich mehr, als die Arbeitgeber bieten.

    Werneke: Nach dem Angebot der Arbeitgeber im Einzelhandel für 2023 beispielsweise würde etwa eine Verkäuferin oder ein Verkäufer nur 1,04 Euro mehr in der Stunde bekommen, was viel zu wenig ist. Im Einzelhandel erhalten die meisten Beschäftigten nur einen Stundenlohn zwischen zwölf und 17,44 Euro brutto. Weil keine anderen Jobs angeboten werden, müssen sehr viele Beschäftigte zudem in Teilzeit arbeiten. Dann reicht es angesichts der Preissteigerungen in den letzten zwei Jahren vorn und hinten nicht. So kommen wir nicht zueinander, ein Diktat der Arbeitgeber lassen wir uns nicht bieten. 

    Sie bleiben also hart. 

    Werneke: Wir stimmen keinem Ergebnis zu, das nicht akzeptabel ist. Dann dauert die Tarifrunde eben noch länger. Das ist nicht unser Ziel, aber wir sind darauf vorbereitet. 

    Wird Verdi auch im Weihnachtsgeschäft weiter zu Streiks im Handel aufrufen? 

    Werneke: Wir sind verhandlungsbereit. Wenn die Arbeitgeber es nicht sind und es zu keinem Abschluss kommt, gehen die Streiks auch im Weihnachts- und Nachweihnachtsgeschäft weiter. 

    Haben die bisherigen Streiks nicht genügend Wirkung gezeigt? Ist Verdi im Handel im Vergleich zum Öffentlichen Dienst zu schwach aufgestellt?

    Werneke: Unsere Streiks im Handel zeigen Wirkung, sonst würden die Handelskonzerne nicht versuchen, mit einstweiligen Verfügungen, Schadenersatzforderungen und zum Teil massivem Druck gegenüber Streikenden gegen die Arbeitskampf-Maßnahmen vorzugehen. Insbesondere an den Lagerstandorten der großen Lebensmittelketten sind wir gut aufgestellt und erzielen Wirkung. 

    Gewinnt Verdi nach dem Öffentlichen Dienst auch im Handel zusätzliche Mitglieder? 

    Werneke: Wir haben auch im Handel, insbesondere im Groß- und Außenhandel, viele neuen Mitglieder in diesem Jahr gewonnen. Genauere Zahlen nennen wir, wenn die kompletten Zahlen für 2023 feststehen. Aber bereits jetzt ist sicher, dass wir dieses Jahr auch netto mit einem Mitgliederzuwachs beenden werden. Was mich besonders freut: Am stärksten wächst Verdi im Osten Deutschlands. Unser erfolgreichster Landesbezirk ist derzeit „Sachsen, Sachsen-Anhalt, Thüringen“. 

    Was in diesen AfD-Hochburgen bemerkenswert ist. 

    Werneke: Unsere Verdi-Kolleginnen und -Kollegen leisten dort eine wirklich gute Arbeit. 

    Das kann man von den Mitgliedern der Bundesregierung derzeit nicht sagen. Das dauernde Hin und Her wirkt wie ein AfD-Förderprogramm. 

    Werneke: Dieses aktuelle schreckliche Schauspiel stabilisiert nicht gerade unsere demokratische Grundordnung. Und nicht nur die Parteien der Ampelkoalition wirken mit, auch CDU und CSU sind mit von der Partie und machen sich einen schlanken Fuß. Obwohl insbesondere von der Union regierte Bundesländer unter dem Wegfall der 60 Milliarden Euro aus dem Klima- und Transformationsfonds leiden werden. Immer mehr Menschen wenden sich mit Schaudern von dieser Darbietung ab. 

    Und der AfD zu. 

    Werneke: Manche Menschen suchen sich bisweilen irrationale Ventile für ihren Verdruss. Sie stimmen für die AfD, ohne jemals einen Blick in die Wahlprogramme der Partei geworfen zu haben. All das nutzt die AfD aus. Die Partei setzt sich beispielsweise auf jede im Zuge der Krankenhausreform drohende Schließung einer Klinik drauf und macht daraus eine Kampagne. Diese Fälle sind ein Fest für die AfD. Das Beispiel zeigt, wie gefährlich es ist, wenn wir uns in Deutschland, was etwa die medizinische Versorgung betrifft, aus der Fläche zurückziehen. Wenn Menschen das Gefühl haben, abgehängt zu sein, werden sie anfällig für Parteien wie die AfD. Und das, obwohl die AfD keine Lösungen anbietet und eine Politik vertritt, die klar gegen die Interessen von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern gerichtet ist.

    Frank Werneke, 56, ist seit 2019 Vorsitzender der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft Verdi. Zuvor war er von 2002 an stellvertretender Vorsitzender der Organisation. Im September wurde er auf dem Verdi-Bundeskongress mit 92,5 Prozent wiedergewählt. 

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