Herr Werneke, durch die Energiepreis-Explosion droht Deutschland ein ökonomischer Schock. Doch die Koalition lässt die Bürgerinnen und Bürger immer noch nicht konkret wissen, in welchem Umfang sie genau entlastet werden. Wie ärgerlich ist das für Sie?
Frank Werneke: Es ist höchste Zeit, dass die Bundesregierung ein gemeinsames und wirksames Konzept zur Bekämpfung des Energiepreis-Schocks für die Bevölkerung vorlegt. Mich erreichen täglich Hilferufe von Gewerkschaftsmitgliedern, die von ihren Stadtwerken Vorausberechnungen mit Abschlagszahlungen für Gas bekommen, die vier bis fünf Mal höher als früher ausfallen. Das bedeutet eine Kostensteigerung von 100 auf 400 bis 500 Euro pro Monat allein für den Gasbezug. Das ist dramatisch. Doch dabei bleibt es nicht. Die Preis-Explosion beim Strom fällt ähnlich massiv aus. Es gibt also einen dringenden Handlungsbedarf.
Brauchen wir jetzt einen solidarischen Kraftakt für den Winter, in dessen Rahmen der Staat vor allem Menschen unterstützt, die nicht so viel verdienen?
Werneke: Die deutsche Volkswirtschaft hat so viel Kraft, dass sie Verwerfungen wie die durch die Energiepreis-Explosion ausgleichen kann. Genau diese Kraft muss jetzt für Menschen mit niedrigen und mittleren Einkommen eingesetzt werden. Das gilt sowohl für Beschäftigte wie auch für Rentnerinnen und Rentner, Erwerbslose sowie Studentinnen und Studenten.
Wie sollen diese Hilfen konkret aussehen?
Werneke: Die Bundesregierung darf dieses Mal auf keinen Fall wie beim Tankrabatt unnötig Geld nach dem Gießkannen-Prinzip verteilen. Wir als DGB-Gewerkschaften fordern zunächst weitere Direktzahlungen an die Bürgerinnen und Bürger. Neben dem Energiegeld von 300 Euro, das nicht ausreicht, verlangen wir eine zusätzliche Zahlung von 500 Euro in diesem Jahr. Den Zuschuss müssen diesmal auch Rentnerinnen und Rentner bekommen.
Die bei der 300-Euro-Zahlung vergessen wurden.
Werneke: Dass die Rentnerinnen und Rentner bei dem Energiegeld von 300 Euro leer ausgingen, ist empörend. Ihr großer Unmut ist doch verständlich. Diese Entrüstung haben ja auch die drei Parteien der Ampelkoalition in voller Breite abbekommen.
Doch die Energiepreise werden wohl dauerhaft hoch bleiben. Auch die Heizsaison 2023/2024 dürfte die Menschen finanziell enorm belasten.
Werneke: Deswegen brauchen wir eine dauerhafte Lösung. Und die besteht nach unseren Vorstellungen in einem Energiepreis-Deckel für Gas und Strom. Grundlage müssen jeweils die Preise von 2021 sein, also aus der Zeit vor der Energiepreis-Explosion. Dabei wird für jeden Haushalt ein Grundbedarf festgelegt. Für diese Menge gibt es einen gedeckelten, also niedrigeren Preis, eben eine staatlich festgelegte Preisgarantie. Was den Grundbedarf betrifft, werden Menschen also entlastet. Für das, was sie darüber hinaus an Gas und Strom verbrauchen, müssen sie aber den höheren Marktpreis zahlen, was wiederum einen Anreiz für sie darstellt, Energie einzusparen. Um die finanziellen Härten durch die Energiepreis-Explosion auszugleichen, muss der Staat noch einmal 20 bis 30 Milliarden Euro in diesem Jahr zusätzlich in die Hand nehmen.
Doch Finanzminister Christian Lindner will die Schuldenbremse im nächsten Jahr wieder in Kraft setzen.
Werneke: Das wird nicht funktionieren. Auch im nächsten Jahr muss der Staat über diese zusätzlichen 20 bis 30 Milliarden Euro hinaus weiteres Geld in die Hand nehmen, um Härten durch die Energiepreis-Explosion auszugleichen. Ohne eine erhöhte Nettokredit-Aufnahme ist diese Herausforderung nicht zu stemmen. Was die FDP-Pläne betrifft, macht mich noch etwas ganz anderes wütend.
Was macht Sie bei der FDP so wütend?
Werneke: Mich macht wütend, dass sich Minister Lindner bei seinen Steuerreform-Plänen auf die hart arbeitende Mitte der Gesellschaft konzentrieren will. Dabei blendet der FDP-Vorsitzende völlig aus, dass es in Deutschland Millionen Menschen gibt, die hart arbeiten, aber mit niedrigen Einkommen auskommen müssen. Das sind zum Beispiel viele Beschäftigte im Handel, in Abfallbetrieben oder in Zustell-Unternehmen. Die verdienen 2500 bis 3000 Euro brutto und profitieren in absoluten Beträgen so gut wie nicht von Lindners Steuerplänen. Es ist empörend, dass der Bundesfinanzminister die Leistung dieser hart arbeitenden Menschen nicht sieht und stattdessen Hochverdiener von seinen Plänen profitieren würden.
Jenseits von Direktzahlungen und Energiepreis-Deckeln: Wie schützt man diese Menschen vor dem sozialen Abstieg im Winter?
Werneke: Etwa indem wir ein Moratorium verabschieden. Bei solchen Haushalten darf in dieser Heizsaison weder Strom noch Gas abgestellt werden, wenn die Energie nicht mehr bezahlt werden kann. Dazu brauchen wir noch einmal einen Notfallfonds.
Was passiert, wenn sich der Staat nicht zu ausreichenden Hilfen durchringt. Wird dann die soziale Spaltung in Deutschland vertieft?
Werneke: Die soziale Spaltung hat sich angesichts der stark gestiegenen Nahrungsmittelpreise bereits seit Monaten vertieft. Das führt zu einer massiven gesellschaftlichen Schieflage, schließlich müssen alle Lebensmittel kaufen. Menschen mit nicht so hohen Einkommen leiden überproportional unter den kräftig gestiegenen Lebensmittelpreisen. Wenn jetzt die Vorschläge der Gewerkschaften, der Sozialverbände, des Städtetags oder der Verbraucherzentralen nicht aufgenommen werden, nehmen die sozialen Proteste in Deutschland zu.
Womit rechnen sie dann konkret?
Werneke: Die Gefahr ist groß, dass Demagogen versuchen, Menschen, die jetzt in Not geraten, für ihre Zwecke auszunutzen und die Situation politisch zu missbrauchen. Das würde den Russland-Verstehern in der AfD oder anderen rechten Populisten in die Hände spielen. Die Situation ist momentan sehr angespannt und explosiv.
Was halten Sie von Montags-Demos gegen die Gas-Umlage, zu denen die Linke aufruft?
Werneke: Grundsätzlich sind Proteste in dieser Situation angemessen. Wann, wenn nicht jetzt, sollen Menschen ihre Forderungen auf die Straße und die Marktplätze tragen? Schließlich sehen sie sich durch die immensen Energiepreis-Steigerungen bedroht. Auch wir als Verdi sind mit anderen Gewerkschaften und Sozialverbänden im Gespräch, um uns auf die kommenden Wochen vorzubereiten. Dazu gehört auch, Demonstrationen im Laufe des Herbstes zu organisieren. Die werden dann notwendig, wenn die Bundesregierung die Bürgerinnen und Bürger nicht ausreichend entlastet.
Noch einmal: Was halten Sie von solch neuen Montags-Demos?
Werneke: Den Bezug auf Montags-Demos halte ich für falsch. Wir befinden uns nicht in einer Situation wie 1989. Und ich halte es für sehr problematisch, mit solchen Montags-Demos auf eine Protestform zu setzen, die von Querdenkern und Rechtsradikalen okkupiert wurde. Wenn notwendig, organisieren wir selbst Proteste – und laufen ganz bestimmt nicht einzelnen Parteien hinterher.
Die Proteste gegen die Gas-Umlage zeigen jedenfalls Wirkung. Wirtschaftsminister Habeck will das Instrument nach heftiger Kritik an seiner Person nachbessern.
Werneke: Das Konzept von Minister Habeck hatte den entscheidenden Fehler, dass auch Unternehmen von der Gas-Umlage profitieren, die mit anderen Geschäftsfeldern hohe Gewinne einfahren. Das muss korrigiert werden. Die Gaspreis-Umlage macht auch nur einen Teil des Preisschubes für die Verbraucherinnen und Verbraucher aus. Die allgemein anziehenden Preise für Gas, Strom und viele Güter des täglichen Bedarfs ergeben zusammen die finanzielle Bedrohung für viele Menschen. Weil das so ist, sind wir als Gewerkschaften auch besonders bei den anstehenden Tarifverhandlungen gefordert.
Sie haben für das Lufthansa-Bodenpersonal und die Beschäftigten der Seehäfen zum Teil zweistellige Lohnsteigerungen sogar über der erwarteten Inflationsrate rausgeholt. Wird eine Dienstleistungs-Gewerkschaft wie Verdi in Zeiten des chronischen Fachkräftemangels mächtiger?
Werneke: Vor vier bis fünf Jahren konnten einige Arbeitgeber im Dienstleistungsbereich noch erfolgreich und in der Breite Lohndrückerei durchsetzen, etwa durch Leiharbeit, Outsourcing und der Drohung mit Kündigungen. Doch durch den Arbeitskräftemangel in weiten Teilen der Dienstleistungsbranche hat sich das ein Stück weit verändert. Dadurch steigt auch unsere Verhandlungsmacht. Und natürlich ergreifen wir jede Möglichkeit, um die Dinge im Sinne der Beschäftigten voranzubringen. Das wurde beispielsweise im Tarifkonflikt des Lufthansa-Bodenpersonals deutlich. Um erfolgreich zu sein, brauchen wir aber ausreichend viele Mitglieder in den Betrieben und sind auf deren Engagement angewiesen. In allen stattfindenden und bevorstehenden Tarifverhandlungen wollen wir vollumfänglich die Einkommen unserer Mitglieder sichern.
Streben Sie trotz Teuerungsraten von zuletzt wohl 7,9 Prozent stets einen Inflationsausgleich an? Das führt dann doch zu happigen Lohnerhöhungen.
Werneke: Wo immer es möglich ist und die Beschäftigten mitmachen, streben wir einen Inflationsausgleich an. Das gilt ganz besonders für unsere Kolleginnen und Kollegen, die nicht über hohe Einkommen verfügen. Solche zum Teil zweistelligen Abschlüsse für diese Beschäftigten konnten wir zuletzt in Tarifrunden erzielen.
Doch der Preis dafür ist teilweise hoch. Im Lufthansa-Tarifkonflikt kam es zu Streiks, die den Luftverkehr in Deutschland vorübergehend weitgehend lahmgelegt haben. Am Ende wurden Verdi-Verantwortliche wie Sie dafür hart attackiert.
Werneke: Um meine Person geht es nicht, das tropft an mir ab: Im Rahmen des Tarifkonflikts bei der Lufthansa wurde jedoch in Teilen der Öffentlichkeit versucht, ein Klima zu erzeugen, in dem das Grundrecht auf Streiks angegriffen wurde. Ich empfand es als sehr bedrückend, dass Menschen, die auf unserer Seite in dem Lufthansa-Streik Verantwortung übernommen haben, bedroht wurden. Es gab sogar Morddrohungen. Diese Verrohung ist nicht akzeptabel.
Im Herbst steht mit dem Öffentlichen Dienst des Bundes und der Kommunen eine große Tarifrunde bevor. Schaffen Sie hier auch einen Inflationsausgleich für die Beschäftigten und vielleicht ein bisschen mehr?
Werneke: Wir beschließen die Höhe unserer Lohnforderung erst am 11. Oktober, aber ich verrate kein Geheimnis, dass unsere Kolleginnen und Kollegen erwarten, dass ihre Realeinkommen, ihre Kaufkraft, erhalten bleibt und abgesichert wird. Diesem Anspruch wollen wir im Öffentlichen Dienst wie auch in der bevorstehenden Tarifrunde bei der Post gerecht werden, also einen Inflationsausgleich erstreiten. In diese Richtung werden unsere Forderungen gehen. Verdi ist entschlossen, gerade in dieser Zeit das tarifpolitisch herauszuholen, was für unsere Mitglieder herauszuholen ist. Das ist übrigens auch wichtiger, als im Bundeskanzleramt im Rahmen der Konzertierten Aktion über irgendwelche Steuerspar-Modelle zu sprechen, die meist nur Hochverdiener begünstigen. Wir nehmen die Dinge in die Hand und betreiben eine mutige Tarifpolitik.
Könnte es zu Warnstreiks im Öffentlichen Dienst kommen?
Werneke: Das kann ich zumindest nicht ausschließen.
Verdi scheint derzeit einen Lauf zu haben. Knacken Sie jetzt auch den US-Riesen Amazon, der sich dagegen sperrt, dass für ihn in Deutschland die Bestimmungen des Flächentarifvertrags des Einzel- und Versandhandels gelten?
Werneke (lacht): Amazon bleibt ganz sicher auf unserer To-do-Liste. Wir planen weitere Aktionen für Herbst und Winter. Wir lassen nicht locker. Amazon ist ein dicker Brocken. Der Konzern verbessert unter dem Druck der Streiks Stück für Stück die Arbeitsbedingungen der Beschäftigten. Wir sehen: Streiks wirken. Dadurch gewinnt Verdi zunehmend Mitglieder. Der weltweite Konzern Amazon versucht aber mit allen Mitteln, den Abschluss eines formalen Tarifvertrags zu vermeiden. Bei Amazon befinden wir uns als Gewerkschaft eher in einem Langstreckenlauf als einem Sprint. Aber wir sind auch zum Langstreckenlauf fähig.
Frank Werneke, 55, ist seit 2019 Vorsitzender der Vereinten Dienstleistungs-Gewerkschaft Verdi. Er wurde damit Nachfolger von Frank Bsirske. Werneke gehört seit 2001 dem Verdi-Bundesvorstand an und war von 2002 bis 2019 stellvertretender Vorsitzender der Gewerkschaft. Der Verdi-Chef ist Mitglied der SPD und sitzt im Aufsichtsrat der Deutschen Bank.