Herr Christ, Sie hatten Chancen, als langjähriges SPD-Mitglied und Manager Bundeswirtschaftsminister zu werden, wenn sich Frank-Walter Steinmeier 2009 bei der Bundestagswahl gegen Angela Merkel durchgesetzt hätte. Dann wechselten Sie zur FDP und waren bis 2022 Bundesschatzmeister der Liberalen. Was ist mit Deutschland los? Nicht nur die Wirtschaft schwächelt, auch die Stimmung wirkt vielfach schlecht.
Harald Christ: Ich bin nach wie vor gut gelaunt, auch wenn ich den Eindruck habe, dass viele Menschen weniger als früher lachen und mit Zitronengesichtern durch die Welt gehen. Dabei ist die Stimmung schlechter als die Lage. Dazu trägt bei, dass vor allem in sozialen Netzwerken vielfach schlechte Laune verbreitet wird. Dort wird zu oft darüber berichtet, was falsch läuft, und nicht, was gut ist in diesem Land. Das hat einen hohen Ansteckungseffekt. Wir verlieren immer mehr Menschen an diese Dunkelfelder und Blasen in den sozialen Medien.
Davon profitiert vor allem die AfD.
Christ: Ja, denn die Partei ist in den sozialen Medien stark organisiert. Die AfD versucht, die Lufthoheit in den sozialen Medien zu gewinnen und Menschen falsch wie eindimensional zu informieren. Solche Nutzer sozialer Medien stecken in ihren Silos fest und sind nur noch schwer mit Fakten zu erreichen. Wutbürger und sogenannte Trolle peitschen sich gegenseitig auf. Weil ich diese Entwicklung für gefährlich halte, habe ich schon 2020 meine Stiftung für Demokratie und Vielfalt gegründet, obwohl ich nicht ahnte, wie stark die AfD werden würde. Schon damals habe ich in die Satzung der Stiftung unter anderem aufgenommen, dass mit den Geldern die Demokratie gestärkt und etwa unabhängiger Nachwuchsjournalismus, der auf Fakten setzt, gefördert werden soll. Auf alle Fälle ist es ein Lichtblick, dass es dem Recherche-Netzwerk Correctiv gelungen ist, das Treffen von AfD-Leuten und Rechtsradikalen in Potsdam aufzudecken.
Die Co-Vorsitzende der AfD, Alice Weidel, surft derweil unverdrossen auf der Welle schlechter Stimmung und unterstellt der Regierung, „Deutschland zu hassen“.
Christ: Meines Erachtens ist unsere Demokratie ernsthaft in Gefahr, wenn das Treiben dieser Partei nicht gestoppt wird. Die AfD würde den Abbruch Deutschlands bedeuten. Wer die AfD wählt, gefährdet unseren Wohlstand. Wenn Deutschland aus der EU austreten würde, wie das Frau Weidel überlegt, wäre das Ergebnis fatal, denn unser Land ist der größte wirtschaftliche Profiteur der Europäischen Union. Deshalb begrüße ich die Demonstrationen gegen die AfD und für die Stärkung unserer Demokratie, wie zuletzt das Lichtermeer auf der Münchner Theresienwiese. Ich kann nur an alle gesellschaftlichen Gruppen,
, appellieren: Schließt euch diesen Demos an. Die schweigende Mehrheit, also alle demokratischen Kräfte, müssen gegen die AfD und gegen Extremismus protestieren und sich klar abgrenzen.Sollten sich Unternehmer und Manager noch intensiver gegen die AfD positionieren und Männer wie den Milch-Patriarchen Theo Müller kritisieren, der mit Frau Weidel in Restaurants sitzt und mit ihr nach eigener Aussage gerne spricht?
Christ: Ich würde mit Frau Weidel nicht essen gehen, weil ich mit dieser Frau nichts zu besprechen habe. Unabhängig von Herrn Müller bin ich der Meinung: Unternehmer und Manager zeigen zwar jetzt wie Deutsche-Bank-Chef Christian Sewing erfreulicherweise deutlich Flagge gegen die AfD und für die Stärkung unserer Demokratie. Es müssten aber noch mehr Unternehmer Flagge zeigen, denn die Stabilität unserer Demokratie ist das Rückgrat unseres Wohlstands und damit das Rückgrat unserer Unternehmen. Die AfD würde der Wirtschaft massiv schaden. Wenn etwa Landwirte in das Parteiprogramm der Partei schauen würden, könnten sie erkennen, dass die AfD alle Subventionen für die Branche abschaffen will. Dabei behauptet die Partei, den Bauern helfen zu wollen. Solche Widersprüche müssen wir herausarbeiten und in die harte inhaltliche Auseinandersetzung mit der AfD gehen.
Reicht das? Ist ein AfD-Verbot nicht wirkungsvoller?
Christ: Ich bin gegen ein Verbot der AfD. Denn ein Verbot würde das Vertrauen vieler Bürger in unseren Rechtsstaat erschüttern. Die AfD zeigt zwar durchaus Missstände auf, zieht daraus allerdings völlig falsche und gefährliche Schlüsse. Viele Themen wie zum Beispiel Migration dürfen wir nicht der AfD überlassen. Dieses harte Warnsignal müssen die etablierten Parteien ernst nehmen und der AfD inhaltlich Paroli bieten. Nur so kann das gelingen.
Sie gelten als einer der führenden Netzwerker Deutschlands und haben früher als andere Unternehmer die Menschen dazu aufgefordert, gegen die Politik der AfD Partei zu ergreifen.
Christ: Ich habe im Sommer letzten Jahres im Handelsblatt aufgerufen, dass Manager, Unternehmer, ja alle gesellschaftlichen Multiplikatoren sich gegen die AfD und gegen Extremismus zu Wort melden sollen. Mein Appell an die Menschen lautet auch: Tretet in die etablierten demokratischen Parteien ein, engagiert euch und stellt die AfD inhaltlich. Denn die AfD, die einst als eurokritische Partei gestartet ist, wurde von Rechtsradikalen und Nazis übernommen. Und um demokratische Parteien zu stärken und damit ein Zeichen gegen die AfD zu setzen, habe ich Juli 2023 insgesamt 253.000 Euro an SPD, FDP, CDU und Grüne gespendet. Den etablierten Parteien würde es guttun, wenn sich mehr Menschen von außen dort engagieren.
Wie kommt denn Ihr starkes Anti-AfD-Engagement an?
Christ: Nach meinem Appell im Sommer 2023 wurde ich massiv bedroht. Und das, obwohl ich nur meine Meinung gesagt habe. Heute schicken die Rechten nicht mehr wie in der Weimarer Republik Schlägertrupps gegen Andersdenkende los, sondern feinden sie in sozialen Netzwerken an. So wurde mir dort etwa mitgeteilt: "Deutschland wird erwachen und Sie wird es danach nicht mehr geben." Das ist klares Nazi-Vokabular. So tief sind wir gesunken.
Wie gehen Sie mit solchen Bedrohungen um?
Christ: Ich versuche damit analytisch und distanziert umzugehen. So ist für mich klar: Da will mir einer sagen, dass ich die Klappe halten und verschwinden soll. Doch ich werde nicht die Klappe halten und verschwinden. Was mich dabei motiviert: Ich erhalte sehr viel Zuspruch. Doch die meisten Menschen, die mich ermuntern wollen, weiterzumachen, schreiben das nicht offen in sozialen Medien, sondern teilen mir das persönlich etwa über WhatsApp oder E-Mail mit. Sie haben schlicht Angst, dass auch sie bedroht werden, wenn sie mir zustimmen. So weit sind wir schon in Deutschland gekommen.
Trotzdem fordern Sie zu einem differenzierten Umgang mit Wählerinnen und Wählern der AfD auf.
Christ: Wir dürfen nicht vorübergehende Sympathisanten der AfD, die der Partei auf den Leim gegangen sind oder einen Raum für ihren Frust dort sehen, in die Nazi-Ecke stellen. Das wäre brandgefährlich. Denn unsere demokratischen Parteien der Ampelregierung, aber auch die CDU und CSU geben derzeit nicht das beste Bild ab. Die Debatten in diesen Parteien sind vielfach flacher, populistischer und weniger lösungsorientiert, als ich das aus früheren Jahren kenne. Politiker wie der CDU-Chef Friedrich Merz wären gut beraten, sich nicht auf einen populistischen Überbietungs-Wettbewerb einzulassen.
Populismus scheint die politische Mode unserer Zeit zu sein.
Christ: Das zeigt sich auch an der neuen Partei von Sahra Wagenknecht. Ihre BSW-Partei wirkt, als ob nach einer Analyse aus jedem Frustrationspotenzial Wählerstimmen gewonnen werden sollen. Da wird versucht, diejenigen abzuholen, die gegen die Unterstützung der Ukraine, für Russland und gegen die EU sind. Frau Wagenknecht versucht, alle Frustrationspotenziale von links nach rechts systematisch abzuschöpfen. Ein sehr durchsichtiges Manöver, das nur in einer Oppositionspartei funktionieren kann und mit Verantwortung für die Menschen in unserem Land aber auch gar nichts zu tun hat.
Frau Wagenknecht scheint dennoch bei vielen Menschen anzukommen.
Christ: Kein Mensch braucht diese Partei. Trotzdem kommt diese Partei ohne inhaltliche Substanz in Umfragen bundesweit auf sieben bis acht Prozent. Das zeigt, wie verunsichert viele Menschen sind und sich nach einfachen Antworten sehnen. Dabei wenden sie sich von den etablierten demokratischen Parteien ab. Die SPD, in der ich 31 Jahre Mitglied war, hatte mal fast eine Million Mitglieder, jetzt sind es noch rund 365.000. Deshalb gibt es in solchen Parteien immer weniger qualifizierte Menschen, die Politik nicht als reines Karrieresprungbrett sehen. Mein Appell lautet daher: Ihr braucht nicht die AfD und auch nicht die Wagenknecht-Partei. Wenn euch etwas stört, tretet doch in die SPD, die CDU, die CSU, die FDP oder in die Grünen ein und schafft dort Mehrheiten.
Viele Menschen wenden sich aber lieber neuen Parteien zu.
Christ: All diese Politikerinnen und Politiker, die jetzt wie Frau Wagenknecht, Hans-Georg Maaßen oder viele AfD-Leute in populistischen Parteien ihre Heimat finden, sind in anderen Parteien gescheitert. Frau Weidel würde in einer anderen Partei nichts werden. Diese populistischen Parteien sind ein Sammelbecken der Gescheiterten. Populismus ist toxisch, eben die Neuauflage der Propaganda, die wir in Deutschland schon einmal erlebt haben. Probleme löst es keine - es schafft nur neue.
Sie haben schon 2019 geschrieben, Deutschland erlebe einen Ermüdungsbruch der politischen Struktur.
Christ: Ich mache seit meinen Juso-Zeiten mit 16 Jahren Politik, ohne damit jemals Geld verdient zu haben. Das ist für mich Dienst an der Demokratie. Leider behalte ich oft recht mit meinen Prognosen.
Mit Ihrer AfD-Prognose lagen Sie aber wie so viele daneben.
Christ: Das stimmt, habe ich doch vor Jahren prognostiziert, dass die AfD nur eine vorübergehende Erscheinung ist. Ich versuche aber, nicht nur politisch, sondern auch geopolitisch und ökonomisch zu denken. Mein großes Vorbild ist der frühere SPD-Kanzler Helmut Schmidt. Er hat mich sehr geprägt. Ich habe ihn nah erlebt und konnte als junger Mensch lange Gespräche mit ihm führen. Schmidt war ein kosmopolitischer Kopf, der Probleme über die Grenzen Deutschlands hinweg betrachtet hat. Ich habe von ihm gelernt, dass politische Entwicklungen einen Vorlauf haben, die es frühzeitig zu erkennen gilt. Und er hat mir beigebracht, daraus politische Strategien abzuleiten und das Beste für das Land zu machen.
Das klingt nicht nach einer Beschreibung aktuell führender deutscher Politiker.
Christ: Ja, denn leider haben unsere heutigen Politiker anders als Helmut Schmidt nicht mehr das große Ganze im Blick, sondern betreiben Politik zu oft nur noch tagesaktuell, im besten Fall orientieren sie sich an einer Legislaturperiode. Wenn wir diese Form der Politik nicht hinter uns lassen, wird unser Land in einer sich schnell verändernden internationalen Gemengelage massive Schwierigkeiten bekommen. Aber bleiben wir fair, es gibt auch in Deutschland noch engagierte und fachlich gute Politiker - ich möchte das nicht pauschalisieren -, aber es sind eben zu wenige.
Ist der Ermüdungsbruch unserer Demokratie bereits eingetreten?
Christ: Deutschland hat bereits einen Ermüdungsbruch. Doch es gibt, zumindest was die AfD betrifft, Hoffnung. Meines Erachtens wird die Partei bei allen bevorstehenden Wahlen schlechter als befürchtet abschneiden und in den drei ostdeutschen Bundesländern nicht den Ministerpräsidenten stellen. Das liegt am Aufstand der Anständigen und auch an den vielen Persönlichkeiten, die sich öffentlich kritisch zur AfD äußern.
Harald Christ, 52, ist heute Chef seines Berliner Beratungs- und Investmenthauses Christ&Company. Der gebürtige Wormser gilt als einer der führenden deutschen Finanzexperten. In seiner Karriere hat er in Leitungs- und Vorstandsfunktionen für die Deutsche Bank, die Postbank, den Versicherungsriesen Ergo und die Bausparkasse BHW gearbeitet. Heute vertritt Christ den Anteilseigner Deutschland im Aufsichtsrat der Commerzbank. Nach 31 Jahren trat der Unternehmer 2019 aus der SPD aus, zuvor war er deren Mittelstandsbeauftragter. Zur Begründung verwies er auf den Linksruck der Partei, der sich nicht mit seinen ökonomischen Überzeugungen vereinen lasse. Christ wechselte zur FDP und war bis 2022 Bundesschatzmeister der Liberalen. Der FDP gehört er bis heute an.