Herr Haeusgen, kippt die lange gute Stimmung im deutschen Maschinen- und Anlagenbau? Zuletzt ist der Auftragseingang ja im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um 17 Prozent gesunken.
Karl Haeusgen: Hier muss man berücksichtigen, dass es im Vergleichsmonat des Vorjahres noch enorm viele Bestellungen gab. Dadurch ist die Messlatte dank des Basis-Effekts hoch. Insgesamt steht der Maschinen- und Anlagenbau weiter gut da. Die Zahl der Beschäftigten ist im vergangenen Jahr leicht auf knapp über eine Million gestiegen. Damit bietet unsere überwiegend mittelständisch aufgebaute Industrie mehr Arbeitsplätze als die Autoindustrie an. Wir sind der größte industrielle Arbeitgeber in Deutschland und in Europa.
Ihr Optimismus scheint trotz aller Widrigkeiten intakt zu sein. Doch setzen nicht all die Krisen auch dem Maschinenbau zu? Ist nicht Skepsis statt Optimismus angebracht? Schon verlagern energieintensive Betriebe Produktion ins Ausland.
Haeusgen: Wir sehen bisher keine Anzeichen dafür, dass in großem Umfang Verlagerungen ins Ausland aufgrund unserer hohen Energiepreise stattfinden. Erst recht nicht im Maschinen- und Anlagenbau. Viele Verlagerungen, die jetzt vollzogen werden, sind schon vor Corona und dem russischen Angriffskrieg entschieden worden.
Doch in Deutschland wächst die Angst, dass es zu einer schleichenden Deindustrialisierung kommt. Damit würde der Wohlstand erheblich schrumpfen.
Haeusgen: Die Vorstellung, dass unsere berühmten Hidden Champions aus dem Allgäu oder Ostwestfalen allein wegen der hohen Energiepreise nach Kentucky auswandern, ist schon deshalb absurd, weil die nötigen Fachkräfte dort erst recht nicht zu finden sind. Wenn heute eine deutsche Maschinenbau-Firma in den USA einen Produktions- oder Vertriebsstandort für ein erklärungsbedürftiges Produkt hochzieht, dann ist es die größte Herausforderung, das dafür notwendige qualifizierte Personal zu finden. In vielen Fällen bekommen die Firmen das Personal nicht und müssen Menschen in Ländern wie den USA erst ausbilden. Das kostet viel Zeit und Geld.
Nach der Logik sind gute heimische Fachkräfte der beste Schutz gegen die Verlagerung einer Fabrik ins Ausland.
Haeusgen: Es ist eine Illusion, dass man mit der Verlagerung einer Produktion in die USA rasch finanzielle Vorteile gewinnt. Bis man einen Standort in den USA endlich am Laufen hat, ist ein Großteil der dortigen Kostenvorteile wie etwa niedrigere Energiekosten schon aufgezehrt. Und viele deutsche Maschinenbauer sitzen im ländlichen Raum. Die Inhaber stehen in hohem Maße treu zu ihrer Region, wollen also gar nicht weggehen. Diese Betriebe werden meist in zweiter, dritter Generation geführt. Oft haben auch schon Eltern oder Großeltern der Beschäftigten in den Unternehmen gearbeitet. Hinzu kommt, dass die Firmen auf ein eingespieltes regionales Zuliefernetz bauen können.
Noch einmal: Bleiben die Maschinenbauer Deutschland treu?
Haeusgen: Ich kenne im Maschinenbau kein Unternehmen, das wegen der hohen Energiepreise in Deutschland den Laden zusperrt und auswandert. Die Maschinenbauer bleiben Deutschland treu. Sie eröffnen in Wachstumsmärkten wie den USA, in denen viel Geld in erneuerbare Energien gesteckt wird, allerdings zusätzliche Standorte. Wenn die Infrastruktur wie jetzt – getrieben vom amerikanischen Staat – ausgebaut wird, profitieren davon Maschinenbauer auch aus Deutschland in hohem Maße. Das fängt bei Baumaschinen an und geht über Komponenten und Automatisierungslösungen aller Art bis zu Maschinen, mit denen Metall bearbeitet werden kann.
Deutsche Unternehmen dürften mehr Geld in den USA als in China investieren, auch weil in Amerika die politischen Rahmenbedingungen für sie besser sind.
Haeusgen: Nachdem in den vergangenen Jahrzehnten viel Geld deutscher Unternehmer nach China geflossen ist, sehen wir hier einen Wendepunkt. Nun fließt wieder mehr Geld aus Deutschland in die USA, auch weil die Standortbedingungen dort besser als in China sind.
China wird immer kritischer gesehen, wie der Besuch der deutschen Außenministerin Annalena Baerbock Annalena Baerbock in dem Land gezeigt hat.
Haeusgen: Von dem kritischeren Blick auf China profitiert neben den USA auch Indien. Denn auch von Indien aus lässt sich der gesamte asiatische Markt bedienen. Die USA und Indien sehe ich als die großen wirtschaftlichen Profiteure der neuen geopolitischen Lage. Neben der aggressiveren chinesischen Außenpolitik, die sich etwa am Umgang mit Taiwan zeigt, stört deutsche Maschinenbauer aber vor allem die chinesische Industriepolitik.
Die immer nationalistischer wird.
Haeusgen: Ich würde sagen nationalisierender. Hier werden in Fünf-Jahresplänen Branchen bestimmt, in denen chinesische Hersteller führende Rollen übernehmen sollen und damit nicht mehr so stark auf ausländische Anbieter angewiesen sind. Die Windkraft oder Tunnelvortriebs-Maschinen sind Beispiele dafür. Über staatliche Ausschreibungen kommen in China fast nur noch heimische Anbieter und kaum noch ausländische Firmen zum Zuge. Maschinenbauer müssen sich also überlegen, in welchen Ländern sie investieren können, wenn ihr China-Geschäft rückläufig ist.
Sollten deutsche Unternehmen schon jetzt von sich aus weniger in China investieren?
Haeusgen: China bleibt ein spannender, großer und auch ein inzwischen technologisch interessanter Markt. Es wäre also falsch, wenn deutsche Unternehmen von sich aus aktiv Decoupling betreiben, sich also von China entkoppeln. Wir müssen mit China im Gespräch bleiben und damit im dortigen Markt bleiben. Aus einer entkoppelten Situation heraus lassen sich keine Veränderungen erzielen. Knapp zehn Prozent der Exporte des deutschen Maschinenbaus gehen nach China. Das sind jährlich fast 20 Milliarden Euro. Das lässt sich nicht so einfach ersetzen. Die Maschinenbauer können sich nicht von heute auf morgen aus China verabschieden.
Aber viele Maschinenbauer haben von heute auf morgen beschlossen, aus Russland rauszugehen.
Haeusgen: Maschinenbauer haben sich in einer großen Breite aus Russland zurückgezogen. Die Sanktionen gegen das Land sind richtig. Russland hat nie die Rolle von China gehabt, bei Weitem nicht.
Doch Sie bemängeln handwerkliche Fehler, was die Sanktionen gegen Russland betrifft.
Haeusgen: Ich kritisiere, dass erst rund ein Jahr nach dem Krieg die 100 wichtigsten russischen Rüstungs-Unternehmen komplett die Sanktionen spüren. Dass dies so lange gedauert hat, erstaunt mich. Und noch mehr erstaunt mich, dass nach einer Liste der EU etwa 500 weitere russische Rüstungs-Unternehmen nur teilweise oder auch gar nicht mit Sanktionen belegt sind. Hier wäre mehr Konsequenz angebracht. Und dann gibt es auch noch andere Ungereimtheiten, die sich mit Logik nicht nachvollziehen lassen.
Worauf spielen Sie an?
Haeusgen: Teile von Maschinen fallen unter die Sanktionsliste, die gesamten Maschinen aber zum Teil nicht. Das führt bei betroffenen Behörden zu einer enormen Unsicherheit. Solche Behörden gehen dann auf die sichere Seite, was Genehmigungsverfahren enorm in die Länge zieht. So wird die Ausfuhr von Produkten nach Russland, die nicht sanktioniert sind, aufgehalten. Ein Teil des Geschäfts mit Russland ist nach wie vor legal, etwa was Güter für den humanitären Bereich oder die Landwirtschaft betrifft. Zuletzt sind die Geschäfte deutscher Maschinenbauer mit Russland um 65 Prozent eingebrochen. In diesem Jahr sollte das Minus nochmals kräftiger ausfallen. Die deutschen Maschinenbauer zeigen Russland überwiegend die Rote Karte.
Wie halten Sie es selbst als Unternehmer mit Russland?
Haeusgen: Unser Münchner Unternehmen Hawe Hydraulik hat sich ganz aus Russland zurückgezogen. Aber wir hatten es relativleicht, schließlich haben für uns nur fünf Beschäftigte in Russland gearbeitet. Alle fünf Mitarbeiter sind mit ihren Familien emigriert. Zwei von ihnen arbeiten jetzt für unser finnisches Tochter-Unternehmen und drei bei uns in München.
Sie haben bei sich zu Hause Ukrainer aufgenommen. Was ist aus den Menschen geworden?
Haeusgen: Das waren drei Studenten aus Kiew, darunter ein Paar, das inzwischen ein Kind hat. Doch diese Menschen sind nicht Ukrainer, sondern Turkmenen. Obwohl wir diesen Flüchtlingen eine Fachanwältin zur Seite gestellt haben, ist es nicht gelungen, den drei Turkmenen in Deutschland ein Aufenthaltsrecht zu verschaffen. Die Studenten mussten uns also verlassen – und das, obwohl sie gut ausgebildet sind. Die Drei hätten mit Sicherheit gute Arbeitsplätze gefunden.
Da wären wir beim Arbeitskräftemangel, der Firmen noch mehr als die deutsche Regelungswut behindert.
Haeusgen: Arbeitskräftemangel ist das zutreffende Wort. Denn wir haben in Deutschland nicht nur einen Mangel an Fachkräften, wie etwa der Begriff "Fachkräfte-Einwanderungsgesetz" suggeriert. Wir haben generell einen Mangel an Arbeitskräften, von der Ebene der Ingenieure bis zu Helfern in der Produktion, eben über alle Qualifikations-Niveaus. Wir brauchen also ein Arbeitskräfte-Einwanderungsgesetz und kein Fachkräfte-Einwanderungsgesetz.
Wie hart trifft der Arbeitskräftemangel den Maschinenbau?
Haeusgen: Im Maschinen- und Anlagenbau gibt es derzeit rund 14.000 Arbeitsplätze, die wir nicht besetzen können. Das ist ein neues Hoch. Schon seit Langem ist der Arbeitskräftemangel das größte Problem für unsere Betriebe. Vielfach können Ausbildungsplätze nicht mehr besetzt werden. Gerade für unsere mittelständischen Betriebe ist es schwierig, IT-Kräfte zu bekommen. Denn die Computer-Experten zieht es entweder zu den großen Tech-Unternehmen oder sie gehen zu Start-up-Firmen. Der Arbeitskräftemangel wird von Jahr zu Jahr dramatischer.
Kann hier das neue Gesetz der Bundesregierung helfen, die Lage zu entspannen?
Haeusgen: Im Prinzip schon. Doch ich hoffe inständig, dass die Ampel-Koalitionäre im Endspurt des Gesetzgebungsverfahrens endgültig einsehen, dass dieses Gesetz nur dann erfolgreich ist, wenn Fachkräfte auch über private Arbeitsvermittler und nicht nur über die Bundesagentur für Arbeit angeworben werden dürfen. Denn die großen Zeitarbeitsfirmen sind in den Ländern vor Ort vertreten, also können dort im Gegensatz zur Bundesagentur Arbeitskräfte leichter anwerben. Diese Firmen sind digitalisiert und beherrschen das Geschäft. Doch wir lassen sie dennoch nicht arbeiten. Das verstehe ich nicht. Warum sind Politikerinnen und Politiker so misstrauisch gegenüber Zeitarbeits-Firmen? Auf alle Fälle gilt: Ein Gesetz allein reicht nicht.
Was brauchen wir noch?
Haeusgen: Wir müssen in Deutschland auch offener für Zuwanderung werden. Es geht nicht an, dass bei uns eine hoch qualifizierte Spanierin, die ich kenne, bei Münchner Tech-Riesen keinen Job kriegt, weil sie nicht Deutsch spricht. Sie spricht aber fließend Englisch. Noch ist der Druck also nicht groß genug. Englisch muss in Deutschland zweite Amtssprache werden.
Doch Zuwanderung allein löst das Arbeitskräfte-Problem nicht.
Haeusgen: Deswegen müssen wir auch im Inland das Arbeitskräfte-Potenzial besser abschöpfen. Hier gibt es ein angenehmes und ein unangenehmes Thema.
Fangen Sie mit dem angenehmen an.
Haeusgen: Es muss uns gelingen, mehr Frauen in flexiblen Arbeitszeitmodellen für das Arbeitsleben zu gewinnen. Hier ist der Nachholbedarf im Maschinenbau trotz aller Anstrengungen besonders groß. So ist der Anteil der Frauen in den Ingenieurberufen in den letzten drei Jahren von neun auf elf Prozent angestiegen. Das ist erfreulich, aber elf Prozent sind immer noch eine jämmerliche Zahl. Wir brauchen mehr Maschinenbauerinnen als Vorbilder für junge Frauen. Dazu müssen wir die Kinderbetreuung und die Arbeitszeiten so flexibilisieren, dass mehr Frauen zu uns finden. Gerade junge Frauen und natürlich auch Männer, die sich für Nachhaltigkeit und Klimaschutz einsetzen, sollten zu uns Maschinenbauern kommen.
Warum sollten sie den Maschinenbau bevorzugen?
Haeusgen: Weil die Bekämpfung des Klimawandels nur mit unseren Maschinen, also zum Beispiel Windkraftanlagen, möglich ist. Wir schaffen das nur mit Technologie. Die Gretas unserer Zeit sollten also am besten Maschinenbau-Ingenieurinnen werden, um die Welt in ihrem Sinne zu verändern. Ich würde gerne mal mit Vertreten der letzten Generation reden, um mit ihnen zu diskutieren. Ich würde ihnen dann sagen, dass sie als Klima-Ingenieurinnen und -Ingenieure mehr erreichen können, als wenn sie sich fürs Klima auf Straßen festkleben.
Da wäre noch das von Ihnen in Aussicht gestellte unangenehme Thema, um die viele Arbeit in Deutschland leisten zu können.
Haeusgen (lacht): Genau. Wir kommen nicht um eine Verlängerung und Flexibilisierung der Arbeitszeit herum. Man muss sich überlegen, ob die 35-Stunden-Woche in der Metall- und Elektroindustrie noch zeitgemäß ist. Im Handwerk oder der Gastronomie wird viel mehr gearbeitet. Es gibt also eine Normalität jenseits der Welt der Gewerkschaft IG Metall.
Und wie sieht diese von Ihnen favorisierte Normalität aus?
Haeusgen: Das ist die 40-Stunden-Woche. Sie muss in der Metall- und Elektroindustrie, zu der der Maschinenbau gehört, anders als heute die Regel und nicht die Ausnahme werden. Die Regel muss also 40-Stunden-Woche heißen. Eine 35-Stunden-Woche wäre die Ausnahme. Die Metall-Branche muss ein neues Normal finden.
Da gibt es ein für viele noch unangenehmeres Thema.
Haeusgen: Wir brauchen auch längere Lebensarbeitszeiten. Hier muss man natürlich differenzieren. Wer eine gesundheitlich belastende Arbeit macht, sollte natürlich früher als andere in Rente gehen können.
Also fordern Sie die Rente mit 69 oder 70 für alle, die keine körperlich schweren Arbeiten zu leisten haben?
Haeusgen: Die Sieben vor dem Komma finde ich immer ein wenig kritisch.
Sprechen Sie sich also für die Rente mit 69 aus?
Haeusgen: Eine Rente mit 68 halte ich für einen gangbaren Weg. Auf alle Fälle sollten wir es Arbeitnehmern freistellen, dass sie auch mit 68 in Rente gehen können, wenn sie das wollen. Es gibt viele Menschen, die gerne länger arbeiten wollen.
Doch auch die Vier-Tage-Woche ist eine Option. Studien zeigen, dass Beschäftigte dann viel produktiver arbeiten.
Haeusgen: Eben! Es geht zum einen um ein Mehr als Normalarbeitszeit und zum anderen um ein Mehr an Flexibilität in den Unternehmen. Am Ende werden diejenigen Arbeitgeber am erfolgreichsten sein, die Beschäftigten mit einem großen Werkzeugkoffer viele Arbeitszeit-Möglichkeiten anbieten. Wenn ein Unternehmen als Standard die 40-Stunden-Woche hat, kann es seinen Beschäftigten doch gut eine Vier-Tage-Woche anbieten. Wir müssen die Arbeitszeit flexibler gestalten.
Die Wahrscheinlichkeit, dass sich die IG Metall auf die 40-Stunden-Woche einlässt, liegt bei 0,0 Prozent.
Haeusgen: Doch wie groß muss der Druck noch werden, bis wir uns in Deutschland bewegen? Ich bin fest davon überzeugt: Das Thema wird irgendwann bei den Gewerkschaften ankommen. Der Schmerz muss nur groß genug sein. Die 40-Stunden-Woche wird kommen.
Zur Person: Karl Haeusgen, Jahrgang 1966, ist seit Oktober 2020 Präsident des Verbandes Deutscher Maschinen- und Anlagenbau, kurz VDMA. Zuvor war der Unternehmer Vize-Präsident der Organisation und von 2008 bis 2014 Vorstandsvorsitzender des VDMA Bayern. Der studierte Betriebswirt wurde 1996 Geschäftsführer der in Aschheim bei München sitzenden Hawe Hydraulik GmbH. Heute ist er Vorsitzender des Aufsichtsrats des Unternehmens. Für die Hawe Gruppe arbeiten 2750 Beschäftigte.