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Exklusiv: Industrie-Präsident Russwurm: "Ich mache mir Sorgen um unser Land"

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Industrie-Präsident Russwurm: "Ich mache mir Sorgen um unser Land"

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    BDI-Präsident Siegfried Russwurm fordert eine pragmatischere Energiewende.
    BDI-Präsident Siegfried Russwurm fordert eine pragmatischere Energiewende. Foto: Jörg Carstensen, dpa (Archivbild)

    Herr Russwurm, wie groß ist die Herausforderung für deutsche Unternehmer, wenn der Populist und Protektionist Trump wieder US-Präsident wird?

    Siegfried Russwurm: Er würde sicher erneut versuchen, Importe in die USA zu erschweren. Dann würde es sich rächen, dass wir mit den USA nicht das Freihandelsabkommen TTIP geschlossen haben, weil hierzulande die Sorge vor der Einfuhr amerikanischer Chlor-Hühner mehr Gehör gefunden hat als wirtschaftliche Argumente. Es wäre sicher klüger gewesen, ein Abkommen nicht scheitern zu lassen, sondern durch klare Kennzeichnung Verbraucher auf die Herkunft der Waren in den Geschäften hinzuweisen. Leider gibt es derzeit keine Chance, TTIP im Vorgriff auf einen etwaigen US-Präsidenten Trump neu zu verhandeln und damit weitere Zölle auf Importe aus Europa zu erschweren. 

    Im Vorgriff auf Trump bauen schon jetzt deutsche Unternehmen ihre Fertigung in den USA aus, um nicht unter mögliche Import-Beschränkungen zu fallen. Beschleunigt das hierzulande die Deindustrialisierung?

    Russwurm: Der Bundesverband der Deutschen Industrie warnt schon seit gut zwei Jahren vor einer schleichenden Verlagerung heimischer Produktion ins Ausland. Weniger Produktion bedeutet auch geringeres Steueraufkommen in Deutschland, selbst wenn die Unternehmen ihren Sitz hierzulande beibehalten. Wenn eine Produktionslinie in Deutschland ausläuft und ein Nachfolgemodell in den USA hergestellt wird, ist das jedes Mal ein Verlust für den Standort Deutschland. 

    Droht Deutschland eine Deindustrialisierung?

    Russwurm: Ich bin kein Fan dieses Wortes. Fakt ist aber, dass Produktion verstärkt ins Ausland verlagert wird. Nach Umfragen des BDI und anderer Organisationen unter Mittelständlern verfolgt jedes dritte Unternehmen solche Pläne. Das passiert meistens ohne öffentliche Aufmerksamkeit, weil Firmen nicht ganze Standorte schließen. Wenn sich der Betriebsrat vor Ort nicht auf Öffentlichkeitsarbeit versteht, erfährt kaum einer etwas von der Produktionsverlagerung, zumal wenn es nicht zu Entlassungen kommt. Ältere Beschäftigte gehen einfach früher in den Ruhestand und Stellen werden nicht nachbesetzt. Insgesamt fehlen ohnehin Fachkräfte. 

    Ihre Sorge gilt also nicht in erster Linie der Beschäftigung?

    Russwurm: Meine Sorge ist, dass wir uns bei einer weiteren Abwanderung der Produktion vieles in diesem Land nicht mehr im gewohnten Maß leisten können, von Sozialleistungen bis hin zu Verteidigungsausgaben. Es entstehen Verteilungskonflikte. Vergleichbare Auseinandersetzungen gab es in den vergangenen Jahrzehnten aufgrund überwiegend steigender Steuereinnahmen nicht, weil wir Probleme mit Geld lösen, bisweilen sogar zudecken konnten. Nun besteht die Gefahr, dass staatliche Angebote, an die wir gewöhnt waren, über die Kante fallen, weil sie nicht mehr finanziert werden können. Darauf ist unsere Gesellschaft nicht vorbereitet.

    Sie haben sich warnend an die Politik gewandt und gesagt: „Wir wollen nicht, dass unsere Industrie untergeht.“ Sind die Tage Deutschlands als industrielle Supermacht gezählt, wie Experten des Wirtschaftsmediums Bloomberg schreiben?

    Russwurm: Die Fakten sprechen eine eindeutige Sprache: Bei wichtigen volkswirtschaftlichen Kennzahlen liegt Deutschland unter den führenden Industrieländern auf den hinteren Rängen. Hinzu kommt eine besonders schwache konjunkturelle Perspektive in diesem Jahr. Deswegen mache ich mir Sorgen um unser Land. Ich bin nicht stolz darauf, dass sowohl der Bundeswirtschaftsminister als auch der Bundesfinanzminister inzwischen die Analyse des BDI über den Standort Deutschland teilen. Diese Woche hat die Bundesregierung im Jahreswirtschaftsbericht ihre Wachstumsprognose für 2024 stark nach unten korrigiert auf nur noch 0,2 Prozent. Wir sagen schon länger maximal 0,3 Prozent. 

    Doch gibt es nicht hoffnungsvolle Signale? Der US-Softwareriese Microsoft investiert gut drei Milliarden in Deutschland.

    Russwurm: Noch vor einigen Monaten wurde uns vorgeworfen, Deutschland schlechtzureden, schließlich investiere auch der US-Chip-Konzern Intel in Deutschland. Intel wurden für die Ansiedlung in Magdeburg hohe Subventionen versprochen. Für Microsoft, ein Unternehmen, das auf Innovation und Wissenschaft setzt, ist Deutschland als sehr guter Wissenschaftsstandort mitten in Europa natürlich attraktiv. Das sind Einzelfälle, jeder ist gut für den Standort.

    Und wie sieht es insgesamt für die deutsche Wirtschaft aus?

    Russwurm: Deutschland kann sein Niveau nicht allein mit Soft- und Hardware-Entwicklern halten. Wir sind ein Industrie-, Export- und Innovationsland. Doch ohne Industrie bleiben wir kein Exportland. Das musste Großbritannien schmerzhaft erfahren. Dienstleistungen lassen sich schwer exportieren, außer es handelt sich um industrienahe Dienstleistungen wie digitale Fernüberwachung. Viele deutsche Unternehmen sind extrem erfolgreich darin, digitale Dienstleistungen mit einem innovativen Produkt zu verknüpfen und zu exportieren. Deutschland lebt von seinen Innovatoren in Forschung, Entwicklung und Produktion.

    Trotzdem leidet die Industrie. Da hilft alles Hirnschmalz nichts.

    Russwurm: Das Industrieland Deutschland verliert an Kraft, weil der Industrie zu viele Steine in den Rucksack gepackt werden. Gerade energieintensive Branchen leiden unter dieser seit Jahren andauernden Fehlentwicklung. Die Energiepreise in Deutschland sind zuletzt zwar zurückgegangen, fallen aber immer noch rund dreimal so hoch aus wie in Wettbewerbsländern. Das zwingt unsere Unternehmen, in andere Länder auszuweichen. Zum einen müssen sie wegen der Höhe der Energiepreise Teile der Produktion ins Ausland verlagern, zum anderen leiden sie darunter, nicht zu wissen, wie sich diese Energiepreise in Deutschland weiterentwickeln. Was wir sicher wissen, ist nur: Energie wird bei uns nicht billiger, zum Beispiel, weil wir sehr hohe Summen in den Ausbau der Netze zur Durchleitung erneuerbarer Energien investieren müssen. 

    Der Ausbau von Netzen reicht nicht, um die Energieversorgung sicherzustellen.

    Russwurm: Wenn ich heute aus dem Fenster schaue, scheint die Sonne nicht und es bewegt sich kein Blatt – also ein schlechter Tag für Solar- und Windstrom. Deswegen hat die Bundesregierung eine Kraftwerks-Strategie entwickelt. Nun sollen Gaskraftwerke die Grundlast sicherstellen und auf Wasserstoff umrüstbar sein. Doch die müssen erst einmal entwickelt und gebaut werden. Man kann nicht einfach in den Baumarkt fahren und solche Kraftwerke schlüsselfertig kaufen. 

    Derweil stand im oberbayerischen Irsching bei Ingolstadt ein großes, effizientes Gaskraftwerk in der Vergangenheit länger still. Die Anlage gehört zu den modernsten ihrer Art in der Welt.

    Russwurm: Der Fall „Irsching“ zeigt auf, dass wir uns in Deutschland auf einen energiepolitischen Irrweg begeben haben, weil wir uns eine 100-prozentige CO₂-Freiheit zum Ziel setzen. Unternehmen mit Sitz in Deutschland wie der große Kraftwerksbetreiber RWE machen es uns im Ausland vor: RWE betreibt in Großbritannien ein bestehendes Gaskraftwerk, fängt das CO₂ auf und lagert es ein. 

    Ginge das auch in Irsching? 

    Russwurm: Technisch ist das möglich. Dazu müsste die Bundesregierung aber das Abscheiden und Lagern von CO₂ erlauben. Diese Technologie ist in Deutschland aus dogmatischen Gründen bislang untersagt. Das macht aber keinen Sinn, wenn doch klar ist, dass wir Gaskraftwerke für die Versorgungssicherheit benötigen und Kohlekraftwerke aus Klimaschutzgründen abschalten wollen. 

    Was schlagen Sie als Diplom-Ingenieur mit jahrzehntelanger Industrie-Erfahrung vor? 

    Russwurm: Wir sollten Gaskraftwerke weiter betreiben und beim Bau neuer Gaskraftwerke auf Wasserstoff setzen. Dann lernen wir Kraftwerk für Kraftwerk dazu. Solange wir ohnehin keinen grünen, also mit erneuerbarer Energie erzeugten Wasserstoff in ausreichender Menge und zu vertretbaren Preisen haben, sollten wir den Betrieb von Gaskraftwerken so sauber wie möglich gestalten, aber keine exorbitanten Hürden aufstellen. Dann funktioniert die Dekarbonisierung vielleicht erst einmal nur zu 90 Prozent. Ein maßgebliches Problem der deutschen Energiewende besteht darin, dass die Politik ohne Wenn und Aber in zu kurzer Zeit 100 Prozent CO₂-Freiheit einfordert. 

    Sie stellen sich eine pragmatischere Energiewende vor. 

    Russwurm: Ja. Ich würde mich auch, was die Privathaushalte betrifft, nicht vorrangig um die Heizung des Häuschens in Bayerisch-Schwaben oder im Frankenwald kümmern, sondern um die großen öffentlichen Gebäude. Das Häuschen ist - insgesamt betrachtet – weniger wichtig. Wir müssen zunächst die CO₂-Bilanz der großen öffentlichen Gebäude verbessern, also zum Beispiel der Landratsämter oder Kliniken. 

    Demnach ist die deutsche Energiewende gescheitert. 

    Russwurm: Die Vergangenheit ist, wie sie ist. Mein Appell lautet: Lasst uns daraus lernen und nach vorn schauen. Die Vertreter der Bundesregierung sollten, bevor sie Beschlüsse fassen, zunächst mit denen sprechen, die am Schluss auch umsetzen müssen, was andere beschließen. Wir wollen als BDI nicht mitregieren, aber die Regierung sollte die Argumente und die Expertise der Praktiker einholen und berücksichtigen. 

    Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck gilt aber als guter Zuhörer, der fleißig Unternehmen besucht. 

    Russwurm: Er ist offen und hört zu. Aber viel zu oft warten wir dann vergeblich auf die notwendigen Aktivitäten. 

    Was hat das für Folgen? 

    Russwurm: Ich schätze Robert Habeck persönlich. Was die Unternehmen vor allem vermissen, ist der Einbezug ihrer Expertise und darauf aufbauend entschlossenes Handeln. 

    Warum bekommt Habeck das nicht hin? 

    Russwurm: Weil er zu viel Kraft dafür aufwenden muss, in seiner eigenen Partei dogmatische Widerstände zu überwinden. So war Habeck früh für das Abscheiden und Einlagern von CO₂ offen, wie es uns beim Gaskraftwerk in Irsching helfen würde. Aber in seinem Umfeld sind immer noch viele nicht offen für dieses wichtige Thema. Da kann man nur raten, konsequent und beharrlich zu sein.

    Siegfried Russwurm, 60, wirkt als Vorsitzender der Aufsichtsräte der Industrie-Unternehmen Thyssenkrupp und Voith. Von 2008 bis 2017 war der Diplom-Ingenieur Mitglied des Vorstands der Siemens AG. Seit 2021 ist Russwurm Präsident des Bundesverbands der Deutschen Industrie, kurz BDI. 

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