Frau Fahimi, Arbeitgeber-Präsident Rainer Dulger sagt: „Aufstieg durch Bildung muss wieder ein gültiges Versprechen für unsere Gesellschaft sein.“ Diese Forderung könnten Sie doch sofort als Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes unterstützen.
Yasmin Fahimi (lacht): Ja, könnte ich. Doch gesellschaftlicher Aufstieg durch Bildung funktioniert nur dann, wenn der Staat deutlich mehr Geld als heute investiert. Noch spart die öffentliche Hand ausgerechnet an Bildung. Das schadet den Kindern und unserem Land. Wenn jedes vierte Kind, das die Grundschule verlässt, und inzwischen sogar jedes vierte Kind, das nach der Mittleren Reife von der Schule abgeht, nicht ordentlich lesen und schreiben kann, ist das ein Desaster für Deutschland.Um dem entgegenzuwirken, sollten auch die Arbeitgeber endlich aufhören, die Einhaltung der Schuldenbremse zu fordern. Denn das verspielt die Chancen der jungen Generation am meisten.
Und wie steht es mit der Ausbildung junger Menschen in den Betrieben?
Fahimi: Auch hier gibt es hausgemachte Probleme. Denn viele Arbeitgeber drücken sich davor, mit jungen Menschen zu arbeiten, die persönliche und schulische Schwierigkeiten mitbringen. Auch wer nicht sofort alle Bildungsinhalte eins zu eins wie mit einem Schwamm aufsaugt, verdient eine Chance. Hier bedarf es größerer Anstrengung, etwa durch einen Coach, auf den kleine und mittlere Betriebe zurückgreifen können. Wenn Jugendliche mit Problemen Förderung erfahren, dann stehen sie im Übrigen später umso treuer zu ihren Betrieben. Und neben den Jugendlichen müssen wir uns auch um die mehr als 2,6 Millionen jungen Erwachsenen zwischen 20 und 34 Jahren kümmern, die keine Ausbildung haben.
Lässt sich so der immer dramatischere Arbeitskräftemangel überwinden?
Fahimi: Um dem Arbeitskräftemangel wirkungsvoll zu begegnen, müssen wir noch mehr tun und die Kinderbetreuung deutlich verbessern. Denn etwa drei Millionen Frauen arbeiten in Deutschland nicht, weil ihre Kinder nicht entsprechend betreut werden können. Zudem muss es gelingen, Berufsabschlüsse von Migrantinnen und Migranten schneller in Deutschland anzuerkennen und sie rascher in Arbeit zu bringen.
Unternehmensvertreter haben noch weitere Ideen, um den Arbeitskräftemangel zu überwinden. Maschinenbau-Präsident Karl Haeusgen plädierte etwa für die Rückkehr zur 40-Stunden-Woche und für die Rente mit 68 Jahren.
Fahimi: Das Gerede um die Ausweitung der Wochen- und Lebensarbeitszeit muss aufhören. Das sind Ideen von vorgestern, die uns nicht weiterbringen. Wir müssen klüger vorgehen und in den Betrieben umdenken. Denn da stimmen oft die Arbeitsbedingungen nicht.
Worauf spielen Sie hier an?
Fahimi: Ich spiele darauf an, dass rund 60 Prozent der Gesellinnen und Gesellen im Handwerk ihre Betriebe wieder verlassen, weil sie unzufrieden mit der Entlohnung und den Arbeitsbedingungen sind. Das ist ein Alarmsignal für diese Arbeitgeber. Wir reichen als Gewerkschaften den Arbeitgebern die Hand, um für bessere Entlohnung und Arbeitsbedingungen zu sorgen, damit ein fairer Wettbewerb entsteht. So könnte sich das Handwerk auf Innovation und Qualität konzentrieren und aufhören, Geschäftsmodelle auf Grundlage von Lohndumping durchzudrücken. Wir als DGB stehen jedenfalls bereit für Gespräche über bessere Ausbildung und eine schnellere Integration von Migrantinnen und Migranten in den Arbeitsmarkt.
Und der DGB strebt einen Zukunftspakt zwischen Staat und den Sozialpartnern, also Gewerkschaftern und Arbeitgebern, an. Was stellen Sie sich hier konkret vor?
Fahimi: Um zielgenauere Lösungen für Branchen und Betriebe in Zeiten der Transformation der Wirtschaft, also der Dekarbonisierung, Elektrifizierung und Digitalisierung, zu finden, brauchen Politiker stärker den Rat der Gewerkschaften und Arbeitgeber. Wir müssen den Wandel der Wirtschaft weg von fossiler hin zu erneuerbarer Energie gemeinsam mit den Beschäftigten hinbekommen. Das schaffen die Geschäftsführungen der Unternehmen nicht allein. Und auch die Bundes- und Landesregierungen sind nicht in der Lage, diese Aufgaben allein zu steuern. Dazu müssen wir die Mitbestimmung in den Betrieben stärken und wieder mehr Unternehmen in die Tarifbindung zurückholen. Die Beschäftigten müssen erleben, dass nicht über ihre Köpfe hinweg entschieden wird.
Was schwebt Ihnen noch vor?
Fahimi: Wir brauchen neue Deals zwischen der öffentlichen Hand und der Wirtschaft, also zwischen Staat und Unternehmens- und Beschäftigten-Vertretungen.
Was soll hier gedealt werden?
Fahimi: Der Strukturwandel muss in den Regionen gelingen und damit auch über einzelne Betriebe hinaus gedacht werden. Vertreter aus Politik, Unternehmertum, der Bundesagentur für Arbeit, Gewerkschaften und Wissenschaftler auf regionaler Ebene sollten gemeinsam die Potenziale identifizieren. So sollten zum Beispiel Beschäftigte, die bisher im Bau von Verbrennungsmotoren tätig waren, überbetrieblich für neue Tätigkeiten wie die Produktion von Wärmepumpen, den Aufbau von Wasserstoff-Technologie oder für das Recycling von Batterien qualifiziert werden. Eine solche Transformation der Wirtschaft kann man aber nicht am Reißbrett in Berlin entwerfen, sondern nur mit den Experten in eigener Sache in den Regionen. So hat der DGB in einigen Ländern und Regionen bereits Transformationsräte initiiert, die genau dies leisten.
Was soll in solchen regionalen Bündnissen für den ökologischen Umbau der Wirtschaft konkret beschlossen werden?
Fahimi: In solchen Gremien sollen konkrete Verabredungen, ja Verträge zum Umbau der Wirtschaft geschlossen werden. Ein konkretes Beispiel, wie das aussehen könnte: Eine Autozuliefer-Firma elektrifiziert ihre Produktion und bekommt dafür öffentliche Fördermittel. Aber nur, wenn es dafür eine Standortvereinbarung gibt, die den Betrieb und die Arbeitsplätze erhält, und der Betrieb tarifgebunden bleibt oder in die Tarifbindung geht. Das meine ich mit einer neuen Verabredungskultur und der Erneuerung der Sozialpartnerschaft. Es reicht nicht, wenn die Arbeitgeber immer nur „Entbürokratisierung“ rufen, sie müssen auch zu konkreten Verabredungen bereit sein.
In einer wesentlichen Frage sind sich Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften einig: Die Bundesregierung sollte möglichst bald Industriestrom subventionieren, um angesichts der hohen Energiepreise eine Abwanderung von Produktionsbetrieben ins Ausland zu verhindern. Am Freitag tagt der Koalitionsausschuss der Ampelregierung und könnte das Thema anpacken.
Fahimi: Wir brauchen einen solchen staatlich bezuschussten Brücken-Strompreis für energieintensive Betriebe zum 1. Januar 2024. Wer Arbeitsplätze sichern und etwas für Klimaschutz tun will, muss dafür sorgen, dass unsere Industrie nicht abwandert. Wir brauchen eine gemeinsame Wette auf die Zukunft. Demnach setzen wir darauf, dass es ab 2030 in Deutschland für die Industrie ausreichend günstige Energie aus erneuerbaren Quellen gibt. Tariftreue Unternehmen, die an Standorten wie an Arbeitsplätzen festhalten und mit den Gewerkschaften entsprechende Verabredungen treffen, erhalten nach unseren Vorstellungen im Gegenzug begrenzt auf sechs Jahre deutlich verbilligten Strom und Prämien für Investitionen, etwa in die Elektrifizierung.
Da bliebe nur die lästige Frage, wie sich diese Mega-Subvention finanzieren lässt.
Fahimi: Kanzler Olaf Scholz hat 2022 den Doppel-Wumms mit 200 Milliarden Euro ausgerufen. Dieses Geld muss jetzt auch aktiviert werden. Für die Subventionierung des Industriestroms brauchen wir bis 2030 maximal 60 Milliarden Euro.
Was passiert, wenn sich die FDP mit der Ablehnung eines solchen Industrie-Strompreises durchsetzt, Kanzler Olaf Scholz weiter skeptisch bleibt und die Industrie keinen verbilligten Strom bekommt?
Fahimi: Dann ist zu befürchten, dass uns Stück für Stück energieintensive Produktionen wegbrechen, ob es um die Herstellung von Stahl, Kupfer, Aluminium, Zement, Glas oder Papier geht. Wenn all das wegfällt, wird der Industriestandort Deutschland so stark gestört, dass dies nicht mehr durch die anderen Standortvorteile auszugleichen ist. Dann fallen viele Arbeitsplätze weg und die Gesellschaft wird weiter gespalten. Das hält dieses Land auf Dauer nicht aus. Weder die Regierungsparteien noch CDU und CSU würden das ohne großen Schaden überstehen. Deswegen hoffe ich, dass Olaf Scholz am Freitag gegenüber Finanzminister Christian Lindner ein Machtwort spricht und Gewerkschaften und Arbeitgeber zur Lösung dieses Problems schnell zusammenruft. Wenn der Brücken-Strompreis nicht kommt, mache ich mir ernsthafte Sorgen um den Industriestandort Deutschland.
Sorgen um Deutschland kann man sich auch nach den Wahlerfolgen der AfD machen. Die Ampelparteien verlieren weiter an Zustimmung. Nach einer Umfrage kommen sie zusammen wie die Union allein nur noch auf 32 Prozent. Schon deshalb müsste sich Scholz einen Ruck geben.
Fahimi: Das stimmt. Alle Ampelparteien sollten von den toten Pferden, auf denen sie reiten, endlich absteigen. Diese jüngste Wahlumfrage zeigt: Vor allem die AfD profitiert von der Verunsicherung der Bürgerinnen und Bürger. Deswegen ist jetzt Zeit für pragmatische Ansätze. Die schrillen Ampeltöne müssen aufhören. Alle Politikerinnen und Politiker, die Verantwortung tragen und sich dieser Demokratie verpflichtet fühlen, müssen sich jetzt zusammenreißen. Die Schattendebatten um Obergrenzen für Zuwanderung und zu hohe Sozialkosten müssen beendet werden.
Aber auch die Gewerkschaften haben ein Problem, hat doch in Bayern jeder vierte Arbeiter AfD gewählt, in Hessen waren es sogar 29 Prozent. Läuft die AfD der SPD dauerhaft den Rang als Arbeiterpartei ab?
Fahimi: Die Wahlergebnisse der AfD sind erschreckend und zeigen, wie groß die Verunsicherung auch unter den Beschäftigten ist.
Was muss der DGB tun, um dem AfD-Höhenflug entgegenzuwirken?
Fahimi: Wir werden als Gewerkschaften klarer als bisher herausarbeiten, dass die AfD keine Arbeiterpartei ist.
Doch viele Arbeiter wählen AfD.
Fahimi: Die AfD ist aber eine Partei des Kapitals. Denn die AfD fordert regelmäßig, die Steuern für Unternehmen zu senken, den Sozialstaat zu beschneiden und den Markt gegenüber dem Staat zu stärken. Das sind klassische neoliberale Forderungen. Das müssen wir jetzt als Gewerkschaften viel offensiver benennen. Die AfD ist nicht der Freund, sondern sogar der Feind der Arbeiter.
Spricht daraus ein Stück Selbstkritik der Gewerkschaften?
Fahimi: Ja, wir haben stark darauf gesetzt, dass sich die AfD selbst entzaubert, weil diese Partei offen rassistisch und nationalistisch, ja zum Teil offen faschistisch ist. Wir dachten als Gewerkschaften lange, es sei offensichtlich, dass die AfD keine Partei der Arbeiter und Angestellten sein kann. Das war von unserer Seite wahrscheinlich eine zu leichtfertige Einschätzung. Wir müssen jetzt besser erläutern, wofür diese Partei steht: Die AfD ist eine Partei der Rassisten, die auch Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gegeneinanderhetzen will, statt gemeinsam Fortschritt für alle zu erreichen. Aber wir können der AfD wieder mit einer besser laufenden Integration von Flüchtlingen, einer konsequenteren Sozialpolitik, mehr Tariftreue und mehr Mitbestimmung in den Betrieben das Wasser abgraben.
Die Ampelkoalitionäre müssen sich nach Ihren Vorstellungen am Riemen reißen, um die AfD zu bekämpfen.
Fahimi: Das beste Mittel gegen die AfD ist eine Politik, die Zuversicht schafft: gute Löhne und eine funktionierende staatliche Infrastruktur mit guten Schulen, gesundheitlicher Versorgung, Service auf den Ämtern und Sicherheit im öffentlichen Raum. Darauf sollte sich die Ampelkoalition jetzt konzentrieren, statt sich öffentlich zu zerfleischen. Die AfD kommt nicht über uns wie eine Naturkatastrophe. Es gibt Mittel gegen die AfD: Sicherheit, klare Verabredungen und Zuversicht sind die beste Medizin gegen Rechts.
Yasmin Fahimi, 55, ist seit Mai 2022 Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes. Von 2014 bis 2015 war sie Generalsekretärin der SPD und später Staatssekretärin im Bundesministerium für Arbeit und Soziales. Fahimi stammt aus Hannover.