Die „Jantje von Dangast“ pflügt durch die Wellen des Jadebusens, eine steife Brise peitscht den Menschen an Bord des Motorschiffs dicke Regentropfen ins Gesicht. Nach ruppiger Fahrt ist das Ziel erreicht: Deutschlands vielleicht wichtigste Baustelle, gelegen in der Nordsee vor Wilhelmshaven, dem einzigen Tiefwasserhafen des Landes. Von schwimmenden Plattformen aus werden Pfeiler in den Meeresgrund getrieben, um eine schon länger existierende Pier zu verlängern. Kurz vor Weihnachten soll hier am neuen LNG-Terminal das Flüssiggas ankommen, das die ausbleibenden russischen Lieferungen ersetzt. Unter den Passagieren der „Jantje“ ist SPD-Chef Lars Klingbeil. „Was in Wilhelmshaven passiert, ist für den Rest der Republik entscheidend. Hier entsteht die große Energiedrehscheibe, die wir brauchen, um aus der großen Abhängigkeit von Russland herauszukommen“, sagt er.
Erst im Mai haben die Arbeiten begonnen, gut zwei Monate nach dem Überfall der Russen auf die Ukraine. Aus Kohle- und Atomkraft aussteigen, in Zukunft voll auf Wind- und Sonnenenergie setzen und die Zwischenzeit mit billigem Erdgas aus Russland überbrücken, so lautete in Kurzform der Masterplan, der mit dem Krieg geplatzt ist. Bald sollen hier deshalb riesige Tanker aus den USA und von anderswo festmachen, die als Alternative LNG-Gas mitbringen – bei minus 162 Grad Celsius verflüssigt, weil sich so das Volumen um den Faktor sechs verringert.
Rekordtempo für das LNG-Terminal in Wilhelmshaven
„Deutschlandgeschwindigkeit“ nennt Olaf Lies das enorme Bautempo. Der SPD-Politiker ist Umweltminister in Niedersachsen und setzte die Genehmigung des LNG-Terminals im Schnellverfahren durch. Umweltschutzverbände protestieren heftig, denn die Anlage befindet sich im Nationalpark Wattenmeer, der Heimat streng geschützter Kegelrobben, Schweinswale und vieler seltener Vogelarten. Lies räumt ein, dass es durchaus einen Konflikt gebe zwischen dem Artenschutz und dem Klimaschutz. Doch die Bedeutung des Terminal-Projekts sei so hoch, dass es vertretbar sei.
Wilhelmshaven ist auf die Hafenwirtschaft dringend angewiesen. In den 1970er Jahren lebten hier noch mehr als 100.000 Menschen, die Jadestadt hatte die Marine als großen Arbeitgeber, in der Nachbarschaft verdienten Tausende in den Olympia-Werken gutes Geld. Über die Jahre ging es wirtschaftlich bergab, immer mehr Menschen zogen weg. Heute hat Wilhelmshaven keine 80.000 Einwohner mehr. Das Geld ist knapp, die Arbeitslosigkeit hoch. Mit dem neuen LNG-Terminal sind entsprechend hohe Erwartungen verbunden, doch die Einheimischen warten erst einmal ab, ob sich die Versprechen von Arbeitsplätzen und Wachstum bewahrheiten.
Zuerst LNG, dann Wasserstoff als Alternative für Gas aus Russland
Bis Ende 2023 soll in der Jadestadt sogar ein zweites Terminal gebaut werden. Zunächst zehn, später bis zu 28 Milliarden Kubikmeter Flüssiggas könnten pro Jahr in Wilhelmshaven ankommen. Mittelfristig wären Mengen denkbar, die nach unterschiedlichen Schätzungen bis zu 40 Prozent dessen entsprechen, was zuvor aus den russischen Ostsee-Röhren strömte. SPD-Chef Klingbeil, der selbst aus Niedersachsen kommt, zeigt sich beeindruckt: „Hier wird eine Geschwindigkeit an den Tag gelegt, die einzigartig ist und uns hilft, dass wir energiepolitisch bald ganz anders dastehen als heute.“ Akut gehe es darum, diese Krise abzufedern, doch: „Wasserstoff ist das eigentliche Ziel und eine riesige Chance.“ Eine Chance sieht der SPD-Chef auch für die Wirtschaft in ganz Norddeutschland. „Industrie folgt Energie“, sagt er.
Damit das flüssige LNG-Gas ins deutsche Netz eingespeist werden kann, muss es erst einmal wieder in den gasförmigen Zustand gebracht werden. Das geschieht auf speziellen Schiffen, mehrere davon hat die Regierung bereits gechartert. Anlegen aber können die nur an besonderen Terminals, die in Deutschland bisher nicht existieren. Pläne gab es mehrfach, doch stets wurden sie verworfen, weil russisches Pipeline-Gas so viel billiger war. Jetzt hat Energieminister Robert Habeck von den Grünen gleich mehrere Terminals auf den Weg gebracht: in Brunsbüttel, Stade, Lubmin und eben Wilhelmshaven.
Von Wilhelmshaven nach Etzel: In Zukunft soll hier auch Wasserstoff gespeichert werden
Dort liegen die Rohre für den Weitertransport schon vorbereitet in einer ordentlichen Reihe, deren Spitze ins Landesinnere, Richtung Ostfriesland zeigt. Wenn die 25 Kilometer lange Leitung in der Erde verbuddelt ist, kann das Gas in die Kavernenanlage nach Etzel fließen – ein kleiner Ort in der Gemeinde Friedeburg, der an sich kaum auffallen würde. Umgeben von Kuhwiesen, Maisfeldern und Wallhecken stehen ein paar Häuser, in denen etwa 800 Menschen leben. Die Bundesstraße 436 führt nach Etzel, links und rechts des Weges liegen die Anlagen des Betreibers Storag Etzel, sie sind die eigentliche Attraktion. Ein Sechstel der deutschen Gasreserven lagert hier, es ist der größte Gasspeicher in der Europäischen Union.
Über der Erde sind nur ein paar Gebäude und komplizierte Rohrsysteme zu sehen. Ab einer Tiefe von 750 Metern beginnt das Salzgestein, in das die Etzeler Kavernen gebohrt und gespült werden. Jede dieser länglichen Höhlen ist bei einem Durchmesser von maximal 70 Metern zwischen 300 und 500 Meter hoch, mehrere hunderttausend Kubikmeter passen hinein. Das Salzgestein ist aufgrund seiner chemischen und physikalischen Eigenschaften gut als Speicher geeignet. Aktuell sind nach Betreiberangaben 75 Kavernen in Betrieb – 51 für Gas, 24 für Öl. In Zukunft soll hier auch Wasserstoff gespeichert werden.
Zu den Kunden gehören unter anderem die Energiekonzerne EnBW und Uniper, die Füllstände zwischen 90 und 100 Prozent vermelden. Etzel ist offenbar gut belegt, der Ausbau auf 99 Kavernen ist bereits genehmigt und soll 2074 abgeschlossen sein. Dann ist die Anlage etwa 100 Jahre in Betrieb, der Boden hat sich durch die Bohrungen stellenweise um zweieinhalb Meter abgesenkt und das Ende des Kavernenfeldes ist nah. Öl und Gas werden nach und nach ausgelagert, die Salzstöcke mit Seewasser befüllt. Die letzten Kavernen gehen nach Unternehmensangaben 2117 außer Betrieb. Aber dann soll Deutschland von fossilen Energieträgern ja längst schon komplett unabhängig sein.