Aus den Kühltürmen des Atomkraftwerks Gundremmingen kommt kein Dampf mehr. Auch die AKW in Grohnde und in Brokdorf sind Ende 2021 abgeschaltet worden. Gleichzeitig will die Ampelkoalition im Bund früher als geplant aus der Kohle aussteigen. Stellt sich die Frage, wo in absehbarer Zeit der Strom erzeugt werden wird, um Deutschland zu versorgen. Die Industrie macht sich bereits Sorgen um die Versorgungssicherheit. In der Energiewelt geht die Diskussion - in groben Zügen - in drei Richtungen, was darauf hindeutet, dass es politisch große Entscheidungsspielräume gibt.
Antwort 1: 100 Prozent erneuerbare Energien
Bereits im Jahr 2010 hatte das Umweltbundesamt untersucht, ob es möglich ist, das Land vollständig mit erneuerbaren Energien zu versorgen. Eine Vollversorgung mit grünem Strom hielt man damals bis 2050 für realistisch. In den letzten Monaten hat vor allem das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) rund um Energieökonomin Claudia Kemfert das Thema vertieft.
Am DIW ist man überzeugt, dass die Abschaltung der sechs letzten deutschen Kernkraftwerke keine Versorgungslücke reißen wird. Übergangsweise dürfte der Atomausstieg zwar zu einem höheren Einsatz von fossilen Energien sowie Importen führen, berichtete das DIW. Der beschleunigte Ausbau der erneuerbaren Energien dürfte dies aber bald wieder wettmachen. Im Jahr 2021 kamen 42,8 Prozent des Stroms aus erneuerbaren Quellen, so die Bundesnetzagentur. Im Jahr 2020 waren es 48 Prozent, in dem Jahr hat allerdings der Wind kräftiger geblasen.
Mittelfristig ließe sich sogar der gesamte Energiebedarf Deutschlands innerhalb der nächsten zehn bis 15 Jahre allein mit erneuerbaren Energien decken, ist man am DIW nach einer Studie vom Juli 2021 überzeugt. Also nicht nur der Strombedarf, sondern auch die Energie, die für den Verkehr oder das Heizen nötig ist. „100 Prozent erneuerbare Energien sind technisch möglich und ökonomisch effizient", sagte Claudia Kemfert. Außereuropäische Importe von Wasserstoff seien nicht mehr notwendig.
Um auf eine Versorgung mit 100 Prozent erneuerbarer Energie zu kommen, müssten aber Windkraft und Photovoltaik massiv ausgebaut werden. Will man den Netzausbau gering halten, wären der Studie zufolge Erzeugungskapazitäten von 306 Gigawatt Photovoltaik in Deutschland nötig, 218 Gigawatt Windkraft an Land, 18 Gigawatt Windenergie auf See und 92 Gigawatt Wasserstoff-Kraftwerke (falls der Wind einmal schwächelt oder die Sonne nicht scheint). Dazu kommen Elektrolyse-Anlagen zur Wasserstoff-Erzeugung und größere Batteriespeicher-Kapazitäten.
Das Ausbautempo müsste dafür stark erhöht werden. Bei der Photovoltaik wäre zum Beispiel das Fünffache des bisherigen Bestandes nötig, waren im Jahr 2021 doch erst Photovoltaikanlagen mit einer Spitzenleistung von 59,5 Gigawatt installiert. Bei der Windkraft an Land müsste das Vierfache des bisherigen Bestandes entstehen, hier lag die installierte Leistung 2021 bei 56,1 Gigawatt. Das zeigen Zahlen des Bundesverbandes der Energie- und Wasserwirtschaft.
Antwort 2: Strom muss importiert werden
Geht man davon aus, dass Deutschland bei allem Ausbau an Windrädern und Solarparks nicht seinen kompletten Strombedarf mit erneuerbaren Energien decken kann, rücken Stromimporte aus dem Ausland in den Fokus. Dass diese wichtiger werden, davon geht man zum Beispiel bei der Deutschen Energie-Agentur (Dena) aus.
Im vergangenen Jahr hat Deutschland noch mehr Strom ins Ausland abgegeben, als es von dort bezogen hat. Die Stromexporte beliefen sich 2021 unter dem Strich auf 17,4 Terawattstunden - immerhin rund ein Dreißigstel des gesamten deutschen Strombedarfs von 503,8 Terawattstunden. Doch Studien der Dena zufolge wird es nicht bei diesen Stromüberschüssen bleiben.
Es werde voraussichtlich mehr Stromimporte aus unseren europäischen Nachbarländern geben als Exporte dorthin, hielt die Dena im Oktober 2021 in einem Zwischenbericht fest. Langfristszenarien gingen davon aus, "dass in einem klimaneutralen Energiesystem zwischen 34 und 132 Terawattstunden Strom pro Jahr importiert werden". Mehr Strom müsste also aus dem Ausland kommen.
Auch Wasserstoff, der Stück für Stück fossile Energieträger wie Erdgas ersetzen soll, wird nach Ansicht der Dena in großen Teilen importiert werden müssen. "Der Bedarf an grünem Wasserstoff in Deutschland lässt sich nur im Rahmen eines globalen Marktes decken", hielt Dena-Chef Andreas Kuhlmann 2021 fest.
Bereits heute importiert Deutschland allerdings den größten Teil seines Energiebedarfs: Rund 100 Prozent an Steinkohle, Uran und Mineralöl sind 2019 importiert worden, berichtet das Umweltbundesamt. Bei Erdgas waren es 99 Prozent.
Antwort 3: 140 neue Gaskraftwerke bauen
Schaltet man Atomkraftwerke und Kohlemeiler aus, müssen mehr Gaskraftwerke entstehen, so lautet die Rechnung großer Teile der Wirtschaft. "Wir müssen neben dem Ausbau der erneuerbaren Energien Gaskraftwerke zubauen", sagte CSU-Europaparlamentarierin Angelika Niebler kürzlich unserer Redaktion.
"Die drei jetzt abgeschalteten deutschen Kernkraftwerke erbringen rechnerisch so viel Leistung wie rund 1000 Windkrafträder", argumentiert auch der Bundesverband der Deutschen Industrie. Im vergangenen Jahr seien aber nur rund 450 neu gebaut worden. "Für Deutschland bedeutet der zeitgleiche Ausstieg aus Nuklear und Kohle, dass Gas als Brückenlösung weiterhin eine entscheidende Rolle spielt", fordert der BDI. Mittelfristig sollen Gaskraftwerke auch mit umweltfreundlichem Wasserstoff betrieben werden können.
Um eine sichere Energieversorgung zu gewährleisten, müssten bis 2030 nach Rechnung des BDI ganze 43 Gigawatt an Gaskraftwerkleistung in Deutschland hinzukommen, um die Klimaziele zu erreichen. "Das wären rund 140 neue wasserstofftaugliche Gaskraftwerke", rechnet der Industrieverband vor.
Eine Renaissance der Kernkraft und andere Alternativen?
Gibt es aber am Ende noch ganz andere Alternativen? Frankreich setzt anders als die Bundesregierung auf eine Weiterentwicklung der Kernkraft. Auch in Deutschland setzen sich Anhängerinnen und Anhänger für eine neue Generation an kleineren, sicheren Reaktoren ein. Hoffnung für eine klimaneutrale Energieerzeugung in ferner Zukunft macht auch die Kernfusion.
"Kernkraft ist keine Option für die nächsten 20 Jahre", sagte dazu allerdings kürzlich Detlef Fischer, Geschäftsführer des Verbands der Bayerischen Energie- und Wasserwirtschaft (VBEW). "Wir haben weder das Personal für Kernenergie noch die nötige gesellschaftliche Akzeptanz." Die Kernkraft-Träume scheinen also erst einmal Träume zu bleiben.
Hören Sie sich dazu auch unsere Podcast-Serie "Gespalten – Gundremmingen und das Ende der Atomkraft" an.