Wenn Fumio Kishida dieser Tage vor die Mikrofone tritt, spricht er mit bemerkenswerter Ruhe von einem Thema, das kurz zuvor noch für große Aufregung gesorgt hätte. „Mit der Priorität auf Sicherheit werden wir konkrete Schritte zur Wiederinbetriebnahme der Reaktoren machen“, verkündete der japanische Premierminister Ende Mai. Und wenn er seitdem seine Pläne erklärt, wirkt er nicht wie jemand voll Angst vor dem Volkszorn. Kishida ist überzeugt, das Richtige zu tun.
Dabei geht es um die in Japan wohl kontroverseste Frage des vergangenen Jahrzehnts, die schon Regierungen gestürzt und Millionen Demonstranten oder Unterschriften mobilisiert hat: die Nutzung von Atomkraft. Seit der Havarie des Atomkraftwerks Fukushima Daiichi nach einem Erdbeben und Tsunami am 11. März 2011, wodurch Hunderttausende ihr Zuhause verloren und einige Ortschaften bis heute evakuiert bleiben, ist stets eine Mehrheit in Japan gegen die weitere Nutzung der Atomkraft gewesen.
Mehr als 20 Prozent der Energie sollen aus AKWs kommen
Jetzt aber plant die japanische Regierung den großen Wiedereinstieg – und im Land bleibt es erstaunlich ruhig. Ein nun veröffentlichter wirtschaftspolitischer Entwurf des Kabinetts für das kommende Jahr sieht vor, dass möglichst viele der Atomreaktoren schnellstmöglich wieder Kernspaltungen vornehmen und die Netze mit Energie versorgen. Bis im Jahr 2030 sollen sich wieder 22 Prozent der nationalen Energieversorgung aus den Atomkraftwerken speisen.
Es ist eine beachtliche Wende in der japanischen Politik. Nach dem Reaktor-GAU von Fukushima waren noch alle Reaktoren im Land abgeschaltet worden, mehrere davon wurden endgültig vom Netz genommen. Erst im Jahr 2015 gingen die ersten zwei Meiler wieder in Betrieb, damals allerdings mit der Bemerkung, sie würden nur ein Niveau der Grundversorgung sichern. Das Gros sollte dagegen aus einem Mix aus fossilen und erneuerbaren Quellen bestehen.
Bis jetzt macht die Atomkraft rund fünf Prozent der japanischen Energieversorgung aus – nur ein Sechstel des Anteils vor der Nuklearkatastrophe. Denn die Atomkraft galt als unsicher, was die Unfallgefahr angeht, und unsauber im Bezug auf den Umgang mit Atommüll. Die Atomkraft galt damit als Auslaufmodell, da vor dem Ende der Reaktorlaufzeiten kaum noch neue Bauprojekte angestoßen würden.
Japan ist abhängig von Energie aus dem Ausland
Mittlerweile aber hat sich der Wind gedreht. Da Japan über die letzten Jahre rund 90 Prozent seiner Energieversorgung in Form von Öl, Gas und Kohle aus dem Ausland importiert hat, haben sich die Preissprünge seit Beginn des Ukraine-Krieges hier besonders bemerkbar gemacht. Insbesondere schmerzhaft sind diese auch deshalb, weil die Reallöhne im Land über die letzten Jahre praktisch nicht gestiegen sind. So sind schon relativ kleine Preissprünge deutlich zu spüren.
Die konservative Liberaldemokratische Partei (LDP), die Japan über die meiste Zeit seit Ende des Zweiten Weltkriegs regiert hat und auch jetzt den Premierminister stellt, befürwortet schon länger wieder die Atomenergie, mit deren Unternehmen sie gut vernetzt ist. So brachte sie die Atomkraft über die letzten Jahre schon bei den Bemühungen ins Gespräch, bis 2050 die Transformation in eine CO2-neutrale Volkswirtschaft zu schaffen.
Japaner sind Inflation nicht gewohnt
Die Inflation, selbst wenn sie nur gut zwei Prozent beträgt, ist auch in Japan zum Dauerthema geworden. Denn über zwei Jahrzehnte hat das Land praktisch keine Preissteigerungen erlebt. Wohl auch deshalb ergab schon im April eine Umfrage der Wirtschaftstageszeitung Nikkei, dass erstmals seit 2011 eine Mehrheit der Bevölkerung für die Nutzung der Atomkraft ist.
Doch selbst wenn von der Gesellschaft kein großer Widerstand mehr zu vernehmen ist, muss die nach dem GAU von Fukushima institutionell gestärkte Aufsichtsbehörde heutzutage diverse Sicherheitsmängel genau prüfen, von Unfallrisiko bis zum Schutz vor Terrorangriffen.
Hören Sie sich dazu auch unsere Podcast-Serie "Gespalten – Gundremmingen und das Ende der Atomkraft" an.