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Deutscher Arbeitgeber-Chef: Wir brauchen wieder mehr Lust auf Leistung

Interview

Arbeitgeber-Chef: "Mache mir ernsthafte Sorgen um den Standort Deutschland"

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    Der deutsche Arbeitgeber-Präsident Rainer Dulger macht sich ernsthaft Sorgen um den Standort Deutschland.
    Der deutsche Arbeitgeber-Präsident Rainer Dulger macht sich ernsthaft Sorgen um den Standort Deutschland. Foto: Soeren Stache, dpa

    Herr Dulger, am 9. Juni können die Bürgerinnen und Bürger in Deutschland ihre Stimme für die Europawahl abgeben. Worauf kommt es in der EU-Politik jetzt an? 

    Rainer Dulger: Wir brauchen ein starkes und geeintes Europa, das weltweit weitere Handelsabkommen schließt und unseren Wirtschaftsraum vergrößert. Aber wir brauchen auch ein Europa mit deutlich weniger Bürokratie als jetzt. Die Unternehmen in Europa müssen entlastet werden. Was wir aber vor allem auch brauchen, ist eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik. Dann wird Europa wieder stark. 

    Der französische Staatspräsident Macron hat in seiner Rede an der Pariser Sorbonne-Universität eindringlich gewarnt, "unser Europa heute ist sterblich". Europa müsse mehr tun, um mit den schnell aufrüstenden globalen Riesen konkurrieren zu können.

    Dulger: Ich konnte mir die Rede Macrons in der Sorbonne vor Ort live anhören. Das war eine tolle Rede, die mich sehr beeindruckt hat. Macron ist ein Mann, der sich Gedanken um Europa macht und Bürgern wie Politikern seines Landes die Gefahren für Europa deutlich aufzeigt. Das vermisse ich bei unserem Bundeskanzler. 

    Imponiert Ihnen Macron mehr als Scholz?

    Dulger: Europa braucht in diesen schwierigen Zeiten Führung. Macron füllt das derzeit aus. 

    Scholz hat aber im Februar 2022 eine imposante Rede zur Zeitenwende gehalten und Putin Paroli geboten.

    Dulger: Stimmt. Diese Rede liegt aber schon gut zwei Jahre zurück.

    Sollte Scholz jetzt an Macron Maß nehmen? 

    Dulger: Insgesamt braucht diese Bundesregierung mehr Biss – in jeder Beziehung. Wir müssen jetzt handeln. Deutschland und Europa brauchen Führung. Im Idealfall im Weimarer Dreieck. 

    Demnach müssten Deutschland, Frankreich und Polen für mehr Führung in Europa sorgen. Hat denn wirklich keiner Biss in der Bundesregierung? 

    Dulger: Bundesfinanzminister und FDP-Chef Christian Lindner hat Biss und steht für seine Positionen ein. Er passt seine Forderungen dem Wandel der Zeit an, schließlich hat sich das Umfeld seit der Vereinbarung des Koalitionsvertrags dramatisch verändert. 

    Sie haben Scholz wie der deutsche Industrie-Präsident Siegfried Russwurm offen kritisiert. Herr Russwurm kreidete der Ampelregierung "zwei verlorene Jahre" an. Sind es im Herbst schon drei verlorene Jahre? Haben Sie die Ampel abgeschrieben? 

    Dulger: Anfang des Jahres habe ich gesagt, dass die deutsche Wirtschaft das Vertrauen in die Bundesregierung verloren hat. Damit habe ich – das gebe ich zu – eine Debatte über den Zustand unseres Wirtschaftsstandortes in Gang setzen wollen. Verstärkend kamen dann die kritischen Worte von meinem BDI-Kollegen Siegfried Russwurm dazu. Es ist für die Ampelregierung aber noch nicht zu spät, das Ruder herumzureißen und spürbare Verbesserungen anzupacken, die möglichst schnell wirken. Ich habe die Hoffnung noch nicht aufgegeben. 

    Scholz hat die Kritik der Arbeitgeberverbände an seiner Politik spitz-spöttisch abprallen lassen und den Unternehmensvertretern vorgehalten: "Die Klage ist das Lied des Kaufmanns."

    Dulger: Ich habe darauf geantwortet, dass ich kein Kaufmann, sondern ein Ingenieur bin. Jedem sollte aber klar sein: Realitätsverweigerung ist kein Lösungsweg. Wir befinden uns aber gegenwärtig immer wieder in Gesprächen mit der Bundesregierung. 

    Glauben Sie noch daran, dass durch Scholz doch ein Wirtschafts-Ruck geht?

    Dulger: Ich bin nach wie vor hoffnungsvoll. Und wir werden auch weiterhin die Lage nicht schönreden, sondern darauf hinweisen, dass die wirtschaftliche Lage Deutschlands ernst ist. Gemeinsam mit den Spitzenverbänden der deutschen Wirtschaft haben wir dem Bundeskanzler Anfang des Jahres einen Brief mit zehn Punkten geschickt, was sich in Deutschland alles ändern muss. Ich kann nicht erkennen, dass die Bundesregierung hierauf bislang eingegangen ist. Währenddessen sind viele Punkte, die die Rahmenbedingungen für den Wirtschaftsstandort Deutschland verbessern würden, in das neue Grundsatzprogramm der CDU und in das Wirtschaftspapier für eine Wirtschaftswende der FDP eingeflossen. 

    Wahrscheinlich gefällt dem Kanzler die Arbeitgeber-Ansicht nicht, Deutschland gleiche einem stark renovierungsbedürftigen Haus.

    Dulger: Das ist keine Kategorie, in der ich Formulierungen wähle. Die Wahrheit ist: Je länger wir die erforderlichen Renovierungsarbeiten für das marode deutsche Haus vor uns herschieben, desto mehr verliert es an Wert. Wir verlieren also Wohlstand in Deutschland. Deshalb ist Eile geboten. Wir müssen jetzt handeln. Erkenntnis reicht nicht. Der frühere SPD-Kanzler Gerhard Schröder hat entschlossen gehandelt und Reformen auf den Weg gebracht. Das hat mir imponiert. Ich wünschte mir so manches entschlossenere Handeln auch von dieser Bundesregierung und wieder solch einen Agenda-2010-Moment. 

    Ähnlich wie in den 90er-Jahren werfen Politiker Arbeitgebervertretern vor, zu viel zu jammern. Stellen Sie die Lage schlechter dar, als sie wirklich ist? 

    Dulger: Bei allem Respekt gegenüber der Bundesregierung, wir üben realitätsnahe Kritik. Wir legen den Finger in die Wunde. Wir geben das an die Bundesregierung weiter, was unsere Unternehmerinnen und Unternehmer sagen und wo es brennt. Das ist unsere und meine Aufgabe, die ich auch weiter wahrnehmen werde. Deutschland braucht eine Bundesregierung, die das Wohlergehen und die Wettbewerbsfähigkeit des Standortes Deutschland, also den Wohlstand für dieses Land, in den Mittelpunkt des politischen Handels stellt. Wir sind leider Erkenntnisriesen und Handlungszwerge. Das ist typisch deutsch. 

    Wie ernst ist die Lage des Wirtschaftsstandortes Deutschland wirklich? 

    Dulger: Viele Menschen in Deutschland befinden sich in einer Wohlstands- und Sicherheitsillusion. Doch Deutschland fällt schon lange wirtschaftlich zurück. Und es geht jeden Tag, an dem wir nichts tun, noch mehr Wohlstand in Deutschland verloren. Ich mache mir ernsthafte Sorgen um den Standort Deutschland. 

    Ist die Lage wirklich so ernst? 

    Dulger: Unternehmen investieren immer weniger in Deutschland. Bisher stammen etwa 90 Prozent der Investitionen in Deutschland aus privater Hand, also nicht vom Staat. Wir müssen dafür sorgen, dass die privaten Investitionen weiter fließen. Das stabilisiert die Industrie und damit die Arbeitsplätze in Deutschland. Besorgniserregend ist, dass immer weniger Investitionen aus dem Ausland am Wirtschaftsstandort Deutschland getätigt werden. Die Zahlen sind dramatisch. Wir haben in den letzten drei Jahren Rekordnettoabflüsse an Investitionen von rund 100 Milliarden Euro pro Jahr. Hier müssen wir umgehend gegensteuern. Wir brauchen jetzt entschlossenes Zupacken, um dieses Land wieder wettbewerbsfähig zu machen. Ich drücke die Daumen, dass diese Botschaft beim Kanzler ankommt.

    Was muss konkret passieren? Legen Sie doch Ihren Wunschzettel an die Bundesregierung offen. 

    Dulger: Das ist kein Wunschzettel, sondern das sind dringend notwendige Maßnahmen, um unseren Wohlstand zu sichern. Deutschland muss wieder zu einem attraktiven Investitionsstandort werden. Drei Punkte sind dafür existenziell: Erstens muss die Politik Bürokratie abbauen. Sie ist eines der größten Hemmnisse und oft der Grund, warum sich Unternehmen gegen unseren Standort entscheiden. Zweitens: Die Politik muss das Arbeitskräfteangebot steigern. Warum sollten sich Unternehmen hier ansiedeln, wenn durch politische Entscheidungen wie die Frühverrentung das Angebot an Fach- und Arbeitskräften so gering ist? 

    Und drittens?

    Dulger: Wir müssen die Wertschätzung von Arbeit steigern, indem wir die Sozial- und Arbeitskosten senken. Unser Sozialstaat ist aufgebläht und muss treffsicherer werden. Mehr Netto vom Brutto schafft auch mehr Lust auf Arbeit. Wer mehr in der Tasche hat, kann auch mehr ausgeben und mehr investieren. Wir müssen die Wettbewerbsfähigkeit der Betriebe durch hervorragend ausgebildete Fachkräfte stärken. Doch leider verlieren wir in den Betrieben derzeit mehr Know-how durch den Abgang erfahrener Kräfte in die Rente, als wir an Know-how durch junge Beschäftigte gewinnen können. 

    Woran machen Sie das fest?

    Dulger: Der demografische Wandel ist kein Geheimnis. Und wenn dann noch die Babyboomer-Generation in den nächsten Jahren in den Ruhestand geht, verlieren die Unternehmen pro Jahr viele ihrer qualifiziertesten Beschäftigten. Denn es gehen jedes Jahr 500.000 mehr Menschen in Rente als neu in den Arbeitsmarkt eintreten. Wir müssen daher dringend die abschlagsfreie Frührente, also die sogenannte Rente ab 63, abschaffen. Und: Fachkräftepotenziale heben wir nur mit den richtigen Rahmenbedingungen. Und zwar indem wir bessere Bildungsangebote bereithalten, um junge Menschen gut aufs Berufsleben vorzubereiten, Anreize schaffen, damit Ältere länger arbeiten wollen und können, Ganztagsbetreuung für Kinder ausbauen, damit Frauen ihrem Wunsch nach mehr Arbeitsstunden nachgehen können, eine weltoffene Haltung gegenüber qualifizierten Beschäftigten aus dem Ausland leben und einfache und serviceorientierte Migrationsverfahren etablieren. 

    Gewerkschafter fordern die Viertagewoche ein. Was halten Sie davon?

    Dulger: Eine Viertagewoche bei vollem Lohnausgleich bleibt eine Illusion. Die Regelarbeitszeit liegt in der Metall- und Elektroindustrie beispielsweise nur bei 35 Stunden in der Woche. Dort, wo es möglich ist, ist es einerlei, ob diese Beschäftigten die Arbeitszeit in vier oder fünf Tagen die Woche erbringen. Hauptsache, sie erbringen ihre Arbeit effizient. 

    Was fordern Sie von den Beschäftigten?

    Dulger: Wir brauchen in Deutschland wieder mehr Lust auf Leistung. Anpacken, etwas schaffen, kreativ sein, Leistung zeigen – das sind Tugenden, die ich in den öffentlichen Debatten viel zu oft vermisse. Die Diskussionen drehen sich zu oft um die Menschen, die nicht arbeiten und leider immer weniger um den Wert von Arbeit. In dieser Frage geht es um nichts Geringeres als die Zukunft unseres Landes. Es geht um unseren Wohlstand. Einen anstrengungslosen Wohlstand wird es nicht geben. Es gibt immer noch viele Menschen, die ackern und den Laden am Laufen halten. Aber in Teilen ist dieses Land zu wenig hungrig auf Erfolg geworden. Anders gesagt: Wir brauchen mehr Ehrgeiz in der Veränderung. Das fängt bei den Verantwortlichen in der Bundesregierung an. 

    Und das Ansehen Deutschlands und des Wirtschaftsstandortes Deutschland bekommt immer neue Schrammen, häuften sich doch zuletzt gewalttätige Übergriffe auf Politiker. 

    Dulger: Ich bin entsetzt über die gewalttätigen Angriffe auf Abgeordnete, Kommunalpolitiker, Europawahlkämpfer und Vertreter von Verfassungsorganen. Dieser Ausbruch von Gewalt muss für uns alle eine Warnung sein. Radikale dürfen nicht das zerstören, was Demokratien im Wahlkampf ausmacht: die friedliche, angstfreie politische Willensbildung. Eine Demokratie muss sich auch wehrhaft zeigen. Deshalb begrüße ich sehr, dass die Sicherheitsbehörden und Gerichte alles daransetzen werden, die Gewalttaten und Übergriffe aufzuklären und die Täter zur Rechenschaft zu ziehen. Nur so stabilisieren wir unsere Demokratie. Und eine stabile Demokratie ist die Voraussetzung für eine stabile Wirtschaft. Eine starke Wirtschaft wiederum führt zu einem starken Land. 

    Bundesbank-Präsident Joachim Nagel hat sich entsetzt gezeigt, dass ausgerechnet Politiker, die sich für ein friedliches Europa einsetzen, Opfer von Übergriffen werden. 

    Dulger: Deswegen müssen wir als Demokraten parteiübergreifend zusammenstehen gegen Angriffe und Übergriffe im politischen Wettbewerb und sagen: Das geht mit uns nicht. Die Europa-Wahlen im Juni sind extrem wichtig: Denn hier können die Menschen mit ihrer Stimme dafür sorgen, dass links- und rechtsextreme Parteien wie die AfD möglichst wenig Stimmen bekommen. Deswegen bitte ich jeden Bürger und jede Bürgerin, ihre Stimme einzubringen und zur Wahl zu gehen. 

    Deutschland ist wirtschaftlich betrachtet der größte Profiteur der EU. Trotzdem kokettiert die AfD-Co-Vorsitzende Alice Weidel damit, Deutschland könnte die Gemeinschaft im Zuge eines Dexit verlassen. Wie sehr entsetzt Sie das? 

    Dulger: Jeder, der derzeit anti-europäische Parolen oder anderen Unsinn formuliert, hat die europäische Idee nicht verstanden. Europa hat sich nach dem Zweiten Weltkrieg zum Erfolgsmodell entwickelt. Dieses Modell müssen wir weiter entwickeln und nicht zurückentwickeln, wie sich das etwa die AfD vorstellt. Wenn Deutschland nicht mehr ein starker Teil Europas wäre, wäre damit auch das Ende der deutschen Volkswirtschaft besiegelt. Doch so weit wird es nicht kommen: Ich glaube fest an die Selbstheilungskräfte unserer Demokratie. 

    Was wären die wirtschaftlichen Konsequenzen, wenn Deutschland Migranten in hohem Maße abschieben würde, wie das AfD-Politikern vorschwebt? 

    Dulger: Wir könnten etwa unseren Familienbetrieb in Heidelberg, den Dosierpumpen-Hersteller ProMinent, nicht ohne die Mitarbeit von Menschen mit Migrationshintergrund führen, noch hätte das Unternehmen eine Führung. 

    Warum hätte das Unternehmen keine Führung? 

    Dulger: Weil auch ich Sohn eines Flüchtlings bin. Mein Vater war Migrant und hat rumänisch-deutsche Wurzeln, musste aber nach dem Krieg fliehen. Er kam aus Bessarabien nach dem Zweiten Weltkrieg nach Deutschland und hat die Firma aufgebaut. Alle Menschen, mit denen ich zusammenarbeite, haben irgendwo einen Migrationshintergrund. Darauf sollten wir stolz sein – so wie beispielsweise auch die Amerikaner. Sie sind stolz auf ihre Herkunft und ihre ausländischen Wurzeln. 

    Zur Person: Rainer Dulger, 60, ist seit 2020 Präsident der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, kurz BDA. Der Arbeitgeber-Chef vertritt in der Funktion die Interessen von mehr als einer Million Unternehmen mit rund 30 Millionen Beschäftigten. Zuvor war er von 2012 bis 2020 Präsident des Arbeitgeberverbandes Gesamtmetall. Mit seinem Bruder betreibt Dulger die ProMinent GmbH, die Dosierpumpen herstellt und weltweit vertreibt.

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