Die Ampel-Koalition ist noch keine 100 Tage im Amt. Dennoch wurden am Mittwoch bereits so etwas wie wirtschaftspolitische Antrittsnoten vergeben. Nicht nur von der Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft (vbw), sondern auch beim Leibniz-Gipfel der führenden deutschen Wirtschaftsforschungsinstitute. Wenn man will, kann man in der Gesamtschau der Meinungen und Bewertungen – zu diesem frühen Zeitpunkt – die Formulierung wählen, die vbw Hauptgeschäftsführer Bertram Brossardt benutzte. Und der sagte: „Das Glas ist halb voll.“
Dass die Transformation der deutschen Volkswirtschaft hin zur Klimaneutralität ganz oben auf der Agenda steht, bewerten die Forscher alle positiv, dennoch ist der lange Weg dorthin – überlagert von steigenden Energiepreisen, der Inflation, der Ukraine-Krise und dem Strukturwandel – auch bei den Forschern kontrovers diskutiert. Mehrfach kritisiert wurde, dass die Ampel sich nicht ausreichend zum Problem einer alternden Gesellschaft verhält. Das Wort Rentenreform findet sich zum Beispiel im Koalitionsvertrag nicht. Noch akuter aber ist vielleicht der Fachkräftemangel.
IW-Direktor Michael Hüther: "Keine Antwort auf den demografischen Faktor"
Michael Hüther, Direktor des – nomen est omen – wirtschaftsnahen Instituts der deutschen Wirtschaft Köln (IW), sagte in München: „Die Koalition hat keine Antwort auf den demografischen Faktor.“ In einer im November vorgelegten Studie hat das IW die Zahlen dazu vorgelegt. Demnach werden der deutschen Wirtschaft in den nächsten 15 Jahren mehr als fünf Millionen Erwerbstätige fehlen, denn die Babyboomer gehen in Rente. Das Problem ist nicht neu, der Fachkräftemangel ist schon jetzt in vielen Unternehmensumfragen eines der am häufigsten benannten Probleme. Kaum eine Veranstaltung eines Wirtschaftsverbandes kommt ohne das Thema aus.
Die Ampel-Regierung will dem Mangel laut Koalitionsvertrag zwar mit verschiedenen Maßnahmen begegnen. Dazu gehört eine „höhere Erwerbsbeteiligung von Frauen“, dazu gehört, Älteren, die wollen, längeres Arbeiten zu ermöglichen. Dazu gehört ein „neuer Schub“ für berufliche Weiterbildung oder Neuorientierung „auch in der Mitte des Erwerbslebens“. Und dazu gehört, schon etwas konkreter formuliert, die Arbeitskräfteeinwanderung zu forcieren. Wörtlich heißt es: „Wir werden unser Einwanderungsrecht weiterentwickeln und bewährte Ansätze des Fachkräfteeinwanderungsgesetzes wie die Westbalkan-Regelung entfristen. Neben dem bestehenden Einwanderungsrecht werden wir mit der Einführung einer Chancenkarte auf Basis eines Punktesystems eine zweite Säule etablieren, um Arbeitskräften zur Jobsuche den gesteuerten Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt zu ermöglichen.“ Die sogenannte Blue Card, ein Aufenthaltstitel für Hochschulabsolventinnen und -absolventen aus dem Nicht-EU-Ausland, soll auf nicht akademische Berufe ausgeweitet werden. Voraussetzung soll ein „konkretes Jobangebot“ zu marktüblichen Konditionen sein. Zugleich will die Ampel Bildungs- und Berufsabschlüsse aus dem Ausland leichter anerkennen.
Ohne Zuwanderung keine Energiewende
Das alles aber, so sagt Hüther, reicht nicht. Selbst wenn es gelänge, die Zuwanderung erheblich zu steigern. Den Bedarf an Zuwanderern hatte der scheidende Chef der Bundesagentur für Arbeit, Detlef Scheele, mit 400.000 pro Jahr beziffert. Hüther schlägt daher vor, die Arbeitszeit der Erwerbstätigen um zwei Stunden pro Woche zu erhöhen. So mache es zum Beispiel die Schweiz, um zumindest kurzfristig den Ausfall der Babyboomer zu kompensieren.
Auf dem Leibniz-Wirtschaftsgipfel forderte auch Thomas Bauer, Vizepräsident des Leibniz-Instituts für Wirtschaftsforschung (RWI) in Essen, dass mehr gegen den Fachkräftemangel getan werden müsse. Deutschland habe mit dem Fachkräfteeinwanderungsgesetz von 2020 eines der liberalsten Einwanderungsgesetze innerhalb der OECD, aber niemand wisse das. Es fehle an Werbung dafür im In- und Ausland, weder die deutschen Unternehmen wüssten es noch die ausländischen. Bauer sagte, ohne Zuwanderung werde man beim zentralen Anliegen der Koalition, dem Kampf gegen den Klimawandel, nicht vorankommen. „Irgendwer muss die Stromnetze ausbauen.“