Noch vor einem Jahr hatte die chinesische Führung Bauunternehmer und Investoren gewarnt. „Keine Exzesse mehr.“ Staats- und Parteichef Xi Jinping höchstpersönlich maßregelte sie: „Häuser sind zum Wohnen da, nicht zum Spekulieren.“ Doch von der vermeintlichen Wende hin zur Mäßigung am Immobilienmarkt ist nichts mehr zu spüren. Dabei waren die Warnungen berechtigt. Seit Jahren schlittert China von einer Immobilienkrise zur nächsten. Insbesondere die Zahlungsunfähigkeit des Marktführers Evergrande im vergangenen Jahr brachte schwere Verwerfungen. Mit umgerechnet 300 Milliarden Euro war der Immobilienkonzern so hoch verschuldet wie kein anderes Unternehmen auf der Welt.
Die chinesische Regierung und rote Linien
Mit „drei roten Linien“ wollte die Regierung dem ein Ende setzen. Bauträger sollten strengere finanzielle Auflagen erfüllen. Auch die Banken durften nicht mehr so großzügig Kredite vergeben, wie es lange Zeit möglich gewesen war. Doch die Immobilienverkäufe brachen daraufhin ein und mit ihnen die Konjunktur. Nun macht die Regierung einen Rückzieher und hat jene Bestimmungen aufgeweicht, die mehr Disziplin im Bausektor bringen sollten.
Seit Ende vergangenen Jahres pumpt sie außerdem über die Staatsbanken wieder Milliarden in den Sektor. „Niemand schert sich mehr um die drei roten Linien“, sagt Alicia Garcia Herrero, Chefökonomin für Asien-Pazifik bei der französischen Investmentbank Natixis in Hongkong. Die Ökonomin rechnet daher damit, dass sich der Bausektor 2023 erholen werde – und damit die chinesische Wirtschaft insgesamt.
Immer mehr Beton bringt längst nicht mehr so viel Wachstum
Es wirkt wie ein Rückfall in den Konsum einer stimulierenden Droge, nachdem die Entzugserscheinungen einsetzt haben. Zusammen mit dem Ende der Covid-Einschränkungen verfehlt das nicht den erwünschten Effekt. Der Einkaufsmanager-Index für die Industrie, ein wichtiges Konjunkturbarometer, stieg im Februar auf den höchsten Wert seit fast 13 Jahren, wie das Statistikamt Ende Februar mitteilte. Der Internationale Währungsfonds (IWF) rechnet mit einem Wirtschaftswachstum von 5,2 Prozent in diesem Jahr. Doch die guten Zahlen gehen von einer niedrigen Basis aus. Chinas Wirtschaft hatte im letzten Pandemiejahr stark unter den völlig überzogenen Zero-Covid-Regeln gelitten. Sie wuchs nur noch um magere drei Prozent, das ist nach 2020 das geringste Wachstum seit 40 Jahren.
Der IWF sieht für das laufende Jahr weiterhin „erhebliche Risiken“ für die wirtschaftliche Entwicklung. Es sei wichtig, das Vertrauen in den Immobiliensektor wiederherzustellen. Strukturreformen sollten mittelfristig den Markt gesundschrumpfen. Doch die Führung setzt lieber auf ein Rezept, das in den Neunzigern und Nullerjahren ganz wesentlich zum Aufstieg der inzwischen zweitgrößten Volkswirtschaft beigetragen hat: bauen, bauen, bauen. Doch inzwischen gibt es im Land so viele Autobahnen, Brücken und Hochhäuser, dass noch mehr Beton bei Weitem nicht so viel wirtschaftliche Dynamik bringt wie in der Aufbauphase. Die erste und zweite Brücke etwa in der Fünfmillionenmetropole Nanjing sorgt auf beiden Seiten des Jangtse-Flusses noch für viel Entwicklung und Wirtschaftswachstum. Die vierte Brücke hingegen schon sehr viel weniger. Und das lässt sich auf ganz China übertragen.
Die Finanzbranche hängt eng an der Bauwirtschaft
Das Problem: Die Bautätigkeit ist in der Regel kreditfinanziert. Früher herrschte dabei die Hoffnung vor, dass sich die Kredite leicht zurückzahlen lassen, wenn die Wirtschaft nur weiter wächst und die Preise allgemein steigen. Ein Gesundschrumpfen der Baubranche aber, wie es der IWF empfiehlt, ist nicht ohne allgemeine Verwerfungen möglich. Erhebliche Teile von Chinas Wirtschaft hängen am Immobiliensektor. Zusammen mit den nachgelagerten Industrien wie der Produktion von Stahl und Zement macht das bis zu einem Drittel der Wirtschaftskraft aus. Hinzu kommt, dass es in China an einem vertrauenswürdigen Aktienmarkt fehlt und auch das Sozialversicherungssystem wenig entwickelt ist. Viele Chinesinnen und Chinesen kennen zur finanziellen Absicherung im Alter daher nichts anderes als Betongold. Dazu kommt die Verflechtung des Finanzsektors mit dem Bau. Weil bei fallenden Preisen wiederum viele um ihr Vermögen fürchten und soziale Unruhen drohen, scheint es vordergründig für die Parteikader der naheliegendste Schritt zu sein, erneut Milliarden in die Hand zu nehmen, um den Immobiliensektor entsprechend zu fördern.
Hinzu kommt ein noch viel gravierenderes Problem, das den Immobilienmarkt auch langfristig belasten wird: die Demografiekrise. Chinas Bevölkerung ist im vergangenen Jahr erstmals geschrumpft – und zwar fast zehn Jahre früher als bisher prognostiziert war. Die Fertilitätsrate liegt nach Angaben des US-chinesischen Demografieexperten Yi Fuxian bei unter 1,0. Pro Frau sind 2,1 Kinder erforderlich, um die Einwohnerzahl eines Landes auf gleichem Niveau zu halten. „In China wird jede Generation nur noch halb so groß sein wie die vorige“, sagt Yi. Er führt das geringere Wirtschaftswachstum daher nicht nur auf die strengen Covid-Maßnahmen der vergangenen Jahre zurück. „Die Wirtschaft wächst langsamer, weil die Bevölkerung schrumpft“, sagt er. Und der Immobiliensektor werde von dieser Entwicklung am schlimmsten betroffen sein.
Lokale Kader bereichern sich durch Grundstücksgeschäfte
Wenn bei den Betoninvestitionen einmal endgültig das Ende erreicht ist, werden das auch die deutsche Wirtschaft und die Weltwirtschaft zu spüren bekommen. China ist nicht nur die größte Exportnation, sondern mit Importen von rund 2,7 Billionen US-Dollar (im Jahr 2021) nach den USA der größte Importeur. Insbesondere für den deutschen Maschinenbau war Chinas Baubranche ein bedeutender Abnehmer. Bisher profitierten speziell die Genossen auf Provinz- und Lokalebene selbst am meisten vom Wachstum der Immobilienbranche – unter anderem durch den Verkauf von Land. Auch das ist ein Bereich, der dringend Strukturreformen benötigen würde, vor denen sich die Führung aber ziert.