Es ist ein wenig so wie bei der Einführung der D-Mark: Auf einmal und wie von Zauberhand sind die Schaufenster voll und das Angebot ist da. Nachdem das Bundesverfassungsgericht dem Berliner Mietendeckel den KO-Schlag verpasst hat, waren in den virtuellen Schaufenstern auf den Immobilienportalen stündlich mehr freie Wohnungen in der Hauptstadt verfügbar. Wer sich eine automatische Benachrichtigung auf seinem Mobiltelefon eingerichtet hatte, konnte durch viele Inserate stöbern.
Denn der Mietendeckel hatte dazu geführt, dass Vermieter ihre Wohnungen zurückhielten oder zum Kauf anboten, weil sie damit weniger Geld verdienen konnten. Nach einer Analyse des Internetportals Immobilienscout24 hatte der Mietendeckel dafür gesorgt, dass ein Viertel weniger freie Wohnungen verfügbar waren. Wer in Berlin leben oder innerhalb der Hauptstadt umziehen will, hat jetzt eine größere Auswahl. Der Haken: Er oder sie muss in den meisten Fällen mehr Miete zahlen.
Hunderttausenden Mietern in Berlin stehen Nachzahlungen ins Haus
Hart ist das Urteil der Verfassungsrichter auch für Mieter der 340.000 Wohnungen, deren Miete durch den Deckel gesunken war. Sie sparten – je nach Größe der Wohnung und ihren individuellen Konditionen – teilweise mehrere hundert Euro pro Monat. Für Altbauwohnungen in Häusern, die 1918 gebaut wurden, galt beispielsweise eine maximale Kaltmiete von 8,45 Euro je Quadratmeter.
Zwar hatten die Eigentümer ihren Mietern geraten, das gesparte Geld zurückzulegen, weil Klagen gegen den radikalen Eingriff angekündigt waren, aber nicht alle konnten oder wollten das tun. Denn vor etwas mehr als einem Jahr kam das Corona-Virus über Deutschland.
Viele Berliner, die in Kneipen, Hotels, Fitnessstudios oder dem Handel arbeiten, sind in Kurzarbeit oder beziehen Stütze. Künstler und Musiker müssen mit Hartz-IV auskommen. Wie viele Mieter die Rückzahlung von teilweise mehreren tausend Euro finanziell überfordert, steht noch nicht fest. Die Vermieter mussten ab Ende November letzten Jahres zu hohe Mieten senken.
„Wir werden prüfen, inwieweit wir soziale Härten bei Mietnachforderungen abfedern können“, sagte der Regierende Bürgermeister Michael Müller (SPD). Für seinen rot-rot-grünen Senat ist der Richterspruch ein Fiasko. Das Stoppen des Immobilienwahnsinns war das zentrale Projekt des Dreiparteienbündnisses, das darüber hinaus wenig Zählbares hinbekommen hat.
„Nietendeckel“ dröhnte der Hohn. Die rot-rot-grüne Koalition hat mit der Bekämpfung der Corona-Pandemie genug zu tun. Dass sie bis zu den Wahlen zum Abgeordnetenhaus im September noch Größeres stemmen kann, erwartet keiner. Müllers Mannschaft ist aufgerieben. Der Regierende hört nach der Wahl auf und will seine politische Karriere als Abgeordneter im Bundestag ausklingen lassen.
Aus des Mietendeckels: Das Scheitern als Keimzelle von Rot-Rot-Grün im Bund
Das krachende Ende des linken Prestigeprojekts in der Hauptstadt könnte paradoxerweise der Beginn eines linken Bündnisses im Bund sein. Seit die Union in den Umfragen schwächelt, ist es keine theoretische Option mehr. Bundesfamilienministerin Franziska Giffey (SPD) forderte prompt einen Mietendeckel für ganz Deutschland. Denn die Verfassungsrichter hatten diesen nur abgeräumt, weil die Länder im Mietrecht nichts zu sagen haben, sondern nach Überzeugung des Gerichts allein der Bund. Inhaltlich bewerteten sie den schweren Eingriff in das Eigentumsrecht nicht.
Auch die neue Vorsitzende der Linkspartei sieht in der Entlastung der Mieter ein gemeinsames Projekt. „Wir wissen jetzt, dass eine Regelung für eine soziale Wohnungspolitik vom Bund kommen muss. Das wird eine der zentralen Fragen im Bundestagswahlkampf“, sagte Susanne Hennig-Wellsow unserer Redaktion. Sie führt seit Ende Februar gemeinsam mit Janine Wissler die Partei.
Ob das Bundesverfassungsgericht auch eine Bundesobergrenze für Mieten einkassierte, ist offen. Mit Sicherheit würde dagegen geklagt. Dass bezahlbares Wohnen nach dem Zurückdrängen des Corona-Virus ein Thema bleibt, ist genauso sicher. Selbst während des tiefen Corona-Wirtschaftseinbruchs sind die Immobilienpreise weiter gestiegen. Ein Ende des Booms ist nicht in Sicht.
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