Lehrjahre sind keine Herrenjahre. Wirtschaftspsychologin Mariella Zippert kann diesen Spruch nicht mehr hören. Für sie zeugt er von einer Geringschätzung junger Arbeitskräfte. Und das, obwohl doch viele Betriebe händeringend nach Azubis suchen. "Es ist enorm wichtig, dass Ausbildungsbetriebe einen geschützten Raum bieten, in dem sich junge Menschen in einer neuen Lebensphase reflektieren, anvertrauen und entwickeln können", sagt sie. Bleibe das aus, kann das schwerwiegende Folgen nach sich ziehen. Denn immer mehr Auszubildende leiden unter psychischer Belastung oder gar an psychischen Erkrankungen. Viele Mädchen zwischen 15 und 17 Jahren müssen aufgrund von Ess-, Angststörungen oder Depressionen sogar im Krankenhaus behandelt werden.
Ein drastisches Bild ergibt sich bei einer Umfrage des Verbands der Bayerischen Metall- und Elektroindustrie. Für den diesjährigen Ausbildungsreport wurden 228 Unternehmen mit insgesamt über 312.000 Beschäftigten nach der mentalen Gesundheit ihrer Azubis befragt. Dabei stellte rund ein Viertel der Betriebe (26,8 Prozent) fest, dass ihre Azubis zu Teilen an psychischen Erkrankungen leiden. Am häufigsten zeigt sich die Belastung in Form von Depressionen. Über die Hälfte der betroffenen Azubis hat mit dieser Erkrankung zu kämpfen. Danach folgen Angststörungen und Suchterkrankungen.
Durch den demografischen Wandel lastet viel Arbeit auf zu wenigen Schultern
Wirtschaftspsychologin Mariella Zippert kann einige Faktoren nennen, die die psychische Belastung während einer Ausbildung verstärken. Ein wichtiges Stichwort ist die Arbeitsverdichtung, bedingt durch den demografischen Wandel: "Wenn allmählich die sogenannten Babyboomer in Rente gehen, droht die Gefahr, dass immer mehr Arbeit auf zu wenigen, meist jungen Schultern abgeladen wird", sagt die Expertin. Dazu kommt, dass viele Azubis eine Geringschätzung ihrer Person erleben oder gar als junge Arbeitskraft "verheizt" würden.
Laut der Wirtschaftspsychologin spielt das Arbeitsklima und eine klare Kommunikation über Arbeitsrechte, Regeln und Aufgaben eine tragende Rolle. "Wird den jungen Arbeitskräften zu Beginn ihrer Ausbildung keine Zeit gegeben, in das neue Umfeld und die Aufgaben hineinzuwachsen, kann das Angst, Demotivation und Ohnmachtsgefühle erzeugen", erläutert Zippert.
Ein Viertel der befragten Azubis kann sich nach der Arbeit schwer erholen
Auch der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) Bayern führt seit einigen Jahren eine jährliche Umfrage zur psychischen Belastung bei Auszubildenden durch. 2022 haben an der Umfrage 1353 Azubis teilgenommen. Dabei gab knapp ein Viertel (22 Prozent) der Befragten an, "immer" oder "häufig" Probleme damit zu haben, sich in der Freizeit zu erholen. Nur einem knappen Viertel ist dieses Problem überhaupt nicht bekannt. Laut DGB gebe es diese hohen Werte bereits seit einigen Jahren – aber warum?
Für viele Azubis sei besonders die finanzielle Situation belastend. "Teilweise ist das Ausbildungsgehalt so niedrig, dass sich Azubis einen Nebenjob suchen müssen, um über die Runden zu kommen", sagt DGB-Bezirksjugendsekretärin Anna Gmeiner. Dazu sorge eine fehlende Übernahmegarantie für Verunsicherung und Stress. "In einigen Betrieben wissen die Azubis sogar kurz vor Ausbildungsende noch nicht, ob sie dort eine Zukunft haben." Außerdem beobachtet die Gewerkschaft einen steigenden Leistungs- und Zeitdruck, der mit steigenden Ansprüchen an Auszubildende einhergeht. Wie stark belastet Azubis sind, hänge auch mit der jeweiligen Branche zusammen.
Schicht- und Wechseldienste können die psychische Belastung erhöhen
In manchen Berufen können die Schicht- und Wechseldienste die psychische Belastung erhöhen, bestätigt Psychologin Mariella Zippert. Dadurch leide oftmals der Schlafrhythmus und die Zeit für Sozialkontakte. Allerdings warnt Zippert davor, den Arbeitszeiten beim Thema mentale Gesundheit einen zu hohen Stellenwert beizumessen. "Die Belastung durch Schichtarbeit kann durch die Sinnstiftung der Arbeit wieder kompensiert werden", so die Psychologin. "Wenn etwa ein Bürojob mit klaren Arbeitszeiten, aber mit abstrakten Aufgaben ohne Bezug zum Endprodukt oder dessen Nutzern, total sinnentfremdet ist, kann diese Arbeit psychisch belastender sein als etwa ein Pflegeberuf mit Schichtdiensten."
Insgesamt leiden junge Frauen deutlich häufiger an psychischen Erkrankungen als männliche Gleichaltrige. Das geht aus einer Sonderanalyse von Krankenhausdaten der Krankenkasse DAK Bayern hervor. Besonders alarmierend ist die starke Zunahme von Essstörungen bei 15- bis 17-jährigen Mädchen. Hochgerechnet auf alle Jugendlichen in Bayern kamen im vergangenen Jahr 49 Prozent mehr Patientinnen mit dieser Diagnose ins Krankenhaus als noch 2019. Auch bei Angststörungen stiegen die Klinikaufenthalte um 39 Prozent an, bei Depressionen waren es 37 Prozent.
Betriebe und Schulen sollten auch über psychischen Arbeitsschutz aufklären
Was hilft gegen die Zunahme von Seelenleiden bei Azubis? "Am besten gehen Berufsschulen und Ausbildungsbetriebe Hand in Hand dabei, über psychischen Arbeitsschutz aufzuklären und Unterstützungsangebote zu etablieren. Dabei kommt den Lehrkräften eine besondere Verantwortung zu", rät Expertin Zippert. Eine Maßnahme kann es sein, Führungskräfte zu sensibilisieren und zu schulen. "Wenn zum Beispiel frisch ernannte Führungskräfte ohne Ausbildung zur Führung oder Kommunikation aus eigener Unsicherheit heraus mit Druck oder Angst leiten, wirkt sich das negativ auf die Gesundheit der Mitarbeitenden aus."
Viele kleine Betriebe verfügen allerdings nicht über die notwendigen Ressourcen, um Unterstützungsangebote zu etablieren. In diesen Fällen kann eine Förderung der Initiative Neue Qualität der Arbeit (INQA) vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales helfen. Betriebe mit bis zu 249 Mitarbeitenden haben dadurch die Chance, für ein Coaching 80 Prozent der Kosten erstattet zu bekommen. Auch Mariella Zippert ist als ein solcher Coach zertifiziert.
Neben der Verantwortung der Betriebe, Maßnahmen zu ergreifen, können sich Auszubildende auch selbst vor zu hoher psychischer Belastung schützen: "Achtsam sein, Sport treiben, an der frischen Luft sein und offline soziale Kontakte pflegen, sind wirksame Methoden, um Stress abzubauen", sagt Psychologin Zippert.