Der Krieg Russlands gegen die Ukraine hat die Pläne der Bundesregierung für einen endgültigen Atomausstieg Deutschlands zum Ende des Jahres kräftig durchkreuzt. Politikinnen und Politiker mehrerer Parteien forderten, die verbliebenen Meiler länger laufen zu lassen. Doch als Grünen-Wirtschaftsminister Robert Habeck Anfang September bekannt gab, die Meiler Isar 2 in Bayern und Neckarwestheim in Baden-Württemberg bis Mitte April 2023 als "Notreserve" beizubehalten, begann ein Verwirrspiel: Kurz danach lehnte erst die Eon-Tochter Preussen Elektra als Bertreiberin von Isar 2 einen Reservebetrieb ab, also "ein flexibles Anheben und Drosseln der Leistung". Anschließend ist auch noch von einem lecken Ventil im Kraftwerk berichtet worden. Jetzt hat sich Habeck mit den Betreibern doch geeinigt. Wir erklären, was die Entscheidung bedeutet.
Bleiben Isar 2 und Neckarwestheim jetzt über den 31. Dezember hinaus ganz sicher am Netz?
Mit der Einigung werden die Betreiber der beiden Atomkraftwerke alles Erforderliche in die Wege leiten, damit der Weiterbetrieb über den 31. Dezember 2022 möglich ist. Das teilte das Bundeswirtschaftsministerium mit. So verrückt es klingt, ganz sicher ist ein Weiterbetrieb der Kernkraftwerke damit aber noch immer nicht. Die Bundesregierung will "bis spätestens Anfang Dezember" entscheiden, ob sie die Einsatzreserven dann auch abruft. Dies soll von mehreren Kriterien abhängen. Wichtig ist vor allem die Verfügbarkeit von Atomkraftwerken in Frankreich. Dort waren zuletzt so viele Anlagen abgeschaltet, dass Frankreich Strom aus Deutschland importieren musste und hierzulande sündteure Gaskraftwerke liefen. Weitere Kriterien für den längeren Betrieb von Isar 2 und Neckarwestheim sind die Zahl der wieder angeworfenen deutschen Kohlekraftwerke, die Brennstoffversorgung von Kohle- und Gaskraftwerken und der Stromverbrauch.
Wie wahrscheinlich ist es, dass die beiden Atomkraftwerke nach dem 31. Dezember am Netz bleiben?
Bundeswirtschaftsminister Habeck hält es für sehr wahrscheinlich, dass die beiden deutschen Atomkraftwerke länger betrieben werden müssen. Grund dafür ist, dass die Atomkraftwerke in Frankreich wohl auch im Winter zu wenig Strom liefern werden. "Als für die Energiesicherheit verantwortlicher Minister muss ich daher sagen: Wenn diese Entwicklung nicht noch in ihr Gegenteil verkehrt wird, werden wir Isar 2 und Neckarwestheim im ersten Quartal 2023 am Netz lassen. Stand heute halte ich das für notwendig", teilte deshalb Habeck mit. Die Daten aus Frankreich sprächen dafür, die Reserve auch abzurufen und zu nutzen.
Wie lange kann Isar 2 noch Strom liefern?
Die bisherigen Pläne sehen vor, dass Isar 2 noch bis Anfang März 2023 Strom liefert. Nach dem Jahreswechsel würde das Kraftwerk anfänglich noch 95 Prozent der normalen Leistung erzeugen. Dies lässt dann kontinuierlich nach, sodass am Ende noch rund 50 Prozent zur Verfügung stehen. Insgesamt kämen in dieser Zeit rund zwei Terawattstunden zusammen. Dann wären langsam auch die Brennstäbe erschöpft.
Hieß es nicht, im Kraftwerk Isar 2 sei ein Ventil defekt?
Ja, der Betreiber Preussen Elektra hatte Mitte September von einer Ventil-Leckage im Kraftwerk Isar 2 berichtet. Dies soll repariert werden. Nach Angaben des Bundeswirtschaftsministerium sind "Arbeiten zur Beseitigung systeminterner Druckhalter-Leckagen bis spätestens Ende Oktober nötig, was circa einen einwöchigen Stillstand bedeutet". Danach kann das Kraftwerk wieder ans Netz.
Wie lange kann Neckarwestheim noch laufen?
Das baden-württembergische Atomkraftwerk Neckarwestheim soll noch bis 15. April 2023 Strom liefern. Dafür allerdings muss zuvor der Reaktorkern "rekonfiguriert" werden. Der Betreiber EnBW würde das Kraftwerk dafür zwei bis drei Wochen herunterfahren. Ginge Neckarwestheim nach dem Stillstand wieder in Betrieb, könnte das AKW anfangs rund 70 Prozent der normalen Leistung bereitstellen, am Ende dann rund 55 Prozent. Rund 1,7 Terawattstunden Strom kämen zusammen.
Bekommen Isar 2 und Neckarwestheim neue Brennstäbe?
Das ist anscheinend nicht vorgesehen. Nach den bisherigen Plänen würde Isar 2 mit den bisherigen Brennständen über den Jahreswechsel hinaus weiterlaufen. In Neckarwestheim wird der Reaktorkern neu konfiguriert. Dafür würde der Reaktorkern der Anlage "mit bereits vorhandenen teilverbrauchten Brennelementen neu zusammengesetzt", teilte der Betreiber EnBW mit. Zusätzliche hochradioaktive Abfälle entstehen nach Angabe des Bundeswirtschaftsministeriums nicht.
Springt Isar 2 dann kurzfristig ein, wenn Strom knapp ist oder läuft das Kraftwerk kontinuierlich weiter?
Kernkraftwerke sind im Gegensatz zu Gaskraftwerken nicht dafür ausgelegt, bei kurzfristiger Stromknappheit einzuspringen. Sie liefern konstant große Strommengen als Grundlast. Dazu kommt, dass im Fall von Isar 2 "aufgrund der sinkenden Reaktivität des Reaktorkerns nach einem Abschalten zum Jahresende 2022 ein Wiederanfahren des Reaktors mit demselben Kern nicht möglich" wäre, berichtet das Bundeswirtschaftsministerium. Das bedeutet: Isar 2 kann nach dem Jahresende nicht mehr beliebig herunter- und hochgefahren werden. Damit bleibt nur ein durchgehender Weiterbetrieb des Reaktors – maximal "bis zum vollständigen Ausnutzen des Reaktorkerns, voraussichtlich Anfang März 2023". Häufig wird dies auch als "Streckbetrieb" bezeichnet, also als ein Weiterbetrieb mit dem bisherigen Kern.
Wer trägt die Kosten des längeren Betriebs?
Ruft der Bund die beiden Atomkraftwerke als Reserve ab, ist davon auszugehen, dass die Betreiber über die Stromeinnahmen ihre Kosten decken und Gewinn machen. Der Bund behält sich dabei vor, "allgemeine Regelungen" zur Abschöpfung von Übergewinnen anzuwenden, berichtet das Bundeswirtschaftsministerium. Über eine mögliche Übergewinnsteuer für Energieerzeuger wird derzeit politisch debattiert. Eine spezielle Übergewinn-Steuer nur für die AKW soll es aber nicht geben. Ruft die Regierung die Reserve nach dem Jahreswechsel dagegen nicht ab, sollen "die notwendigen Kosten für die Einsatzreserve erstattet" werden. Bisher sind dies alles Pläne aus einem Eckpunktepapier aus Habecks Wirtschaftsministerium. Die für den Reservebetrieb nötigen Gesetze und Verträge mit dem Energiekonzern sollen bis Ende Oktober unter Dach und Fach sein.
Ist der weitere Betrieb ohne Risiko?
Der Bund für Umwelt- und Naturschutz kritisierte die Pläne scharf. "Der Streckbetrieb kann eine mögliche Strommangellage in Deutschland nur zu einem sehr geringen Teil auffangen", sagte BUND-Chef Richard Mergner. "Das kürzlich entdeckte Leck in einem Ventil in Isar 2 lässt aufhorchen und Zweifel an der derzeitigen Betriebssicherheit aufkommen." Während nach dem Willen des Bundeswirtschaftsministeriums nach Ende des Streckbetriebs Schluss mit der Atomkraft in Deutschland ist und der Rückbau von Isar 2 und Neckarwestheim beginnen soll, befürchtet Mergner in der Einigung einen "Türöffner für weitere Laufzeitverlängerungen".
Pragmatisch sehen es die Grünen Bayerns: „Uns Grünen geht es darum, die Menschen gut durch den Winter zu bringen. Das ist oberste Prämisse bei all unseren Entscheidungen, die derzeit getroffen werden", sagte Ludwig Hartmann, Chef der Grünen-Landtagsfraktion. "Leider hat die Kommunikation der Atomkraftwerksbetreiber in den letzten Wochen viel Verwirrung gestiftet", kritisiert Hartmann. "Nun haben sie endlich ehrlich die technischen Möglichkeiten auf den Tisch gelegt. Das war ein überfälliger Schritt, um die Notreserve der AKWs wasserfest vorzubereiten", sagte er. "Wenn wir den Reservebetrieb der beiden AKWs brauchen, um im Winter das Stromnetz stabil und die Versorgungssicherheit aufrecht zu halten, wird er nun greifen können."