In Libyen wirft der UN-Beauftragte das Handtuch, in Syrien und im Irak verstärkt die Türkei ihre Angriffe auf kurdische Milizen, in Kuwait schickt der Emir das Parlament nach Hause und lässt Regimekritiker festnehmen: Während die Aufmerksamkeit der internationalen Gemeinschaft auf den Gaza-Krieg konzentriert ist, entwickeln sich in der Region neue Krisen. Gerade Gaza zeige die Gefahr durch „vergessene Konflikte“, warnen Experten. Das könne auch an anderen Krisenherden geschehen.
Der Gaza-Krieg ist „ein Modell dafür, was geschehen kann, wenn ein vergessener Konflikt explodiert“, meint Julien Barnes-Dacey von der europäischen Denkfabrik European Council on Foreign Relations. Im Gespräch mit unserer Zeitung plädierte er für mehr europäisches Engagement in Krisen außerhalb von Gaza, um solche Explosionen zu verhindern.
Im Nordosten Syriens herrscht noch immer Krieg
Bisher ist davon nichts zu sehen, obwohl es an vielen Stellen in Nahost brennt. Im Nordosten Syriens greifen pro-iranische Gruppen in jüngster Zeit die Kurdenmiliz SDF an, die mit den USA verbündet ist. Damit versucht der Iran, der die Hamas im Krieg gegen Israel unterstützt, die amerikanischen Militärs zum Rückzug aus Syrien und dem ganzen Nahen Osten zu zwingen.
Die SDF gerät auch von türkischer Seite unter Druck. Türkische Truppen töteten in den vergangenen Tagen nach Regierungsangaben aus Ankara fast 20 kurdische Kämpfer im Norden Syriens und im Irak; die Türkei sieht die SDF als Ableger der kurdischen Terrorgruppe PKK, die im Norden Iraks ihr Hauptquartier hat. Präsident Recep Tayyip Erdogan hat für den Sommer eine Großoffensive der türkischen Armee im Irak angekündigt, um das Hauptquartier der PKK rund 100 Kilometer südlich der türkischen Grenze zu zerstören.
Die Großmächte sind abgelenkt
Internationale Mächte wie die USA oder Europa sind wegen des Gaza-Krieges zu abgelenkt, um etwas gegen Eskalationen wie im Norden Syriens zu unternehmen. US-Außenminister Antony Blinken, CIA-Chef William Burns und Bundesaußenministerin Annalena Baerbock sind seit dem Ausbruch des Gaza-Krieges im Oktober zwar mehrfach nach Nahost gereist, doch dabei ging es stets um den Konflikt zwischen Israel und der Hamas – für andere Krisen blieb keine Zeit.
Das gelte auch für Libyen, sagt Nahost-Experte Barnes-Dacey. Dabei berührt die Dauerkrise in dem nordafrikanischen Bürgerkriegsland mit seinen zwei rivalisierenden Regierungen direkt europäische Interessen: Mehr als die Hälfte der 17.000 Bootsflüchtlinge, die seit Jahresbeginn in Italien ankamen, fuhren nach UN-Angaben in libyschen Häfen los. Doch als der UN-Sonderbeauftragte für Libyen, der senegalesische Diplomat Abdoulaye Bathily, im April nach gerade einmal anderthalb Jahren im Amt frustriert aufgab, reagierte Europa nur mit einem Schulterzucken.
Russland nutzt in Libyen das Desinteresse des Westens
Bathily sollte sich für die UNO um die Bildung einer libyschen Einheitsregierung kümmern, scheiterte aber an libyschen Politikern, die ihre Eigeninteressen verfolgten und ihn auflaufen ließen. Internationale Akteure, darunter Russland, die Vereinigten Arabischen Emirate, die Türkei, Frankreich und Italien, sind mitverantwortlich für den Misserfolg. Russland nutzt das Desinteresse des Westens, baut seine Beziehungen zu der Regierung in der Osthälfte von Libyen aus und schickt trotz eines internationalen Waffenembargos weiter Waffen nach Libyen. Die meisten Rüstungsgüter werden über libysche Häfen weiter in zentralafrikanische Staaten transportiert.
Dass die russischen Exporte ungehindert laufen können, hat mit dem Gaza-Krieg zu tun. Viele US-Kriegsschiffe seien ins Rote Meer abkommandiert worden, wo sie Handelsschiffe gegen Angriffe der jemenitischen Huthi-Rebellen schützen sollen, sagte Ben Fishman von der US-Denkfabrik Washington Institute für Near East Policy der amerikanischen Internetseite Defence News. Die Huthis wollen mit dem Beschuss der Schiffe die Hamas im Krieg gegen Israel unterstützen.
Auch Verbündete des Westens in der arabischen Welt sehen im Gaza-Krieg eine Gelegenheit, sich Vorteile zu verschaffen, ohne dass sie von den USA oder Europa etwas befürchten müssen. Der Emir von Kuwait, Scheich Meschal al-Ahmad al-Sabah, löste am Freitag das neue Parlament des Öl-Staats am Persischen Golf auf und setzte Teile der Verfassung außer Kraft. Anschließend wurden Regierungskritiker festgenommen. In Kuwait, wo die Volksvertreter bisher mehr Mitspracherechte hatten als in anderen arabischen Autokratien, gibt es Streit zwischen den gewählten Parlamentariern und der Regierung, die von der Herrscherfamilie al-Sabah ernannt wird. Das Parlament, das erst im April gewählt worden war, sollte an diesem Montag zu seiner konstituierenden Sitzung zusammentreten. Daraus wird nun nichts.