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Zwischenbilanz: Wirecard, der Skandal und die Menschen, die zum Geld nicht Nein sagten

Das Logo am ehemaligen Stammsitz der Wirecard AG in Aschheim am Rand von München ist längst abgeschraubt. Nach Bekanntwerden des Bilanzskandals musste Deutschlands einstmals vielsprechendstes Fintech-Unternehmen Insolvenz anmelden.
Zwischenbilanz

Wirecard, der Skandal und die Menschen, die zum Geld nicht Nein sagten

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    Da draußen in Aschheim, Einsteinring 35, in diesem grauen Gewerbegebiet am Münchner Stadtrand, weist fast nichts mehr auf die Wirecard AG hin. Obwohl hier noch Menschen arbeiten. Die Firmenschilder sind abmontiert, irgendwo hängt noch ein kleiner Mitarbeiter-Hinweis für die Raucher, aber das war’s. Dass hier, in dem vierstöckigen Zweckbau mit dem Charme einer Kreisverwaltungsbehörde, mal Deutschlands aufregendstes Fintech-Unternehmen seinen Stammsitz hatte, wirkt im Nachhinein so absurd wie passend. Absurd, weil alles so grundsolide ausschaut. Passend, weil es mittelständisch anmutet und nicht wie ein milliardenschwerer Zahlungsdienstleister, für den sogar die Bundeskanzlerin in China Reklame machte. An der nahen Bushaltestelle pappt ein vergilbender Aushang des Gemeindetheaters. Auf dem Programm: Flavia Costes Komödie „Nein zum Geld.“

    Markus Braun und Jan Marsalek haben die Vorstellung eher nicht gesehen. Der frühere Vorstandsvorsitzende der Wirecard AG sitzt nach wie vor in der JVA Augsburg-Gablingen in Untersuchungshaft. Und Marsalek, der frühere Chief Operating Officer, ist auf der Flucht, verschwunden, jedenfalls ist über seinen Verbleib nichts bekannt. Als gewiss allerdings darf gelten, dass er und Braun selten „Nein zum Geld“ gesagt haben. Und dass ihnen das Lachen schon lange vergangen ist.

    Am Freitag muss Angela Merkel vor den Wirecard-Untersuchungsausschuss

    Denn im Juni 2020 wurde bekannt, dass Wirecard 1,9 Milliarden Euro fehlten, die in der Bilanz ausgewiesen waren. Wenig später musste das Unternehmen Insolvenz anmelden und Deutschland hatte einen der größten Wirtschaftsskandale der letzten Jahrzehnte, der noch lange nicht aufgearbeitet ist. Nicht juristisch, nicht finanziell, nicht politisch. Die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft München I laufen, das Insolvenzverfahren läuft, der Untersuchungsausschuss des Bundestages tagt. Es steht eine entscheidende Woche mit prominenten Zeugen an. Am Dienstag müssen Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) und Digitalstaatsministerin Dorothee Bär (CSU) sich den Fragen stellen, am Donnerstag Bundesfinanzminister und SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz und am Freitag Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU).

    Es geht dabei im heraufziehenden Bundestagswahlkampf um die politische Verantwortung für den mutmaßlichen Milliardenbetrug. Es gibt sehr viele offene Fragen in schwer zu überschauender Gemengelage. Nur ein paar Beispiele: Altmaiers Ressort ist für die Abschlussprüferaufsichtsstelle (APAS) zuständig, die wiederum für EY zuständig war. Jene Wirtschaftsprüfungsgesellschaft, die Wirecard-Bilanzen jahrelang testiert hatte und deswegen nun heftigst in der Kritik steht. Scholz’ Finanzministerium hat die Aufsicht für die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (Bafin). Auch diese Behörde muss sich nach wie vor viele sehr kritische Fragen anhören. Der frühere Bafin-Chef Felix Hufeld ist nicht mehr im Amt. Oder: Warum setzte sich Bundeskanzlerin Angela Merkel auf einer China-Reise für die Wirecard AG ein, obwohl es zu diesem Zeitpunkt schon offensichtliche Zweifel an deren Vertrauenswürdigkeit gab? Es wird eine spannende Woche.

    Die Linke

    hat viele Fragen an Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD)

    Der Bundestagsabgeordnete Fabio de Masi sitzt für die Linken im Wirecard-Ausschuss. Er sagt: „Die Kanzlerin muss nun beantworten, warum sie sich trotz der Warnung der Financial Times und der Absage eines Termins mit CEO Markus Braun beim mächtigsten Mann Chinas für Wirecard engagiert hat. Olaf Scholz muss sich der Frage stellen, warum die Bundesregierung Wirecard auch nach den Vorwürfen noch wie einen „nationalen Champion“ behandelt hat. Insbesondere muss Scholz zu den etwaigen Rettungsplänen durch Kredite der Commerzbank und KfW aussagen.“

    Wie konnte das alles passieren? Das fragt sich auch Jörn Leogrande. Er weiß es auch nicht genau, aber der 57-Jährige kann zumindest manches besser erklären. Der Germanist war seit 2005 bei Wirecard. Er hat den Aufstieg vom kleinen Zahlungsdienstleister für das Porno- und Glücksspielgeschäft, der Wirecard zu Beginn war, bis zum Dax-Konzern mit namhaften internationalen Großkunden aus nächster Nähe begleitet. Leogrande begann im Marketing, leitete die Abteilung dann, stieg weiter auf und war ab 2017 Chef der globalen Innovationsabteilung. Leogrande sagt: „Die Aufklärung des Wirecard-Skandals könnte ewig dauern, bis das in all seinen Details aufgeklärt ist.“

    Jörn Leogrande war jahrelang im Management von Wirecard - eine "Bad Company"

    Leogrande arbeitet nicht mehr bei Wirecard. Er quittierte den Dienst, verließ das Unternehmen am 8. August vergangenen Jahres und kam damit, wie er sagt, allerdings nur seiner eigenen Kündigung zuvor. Er war 15 Jahre dabei, berichtete direkt an den Ex-Wirecard-Chef Markus Braun und arbeitete über Jahre „eng“ mit dem passionierten Slimfithemd-Träger Jan Marsalek zusammen.

    Leogrande hat ein Buch über seine Wirecard-Jahre geschrieben. Es heißt „Bad Company“ und er hat es verfasst, so schreibt er, „um die Wirecard-Story und meinen Anteil daran nachvollziehbar zu machen. Ich schreibe diesen Text auch, um persönlich mit meiner Vergangenheit bei der Wirecard AG abzuschließen.“ Nun könnte man natürlich fragen, ob das gelingt, wenn man danach, wochenlang Promotion für das Buch macht. Andererseits wird man als Sachbuchautor in Deutschland in aller Regel auch kein Millionär.

    Jörn Leogrande war lange Jahre bei Wirecard im Management.
    Jörn Leogrande war lange Jahre bei Wirecard im Management. Foto: Ulrich Wagner

    Mit Leogrande kann man bei einem kleinen Spaziergang durch noble Münchner Viertel Bogenhausen leicht ein, zwei Stunden verplaudern. Man kommt dabei auch an der Prinzregentenstraße vorbei, wo jene geheimnisvolle Villa steht, in der Marsalek, Leograndes mit internationalem Haftbefehl gesuchter Ex-Vorgesetzter, Gäste empfangen haben soll. Leogrande hat eine sanfte Stimme, das internationale Jetset-Vokabular, die Fintech-Anglizismen kommen ihm leicht über die Lippen. Er sei noch nie in diesem Haus gewesen, sagt er.

    Wo ist Ex-Wirecard-Vorstand Jan Marsalek?

    Die Staatsanwaltschaft ermittelt nicht gegen ihn, wie er versichert. Er gehört nicht zu den Beschuldigten. Aber natürlich stellt sich die Frage, ob er irgendetwas bereut? Der Familienvater antwortet: „Natürlich wäre es aus heutiger Sicht besser gewesen, noch intensiver zu fragen. Aber wissen Sie, Sie gehen nicht zu Markus Braun und sagen: Erzähl mir doch bitte die Details der Bilanz. Das ist ja nichts, was ich wirklich hätte machen können.“ Es war auch nicht so, dass er zur Staatsanwaltschaft hätte gehen können, um denen zu sagen: Ich erzähle euch jetzt mal eine richtig gute Geschichte. „Ich hatte nichts. Und das war bei den meisten so.“ Natürlich, sagt er, wäre es besser gewesen, wenn er das Unternehmen an einem gewissen Punkt verlassen hätte. „Aber das sagt man rückblickend. Dann ist das immer easy.“ Natürlich habe auch er sich gefragt, wieso der Gewinn über Jahre so stabil bleiben konnte und das niemand komisch vorgekommen sei.

    Aber klar, hinterher sind viele schlauer. Und wer sagt denn tatsächlich „Nein zum Geld“?

    Die große Wirecard-Illusion manifestiert sich vielleicht auch an Marsalek. Den charismatischen Österreicher hat auch Leogrande als genau das in Erinnerung: „Er hatte Manieren, er hatte Stil, er konnte ein Netzwerk einfangen, kannte die entscheidenden Leute, hatte einen Sinn für Perfektion.“ Andererseits, so erzählt Leogrande, war das operative Geschäft nicht so das Ding des Chief Operating Officer. Es sei keine Seltenheit, dass sich Marsalek über ein halbes Jahr bei Mitarbeitern zu laufenden Projekten nicht gemeldet hätte. Im Gegensatz zu Braun, der „nicht so der Natural Born Killer der großen Stage war“, sei Marsalek aber „völlig in seiner Rolle aufgegangen“. Zugleich, so sein Eindruck, habe Marsalek allerdings „ein inneres Wertesystem“ gefehlt.

    Oben-Ohne-Foto von Jan Marsalek?

    Leogrande macht das an einer beispielhaften Situation fest, in der Marsalek ihn gefragt habe, ob er ein Foto von sich im Büro aufhängen solle. Zwar eine Karl-Lagerfeld-Fotografie, die am Rande eines Mode-Shootings entstanden sei. Andererseits sei Marsalek oben ohne gewesen. Klar, sein COO habe die Figur eines Kampfschwimmers gehabt, Leogrande habe aber dennoch geantwortet: „Jan, das geht gar nicht, du bist halb nackt.“ Marsalek habe nur erwidert: „Wieso? Ist doch ein Karl Lagerfeld.“ Leogrande ist sich sicher: „Ein normales Vorstellungsgespräch bei einem anderen Konzern hätte Marsalek nicht überstanden.“

    In dieser feudalen Villa an der Prinzregentenstraße in München soll der flüchtige Ex-Wirecard-Vorstand Jan Marsalek Gäste empfangen haben.
    In dieser feudalen Villa an der Prinzregentenstraße in München soll der flüchtige Ex-Wirecard-Vorstand Jan Marsalek Gäste empfangen haben. Foto: Ulrich Wagner

    Wirecard aber hatte offensichtlich einen eigenen Sog, dem sich auch Leogrande nicht entzog. Er war vorher freier Journalist, Werbetexter, Marketingspezialist gewesen. Sein Engagement bei Wirecard war für ihn „die Gelegenheit von Beginn an, an so einer Tech-Wunder-Geschichte zu arbeiten. Wie oft haben Sie das im Leben? Nicht so häufig. Je mehr das wuchs, desto mehr Leute wollten da mitmachen. Das hatte schon seine ganz eigene Faszination.“

    Der erlagen viele. Mitarbeiter, Kunden, Aktionäre, Politiker, Journalisten. Bis die Zweifel am deutschen Tech-Wunder, das die Commerzbank aus dem Dax verdrängt hatte, immer größer wurden. Bis dann, am 18. Juni 2020, zum vierten Mal in Folge der Veröffentlichungstermin für den Jahres- und Konzernabschluss erneut verschoben wurde, weil den Wirtschaftsprüfern von EY bei Wirecard Nachweise über Bankguthaben in Höhe von 1,9 Milliarden Euro fehlten.

    Es geht bei der Wirecard-Insolvenz um Milliarden

    Wenige Tage später musste der Konzern Insolvenz anmelden. 58 Gesellschaften gehörten damals zur Wirecard-Gruppe. Insolvenzverwalter wird Michael Jaffé, bundesweit bekannt und mit viel Erfahrung im Abwickeln großer Unternehmen. Und die Dimension im Fall Wirecard ist herausfordernd: Im November 2020 fand die erste Gläubigerversammlung im Münchner Löwenbräukeller am Stiglmaierplatz statt. Laut Amtsgericht München nahmen daran 74 Personen teil, die rund 11.500 Gläubiger vertreten. Die damals angemeldeten Insolvenzforderungen beliefen sich den weiteren Gerichtsangaben zufolge auf knapp 12,5 Milliarden Euro.

    Als es vorbei war mit der Wirecard, zählte der Konzern weltweit über 6000 Mitarbeiter, in Deutschland waren es rund 1800. Insgesamt konnten global knapp 2000 Jobs erhalten werden. Darunter auch rund 500 am Stammsitz in Aschheim. Ende Januar teilte Jaffé mit, dass das Wirecard-Kerngeschäft von der spanischen Banco Santander Gruppe gekauft wurde und die Mitarbeiter Teil der Getnet-Plattform von Santander würden. Vergangene Woche meldete Jaffé, dass mehrere Tochtergesellschaften im Asien-Pazifikraum verkauft werden konnten. Wann die Insolvenz abgeschlossen sein wird? Ein Ende sei nicht absehbar, teilt ein Sprecher des Insolvenzverwalters auf Anfrage mit.

    Staatsanwaltschaft München I ermittelt weiter in Sachen Wirecard

    Gleiches gilt für die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft München I wegen gewerbsmäßigen Bandenbetruges, Untreue, unrichtige Darstellung und Marktmanipulation.

    Und die Frage aller Fragen bleibt: Wo ist der in Geheimdienstkreisen so gut vernetzte Marsalek? Leogrande, Überraschung, weiß es nicht. Aber er gibt zu bedenken: „Einige Verantwortliche versuchen Jan jetzt zum Sündenbock zu stilisieren. Wenn er aber auftaucht und redet, weiß man nicht, wie viele Leute da happy drüber wären.“ Andererseits, meint Leogrande: „Wenn 1,9 Milliarden Euro irgendwo rumliegen, ist das eine Menge Kohle. Da gibt es vielleicht Leute mit ganz anderen Interessen.“

    Leogrande, der die Filmrechte an seinem Buch inzwischen verkauft hat und als Berater für Fintech-Unternehmen arbeitet, ist überzeugt: „Es wird mit Sicherheit noch einige wilde Geschichten rund um Wirecard und seine Protagonisten geben.“

    Sie werden nicht unbedingt von Menschen handeln, die Nein zum Geld sagen.

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