Herr Altmaier, Ihr Kabinettskollege, Bundesfinanzminister Olaf Scholz, sieht für 2019 das „Ende der fetten Jahre“ kommen. Hat er recht?
Peter Altmaier: Der Aufschwung wird in Deutschland weitergehen, das sagen auch alle Fachleute. Allerdings mit einem etwas gebremsten Tempo. Der Geschwindigkeitsverlust ist in erster Linie Problemen in der Automobilindustrie und in der internationalen Handelspolitik geschuldet. Trotzdem ist der Aufschwung in Deutschland nach wie vor erstaunlich robust.
Mit welchem Wachstum rechnet Ihr Haus konkret?
Altmaier: Im Detail wird unsere Schätzung im Jahreswirtschaftsbericht erst Ende Januar feststehen und vorgestellt. Sie wird sich streng nach den Regeln der ökonomischen Vernunft ausrichten und daher möglicherweise etwas zurückhaltender ausfallen. Das ändert aber nichts daran, dass die deutsche Wirtschaft 2019 auf Wachstumskurs bleibt.
Für wie krisensicher halten Sie die deutsche Wirtschaft?
Altmaier: Für die nächsten zwei bis drei Jahre sehe ich die deutsche Wirtschaft gut aufgestellt. Wir gehören zu den wettbewerbsfähigsten Ländern der Welt. Die Unternehmen müssen aber einige Probleme zügig angehen. Das Erste und Wichtigste ist der Fachkräftemangel. Bei einem normalen Auslastungsgrad hat unsere Wirtschaft das Potenzial, um etwa 1,5 Prozent jährlich zu wachsen. Alles, was wir darüber hinaus in den vergangenen Jahren an Wachstum gesehen haben, ging auf außergewöhnliche Anstrengungen wie Überstunden oder Wochenendarbeit zurück.
Das heißt, Deutschland wächst eigentlich über seine Möglichkeiten?
Altmaier: In vielen Bereichen werden nach wie vor Überstunden gefahren und Wochenendarbeit geleistet. Das ist nicht beliebig steigerbar. Deshalb brauchen wir mehr Produktionsanlagen und Maschinen, um das Wachstums-Tempo aufrechtzuerhalten. Ohne zusätzliche Investitionen in Produktionsmittel läuft das System auf Verschleiß.
Aber es müssen dann Beschäftigte da sein, die die Maschinen bedienen.
Altmaier: Daher ist das Fachkräftethema so zentral. Neue Maschinen werden nur gekauft, wenn es gelingt, die Beschäftigung auszuweiten.
Ihr Vorschlag?
Altmaier: Wir müssen das in Deutschland vorhandene Potenzial an Fachkräften besser ausschöpfen. Wir dürfen uns nicht damit abfinden, dass die Zahl der Langzeitarbeitslosen immer noch bei rund einer Dreiviertelmillion liegt. Zusätzlich brauchen wir auch die Möglichkeit, Fachkräfte aus dem Ausland in unseren Arbeitsmarkt zu integrieren. Dazu haben wir ja jüngst ein Fachkräfte-Einwanderungsgesetz vorgelegt.
Droht den deutschen Exportbranchen nicht auch Ungemach von Problemen in den Absatzmärkten selbst?
Altmaier: International haben wir eine Tendenz zu Protektionismus und zu neuen Handelsbarrieren. Ich bin vorsichtig optimistisch, dass wir im laufenden Jahr eine Entspannung sehen. Viel Erfolg hängt etwa von den chinesisch-amerikanischen Zollgesprächen ab. Wir haben die Probleme zwar noch nicht gelöst, aber ich bin heute deutlich optimistischer als noch vor einem halben Jahr.
Technologisch steht Deutschland weltweit gesehen nach wie vor eher für klassische Industrien und nicht so sehr für Zukunftstrends. Trügt der Eindruck?
Altmaier: Hier aufzuholen, ist eine der Hauptherausforderungen. Wir haben es mit einer starken Beschleunigung der Innovationszyklen zu tun. Maßgeblich ist das getrieben durch Themen wie der Digitalisierung und künstlicher Intelligenz. Da geht es aber nicht nur um Technologie, sondern auch um deren Finanzierung. Wir müssen in Deutschland für innovative Ideen und Geschäftsmodelle mehr Wagniskapital bereitstellen. Wenn heute eine smarte Firma eine größere Finanzierung braucht, kommt das Geld fast ausschließlich aus dem Ausland. Das führt dazu, dass diese Unternehmen ins Ausland abwandern oder von ausländischen Investoren übernommen werden.
Was also tun?
Altmaier: Wir können für inländische Geldgeber Bürokratie abbauen und die Regulatorik vereinfachen, aber der Löwenanteil des Geldes muss aus der Privatwirtschaft kommen, so wie in den USA.
Wie viele Jobs werden neue Technologien wie Digitalisierung und KI kosten und in welchen Branchen?
Altmaier: Wenn wir in zehn oder 20 Jahren Bilanz ziehen, werden wir sehen, dass die Digitalisierung unter dem Strich mehr Arbeitsplätze geschaffen als gekostet hat. Allerdings gibt es keine Garantie, dass die neuen Arbeitsplätze dort entstehen, wo die alten wegfallen. In den USA und in China sind die großen Internetplattformen wie Google, Amazon oder Alibaba die Innovationstreiber. Diese gibt es bei uns nicht. Das Rennen um die digitale Zukunft kann aber nur gewonnen werden, wenn es in Europa künftig auch solche Plattformen gibt. Alle, die Europa bisher hatte, etwa booking.com, sind nach Übersee abgewandert. Ich habe daher vorgeschlagen, eine Art Airbus der künstlichen Intelligenz in Europa zu gründen – also ein privatwirtschaftliches und länderübergreifendes Unternehmen, das finanziell und politisch von den Ländern unterstützt wird, und die besten KI-Anwendungen marktreif macht. Da kommt in den ersten Jahren eine staatliche Beteiligung infrage.
Das wäre dann eher Staatskapitalismus als Marktwirtschaft…
Altmaier: Im Gegenteil. Diesen Vorwurf müssten Sie auch Franz Josef Strauß machen, auf dessen Initiative damals Airbus gegründet wurde, das heute einer der zwei klar dominierenden, erfolgreichen Spieler in der Luftfahrt ist. Darüber bleibt das grundlegende Prinzip ja unangetastet. Der Staat hält sich aus der Wirtschaft heraus, aber dort, wo der Markt nicht funktioniert, hat der Staat ein Interesse, zu positiven, strategisch wichtigen Entwicklungen für Deutschland beizutragen. Dort, wo es um Game-Changer-Technologien geht, die Millionen Jobs betreffen, macht es Sinn, Anreize zu setzen.
Stehen gut Qualifizierte vor goldenen Jahren?
Altmaier: In Deutschland nimmt seit rund 30 Jahren die Zahl der gering qualifizierten Arbeitsplätze ab und jene der gut qualifizierten zu. Akademiker in MINT-Berufen, aber insbesondere auch Absolventen einer dualen Ausbildung oder Meister werden künftig auf dem Arbeitsmarkt gute Chancen haben.
Wie steht die deutsche Industrie als Rückgrat der Wirtschaft generell da?
Altmaier: Die Bedeutung der Industrie hat in den letzten Jahren zugelegt. Der Anteil der Firmen an der deutschen Wertschöpfung liegt derzeit bei gut 22 Prozent und damit weit über den Werten der übrigen Länder in der EU. Das macht uns zu einer starken und robusten Volkswirtschaft. Aber auch in der Industrie digitalisieren sich die Produkte zusehends. Es gibt fast keine Maschine mehr, sowohl im Haushalt als auch in Fabriken, die ohne smarte Software auskommt. Immer mehr Anwendungen fußen auch hier auf Vernetzung mit dem Internet und KI. Diesen technologischen Übergang müssen die Anbieter noch schneller als bislang hinbekommen.
Wenn China hüstelt, bekommt Deutschland einen Schnupfen, heißt es. Aktuell ist das der Fall. Wie gravierend ist das für die deutsche Industrie?
Altmaier: Die wirtschaftlich starken Nationen sind global extrem verflochten. Die deutsche Industrieproduktion geht zu 51 Prozent in den Export. Das zeigt, wie angewiesen wir auf freie und offene Märkte sind. Deshalb schließen wir als EU derzeit viele Freihandelsabkommen mit wichtigen Handelsregionen weltweit, etwa mit Kanada und Japan.