Es ist ein kleiner Flugplatz für Sportflieger, kein Airport für Verkehrsmaschinen. Aber es heben dort auch Privat- und Businessjets ab – und hier wird es interessant. Die Rede ist vom Flugplatz im niederösterreichischen Kurort Bad Vöslau. Die beschauliche Stadt im Süden Wiens mit 12.000 Einwohnern ist bekannt für seine Thermalquelle, das K.-u.-k.-Ambiente und ein beliebtes Mineralwasser – aber bestimmt nicht für die Fliegerei.
Am Abend des 19. Juni aber soll hier, 40 Kilometer von der österreichischen Hauptstadt entfernt, die Flucht des per internationalen Haftbefehl gesuchten Jan Marsalek, 40, begonnen haben – eine der Schlüsselfiguren im Betrugsfall um den insolventen Zahlungsdienstleister Wirecard.
So funktioniert das Geschäft von Wirecard
Geschäftsmodell Wirecard ist eines der Unternehmen, deren Dienste Verbraucher oft in Anspruch nehmen, ohne es zu wissen. Das Unternehmen, das seinen Sitz in Aschheim bei München hat, wickelt Kartenzahlungen sowohl an Ladenkassen als auch im Onlinegeschäft ab. Zu den Kunden zählen zum Beispiel die Airline KLM, der Haushaltsartikelspezialist WMF oder der Paketdienst FedEx.
Kooperation Für das Kerngeschäft hat Wirecard in Europa eine Bank, die als Mittelsmann dafür sorgt, dass das Geld von den Kartendiensten zu den Händlern kommt. In anderen Ländern, wo Wirecard keine solchen Lizenzen hat, arbeitet die Firma dafür mit Partnern zusammen. Dieser Teil des Geschäfts stand im Mittelpunkt der „Financial Times“-Berichte, in denen von potenziell künstlich aufgeblähten Umsätzen die Rede war.
Dienstleistungen Zugleich bietet Wirecard eine Palette von Dienstleistungen rund ums Bezahlen an. Neben der Integration in Kassensysteme und der Unterstützung verschiedener Bezahlmethoden gehören dazu Sicherheitsvorkehrungen gegen Betrugsversuche. Ein weiterer Service ist die Auswertung von Daten, die Kunden eine bessere Steuerung ihres Geschäfts ermöglichen soll.
Aktie Wirecard ist im Dax gelistet. Noch Mitte Juni notierte das Papier bei rund 100 Euro. Binnen eines einzigen Tages verlor die Wirecard-Aktie am vergangenen Donnerstag 61,8 Prozent an Wert. Es war der zweitgrößte Verlust in der Dax-Geschichte. Nur die Hypo Real Estate büßte noch mehr ein (73,9 Prozent am 29. September 2008). Zuletzt rutschte der Titel weiter ab – auf unter 20 Euro.
Marsalek hat bei seiner Flucht viele falsche Fährten gelegt
Bisher ging man davon aus, dass der frühere Wirecard-Vertriebschef und mutmaßliche Milliardenbetrüger seine Flucht am 18. Juni in Klagenfurt, der Hauptstadt Kärntens im Süden Österreichs, gestartet hat. Doch Marsalek hat viele falsche Fährten gelegt. Mal wähnte man ihn auf den Philippinen, mal in China. Tatsächlich soll er sich heute auf einem Anwesen bei Moskau aufhalten, überwacht oder beschützt vom russischen Auslandsgeheimdienst SWR. In Bad Vöslau ging es los, berichten jetzt der Wiener Kurier und die Süddeutsche Zeitungübereinstimmend. Marsaleks Ziel war zunächst Minsk. Wie es von dort weiterging, ist weiterhin unbekannt.
Für den rund zweistündigen Flug von Bad Vöslau in die weißrussische Hauptstadt soll der Ex-Top-Manager mit besten Geheimdienstkontakten 8000 Euro in bar hingeblättert haben. Geflogen ist Marsalek den Berichten zufolge in einer Cessna Citation Mustang 510. Weil damals noch kein Haftbefehl gegen ihn vorlag, war der Flug und seine Abwicklung samt der behördlichen Grenz- und Passkontrolle am Flugfeld in Bad Vöslau auch kein Problem und offenbar völlig legal.
Wirecard-Vorstand soll sich mit österreichischem Verfassungsschützer getroffen haben
Am Vorabend soll sich der damals schon beurlaubte Marsalek in München noch mit einem Vertrauten und hochrangigen, wenn auch freigestellten Mitarbeiter des österreichischen Verfassungsschutzes getroffen haben. Dieser frühere Abteilungsleiter im Bundesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung (BVT) hat seinerzeit als Promi-Zeuge auch in einem Untersuchungsausschuss zum österreichischen BVT-Skandal ausgesagt. Zwischen Marsalek und dem BVT-Mann soll ein freundschaftliches Verhältnis bestehen. Ob dieser Ex-Geheimdienstler tatsächlich nur ein Bekannter oder Freund Marsaleks ist oder vielleicht sogar als eine Art Fluchthelfer fungierte, ist unbekannt.
Der Ex-Spion war dem Vernehmen nach aber immer wieder in Marsaleks Umfeld aufgetaucht – und konkret soll er eben am Vorabend vor dessen Flucht in München bei einem Italiener mit ihm gesehen worden sein. Mit dabei soll auch eine andere Vertraute Marsaleks gewesen sein, heißt es. Der Ex-Geheimdienstler dürfte damit eine der letzten Personen sein, mit der Marsalek vor seinem Abflug in Richtung Osten Kontakt hatte.
Der Bundestag wird einen Wirecard-Untersuchungsausschuss einsetzen
Beim BVT-Skandal ging es um diverse Vorwürfe ab 2016, etwa um den angeblichen Verkauf nordkoreanischer Blankopässe an südkoreanische Spione oder auch um politische, sich feindlich gegenüberstehende Netzwerke innerhalb des Nachrichtendienstes. Der Ex-Geheimdienstler könnte der Verfasser jenes 40-seitigen Konvoluts sein, das seinerzeit an diverse Medien ging und damit den Skandal samt der späteren höchst umstrittenen BVT-Hausdurchsuchung ins Rollen brachte. Seit Herbst 2018 befasst sich ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss mit der politischen Aufarbeitung der Affäre.
Ein U-Ausschuss ist seit Freitag nun auch in Deutschland beschlossene Sache. Auf Antrag der Opposition und bei Enthaltung der Regierungsfraktionen hat der Bundestag den Wirecard-Ausschuss eingesetzt. Er soll den Skandal um die Insolvenz des früheren DAX-Konzerns und die Verwicklungen mit den Aufsichtsbehörden und der Politik unter die Lupe nehmen.
Die Dimension ist riesig: Wirecard ist mit 2,8 Milliarden Euro überschuldet. Es geht um Luftbuchungen von 1,9 Milliarden. Die Staatsanwaltschaft München ermittelt wegen gewerbsmäßigen Bandenbetrugs. An der Spitze des tief gefallenen Konzerns standen zwei Österreicher: der verhaftete Konzernchef Markus Braun sowie sein flüchtiger Ex-Vorstandskollege Jan Marsalek. Ein Thema im U-Ausschuss ist auch, wer Lobbyarbeit für Wirecard machte. Der Ex-Geheimdienstkoordinator im Kanzleramt, Klaus-Dieter Fritsche, sowie der frühere Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg hatten sich für Wirecard stark gemacht.
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