Bei seinem letzten Auftritt als Wirecard-Chef sah Markus Braun aus, als käme er gerade von einer Trauerfeier. Ganz in schwarz gekleidet stand er gemeinsam mit seinen Vorstandskollegen vor der Kamera, die weit voneinander gespreizten Fingerkuppen auf das Pult vor ihm gepresst. Am Freitagmorgen veröffentlichte Wirecard das Video mit Brauns vom Teleprompter abgelesener Stellungnahme zu dem Skandal, der die Aktien der Firma an nur einem Tag um über 70 Prozent zusammenbrechen ließ. Wenige Stunden später trat Markus Braun zurück. Es könnte das Ende einer für lange Zeit gefeierten Unternehmerkarriere sein. Viele Rätsel um den Absturz bleiben.
Wirecard, das sein Geld als Dienstleister für ein weltweites elektronisches Zahlungssystem verdient, ist dem Anschein nach in einen milliardenschweren Betrug verwickelt. Am Donnerstag hatte das Unternehmen aus dem Münchner Umland schließlich offenbart, dass Bilanzprüfer der Agentur Ernst & Young (EY) Zweifel haben an der Existenz von 1,9 Milliarden Euro, die auf Treuhandkonten in Asien verbucht wurden. Doch genau diese Bürgschaften waren schon länger umstritten. Die Zweifel daran konnten auch jüngste Gutachten nicht ausräumen. EY, die bereits in den vergangenen Jahren die Bilanz von Wirecard prüften, nahmen aber daran keinen Anstoß – bis jetzt.
Wirecard: Rätsel um Betrugsskandal und Chef Markus Braun
„Da hat man nun genau hingeschaut“, sagt Marcus Tüngler, Geschäftsführer der Aktionärsvereinigung DSW. Und weiter: „Es ist zu hinterfragen, warum das zuvor nicht funktioniert hat.“ Die philippinische Bank BDO Unibank, bei der angeblich eines von zwei suspekten Treuhandkonten für Wirecard geführt wurde, erklärte am Freitag, dass das deutsche Unternehmen kein Kunde sei: Das vermeintlich entscheidende Dokument trage „gefälschte Unterschriften von Bankangestellten“.
Eine der Erklärungen für den Skandal stellt Wirecard selbst in den Raum. Es sei nicht auszuschließen, dass das Unternehmen Opfer eines „gigantischen“ Betrugs geworden sei, sagte Braun in seiner Stellungnahme. Er hatte das Unternehmen seit 2002 geleitet und in den Dax geführt. Wirecard will Strafanzeige erstatten. Für das Unternehmen geht es jetzt um Schadensbegrenzung.
Wirecard hat neun Milliarden an Wert verloren
„Wirecard hat eine wahnsinnig gute Unternehmer-Geschichte geliefert, als weltweit agierendes Unternehmen aus Deutschland“, sagt DSW-Chef Tüngler „So eine Erzählung würde Deutschland auch brauchen, wenn sie funktioniert hätte.“ Die Geschichte fällt nun spektakulär zusammen. Brauns Rücktritt sei „die einzige Chance für Wirecard“, ist Tüngler überzeugt. An eine Insolvenz glaube er nicht, zumindest nicht auf absehbare Zeit. Unter den Aktionären seien viele Privatanleger. Wer jetzt noch dabei sei, werde seine Papiere nach dem Wertsturz nun kaum verkaufen.
Entscheidend für die Zukunft des Unternehmens wird sein, ob die Banken Wirecard den Geldhahn zudrehen und von der Möglichkeit Gebrauch machen, am Freitag Kredite von zwei Milliarden Euro zu kündigen. Wirecard gab an, man befinde sich in „konstruktiven Gesprächen“ mit den Banken. Diese wären laut Wirecard zur Kündigung berechtigt, wenn das Unternehmen keinen von Wirtschaftsprüfern bestätigten Jahresabschluss vorlegt. Neun Milliarden Euro Börsenwert hat das Unternehmen bereits eingebüßt.
James Freis ist neuer Chef von Wirecard
Für die Aufsichtsbehörden der Finanzbranche bedeutet der Wirecard-Skandal einen enormen Imageschaden. Der Vertrauensverlust werde jedoch nicht so groß sein wie befürchtet, sagt Tüngler. Die Bafin, die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht, habe sich mit Wirecard „schon länger beschäftigt“. Die Frage, die es nun zu klären gebe, sei, „wie sehr Wirecard die Hosen runter lassen musste“. Wirecard setzt nun auf James Freis als neuen Vorstandschef. Den US-Amerikaner hatte Braun in seinem Video-Statement selbst vorgestellt – da noch als neues Mitglied des Vorstandes für den vom Aufsichtsrat suspendierten Jan Marsalek. Freis ist neu im Unternehmen und unbelastet von der Vergangenheit. Der Anwalt und Analyst ist Spezialist für Wirtschaftsverbrechen: Von 2007 bis 2012 leitete er nach eigenen Angaben die Einheit zur Bekämpfung der Finanzkriminalität im US-Finanzministerium. Das zerstörte Vertrauen ins Unternehmen soll Freis wiederherstellen. (mit dpa)
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